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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

493–495

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ebert, Patrick

Titel/Untertitel:

Offenbarung und Entzug. Eine theologische Untersuchung zur Transzendenz aus phänomenologischer Perspektive.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XVII, 775 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 81. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161596964.

Rezensent:

Sarah Rosenhauer

Die von Patrick Ebert verfasste Monographie ist aus einer Dissertation (betreut von Phillip Stoellger) entstanden, ihr Thema zielt ins Herz der Theologie: auf die Offenbarung. E. geht dabei von der biblisch gut gestützten, aber theologisch-begrifflich noch nicht ausreichend reflektierten Beobachtung aus, dass die Offenbarung Gottes mitnichten den Charakter einer durchsichtigen Selbstpräsentation hat, sondern sich immer zugleich als ein Sichzeigen und ein Sichentziehen vollzieht.
Das Ziel der Arbeit besteht darin, den Mangel an alteritässensiblen Offenbarungskonzepten zu beheben, indem das Entzugsmoment nicht unter der Hand domestiziert, sondern als radikal und konstitutiv gesetzt wird. Methodisch führt dies zur Frage, wie man das beschreiben oder sagen kann, dass sich der Ordnung, dem Logos, der Präsenz entzieht, ohne ihm »den Stachel der Fremdheit zu ziehen«: es seiner Transzendenz zu berauben und bestimmbar zu machen. Da diese durch die biblisch bezeugte Ereignisstruktur der Offenbarung aufgegebene Frage: die Frage nach dem Sichzeigen im Sichentziehen bzw. dem Sichentziehen im Sichzeigen, keine binnentheologische Spezialfrage ist, sondern, wie der dekonstruktiv sensibilisierte Denker weiß, die Ereignisstruktur jedes beliebigen Phänomens betrifft und so die »phänomenologische Frage par excellence« artikuliert, kann die Frage nach der Ereignisstruktur der Offenbarung mit den Mitteln der Phänomenologie bearbeitet werden. Als probat (weil alteritätswürdgend) erweist sich genauer die Methode indirekter Beschreibung auf Grundlage des Schemas von Pathos und Response, das E. aus den Arbeiten Bernhard Waldenfels’ entwickelt und um Motive der Phänomenologien Levinas’ und Derridas ergänzt. Auf dieser Grