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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

500–502

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Aßmann, Helmut, u. Adelheid Ruck-Schröder [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Pfarrbildung. Bilanz und Perspektiven aus Anlass des 200jährigen Bestehens des Predigerseminars Loccum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 448 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 35. Kart. EUR 99,00. ISBN 9783161609923.

Rezensent:

Georg Lämmlin

Die Herausgebenden, Adelheid Ruck-Schröder, Leiterin des Predigerseminars Loccum, und Helmut Aßmann, Leiter des Ausbildungsreferats der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, nehmen das 200-jährige Bestehen des Predigerseminars Loccum zum Anlass für eine historisch und praktisch-theologisch informierte »Kartographie der Ausbildungslandschaft in einer sich rasant verändernden Gesellschaft« (3 f.) für die zweite theologische Ausbildungsphase.
Im ersten von vier Teilen wird die Geschichte des Predigerseminars Loccum nachgezeichnet, im zweiten werden die Konzepte der Predigerseminare in den EKD-Gliedkirchen, im dritten in ausgewählten europäischen Kirchen vorgestellt. Und im vierten Teil werden aktuelle Herausforderungen reflektiert.
Grundsätzlich ist wenig überraschend, aber dennoch bemerkenswert, wie reflexiv die Texte fast durchgängig angelegt sind. Und fast durchweg befinden sie sich mit ihrer Reflexion auch auf der Höhe der zeitgenössischen praktisch-theologischen, religions- und kirchensoziologischen Diskurse. Dass auch hier manche Texte noch einmal deutlich aus dem allgemeinen Niveau herausragen, wird am Ort der konkreten Befassung deutlich werden. Insgesamt kann vielleicht die Bemerkung aus der Sicht einer Vikarin im Blick auf das zurückliegende Vikariat als zentrale Problemsicht gelten: »Ein Kurskollege problematisierte einst, dass wir ›für den Beruf der Vergangenheit ausgebildet werden‹.« (408) In der Form des indirekten Zitats schützt sich die Autorin vor einer zu starken persönlichen Zuspitzung, trifft aber dennoch den zentralen Punkt, dass die Pfarrbildung strukturell und inhaltlich tief in die bestehenden kirchlichen Organisationstrukturen und Praxisformen eingelassen ist, auf denen aber ein starker Veränderungsdruck lastet. Die zweite theologische Ausbildungsphase muss die Vikarinnen und Vikare für eine kirchliche Praxis ausbilden, deren Umrisse heute noch kaum abzusehen sind, und dies in einem Rahmen, der durch die gegenwärtigen Formen eng begrenzt wird. Besonders interessant sind dann in den Konzeptionen der Predigerseminare wie in der Reflexion der Herausforderungen diejenigen Überlegungen, die diese Diskrepanz aufgreifen und bearbeiten wollen.
Aus der historischen Betrachtung, exemplarisch für das Predigerseminar Loccum, lässt sich insgesamt folgern: Die Herausbildung dieser spezifischen Form der zweiten theologischen Ausbildung in Verbindung mit der Institution des Predigerseminars ist als Reaktion und Ausdruck einer Professionalisierung der kirchlichen Organisation zugleich mit der Herausbildung der gesellschaftlichen Moderne zu verstehen.
Zur Vorgeschichte des Predigerseminars Loccum arbeitet Hans Otte heraus, dass die Eröffnung im Jahr 1820 nicht am Nullpunkt geschah. Im Loccumer Hospiz, das in Folge der Reformation an die Stelle des dortigen Zisterzienserklosters getreten war, bestand bereits im 17. Jh. die Einrichtung, Theologie-studierende mit abgeschlossenem Studium gastweise über einige Zeit zu »be­herbergen« und am geistlichen Leben zu beteiligen, um sie auf ihren Beruf praktisch vorzubereiten. Diese Institutionalisierung, die zuerst in Wittenberg im Zuge der Verlagerung der Wittenberger Universität nach Halle 1817 vorgenommen wurde (225 f.), spiegelt Bedarf nach einer Professionalisierung der Pfarrbildung über das theologische Studium hinaus, die auf die Praxisanforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft und Kirche ausgerichtet sein musste. Der weitgehend unregulierte, häufig durch prekäre Phasen bestimmte Übergang aus dem Theologiestudium in ein Pfarramt wurde in eine neue, professionell ausgerichtete Ausbildungsform überführt. Zudem wurde das kollegiale Element als zentrale Lernform bestimmend und löste das Modell des »Schattenlernens« im Gemeindevikariat – das heißt die bloße Zuordnung der Absolventen zu erfahrenen Kollegen – mindestens teilweise ab. Mit der Modernisierung der (protestantischen) Kirchen ging die Modernisierung der Pfarrbildung einher, die »schrittweise Integration des Praxisbezuges« ( Birgit Weyel, zit. 145) in den formellen theologischen Ausbildungsgang. Diese neue Institution sollte die Lücke zwischen Studium und Beruf schließen, die zu Beginn des 19. Jh.s offenkundig geworden war (vgl. 13.138). Die weitere Entwicklung zeigt reaktive Anpassungen an weitere gesellschaftliche Veränderungen, erst mit der Umbruchszeit der späten 60er und frühen 70er Jahre dringen Reformimpulse in die Pfarrbildung ein, die bis in die Gegenwart nachwirken.
Im zweiten Teil des Bandes wird nun ersichtlich, in welcher konzeptionellen Bandbreite die Pfarrbildung in den verschiedenen Predigerseminaren gegenwärtig verfasst ist. Während alle die Leitlinien zum Studium und der zweiten theologischen Ausbildungsphase von 1973 zugrunde legen, nehmen sie in sehr unterschiedlicher Weise das 2009 verabschiedete EKD-Modell der »pastoralen Handlungskompetenz« auf, das eine Kompetenzmatrix der vier zentralen Handlungsfelder Gottesdienst, Bildung, Seelsorge und Leitung entwirft.
Das von Adelheid Ruck-Schröder beschriebene Modell für Loccum zielt »darauf ab, dass künftige Pastorinnen und Pastoren in erster Linie Reflexions- und Urteilskompetenz im Blick auf pastorale Praxis ausbilden« (169), seit 2019 ergänzt durch Aspekte wie Diversität und multikompetente Teams, Gemeinwesenorientierung, Interreligiosität und Medienkompetenz. Im kritischen Fazit fragt Ruck-Schröder dennoch: »Ist dieses System noch in der Lage, den gesellschaftlichen und kirchlichen Umbrüchen sowie der Transformation des Pfarrberufs und seiner Anforderungssituationen gerecht zu werden?« (181).
Andere, wie etwa Lutz Friederichs in Hofgeismar für Kurhessen-Waldeck, nehmen das Thema Interprofessionalität auf. Mit dem Begriff der »Religionskompetenz« (127) wird sie auf eine Verankerung des Berufsfeldes jenseits des pastoralen, kirchlichen Kontextes bezogen. Demgegenüber bleibt beispielsweise das universitär geprägte Heidelberger Modell für die Badische Lan-deskirche in der Darstellung von Doris Hiller stark auf eine klassische (pasto-ral-)theologische Ausrichtung zentriert, die lediglich über verstärkte Perso-nalisierung die Anpassungsfähigkeit an veränderte Kontexte ansteuert. Da­zwischen liegt das Herborner Modell für die Hessen-Nassauische Landeskirche, das Deutungskompetenz ins Zentrum stellt und zwischen Person und (gesellschaftlichem wie kirchlichem) Kontext ansiedelt (107), vergleichbar mit dem von Kay-Ulrich Bronk beschriebenen Kompetenzmodell für die Nordkirche mit den drei Dimensionen Kommunikative Kompetenz, Selbst- und Handlungskompetenz (206 f.). Für Birkach, das Pfarrseminar der Württembergischen Landeskirche, greift Karl Hardecker die Kategorien der »Singularisierung« von Andreas Reckwitz und »Resonanz« von Hartmut Rosa auf, um die Rahmenbedingungen und Zielsetzungen im Blick auf theologische Sprach- und Handlungsfähigkeit zu skizzieren (215 ff.).
Der dritte Teil führt am Beispiel des Zürcher Modells für die reformierten »Konkordatskirchen« in der deutschsprachigen Schweiz über den Rahmen der EKD-Kompetenzmatrix hinaus.
Thomas Schaufelberger expliziert, dass die Ausbildung sich auf die Anforderungen »für den Pfarrberuf am Anfang des dritten Jahrtausends« (270) einzustellen hat. Der entsprechende Kompetenzbegriff wird auf das »Big-Five- oder Fünf-Faktoren-Modell« nach Costa und McCrae gegründet und in zwölf Kompetenzstandards ausdifferenziert, die vom »Leben aus dem Evangelium« über »Beziehung und Empathie« bis zu »Auftritt und Repräsentation« reichen. Wie im Big-Five-Modell selbst geht es nicht um eine rein gleichmäßige Kompetenzbildung in allen zwölf Standards, sondern um eine persönlichkeits- und kontextadäquate Profilierung und Balance in diesem Gesamtrahmen. Das zentrale Instrument besteht in einem »Ausbildungsportfolio«, das dem »individuellen Kompetenzmanagement« (271) dient.
Die Gesamtschau der Beiträge bestätigt die Sicht der Herausgebenden in der Einleitung: »Durch die Vielgestaltigkeit der nebeneinander herlaufenden Struktur- und Organisationsprozesse ergibt sich aber kein klares Bild oder auch nur kohärentes Verfahren, auf das hin ein Vikariat als ›Nachwuchs liefernder‹ Ausbildungsabschnitt schlüssig konzipiert werden könnte.« (4) Aus dem vierten Teil greife ich nur den Beitrag von Jan Hermelink heraus mit dem Vorschlag, das Vikariat als ein »Traineeprogramm« zu konzipieren, in dem die Ausbildungs- und Lernorte von ihrer festen Verkoppelung mit der Ortgemeinde gelöst werden sollen: Wesentlich ist der Aspekt einer »auf die teilnehmende Beobachtung des gesellschaftlichen, des religiösen und des kirchlichen Wandels« (334) gerichtete Orientierung.
Die Pfarrbildung befindet sich nach 200 Jahren möglicherweise an einem ähnlichen Transformationspunkt wie am Beginn des 19. Jh.s. Solange aber noch kein klares Bild einer zukünftigen Berufsrolle ersichtlich ist – als Religionsagenten, Ekklesiopreneure, spirituelle Gemeindemanagerinnen oder Lebensbegleiter, Ritualdesigner, oder was an Bestimmungen weiter denkbar ist –, kann sich auch kein kohärentes Konzept für die Pfarrbildung ausbilden. Die Texte des Sammelbandes lassen sich als Teil der Suchbewegung lesen, die sich um die Herausbildung eines solchen Konzeptes bemüht, selbst aber noch auf der Schwelle zu einem Transforma­-tionsprozess steht. Allen, die an dieser Suchbewegung interessiert sind und teilhaben, seien die Beiträge nachdrücklich empfohlen, führen sie doch genau auf die Schwelle, auf der Jan Hermelink mit Ulrike Wagner-Rau das Pfarramt und mit Regina Sommer die pas­torale Ausbildung verortet sieht (329).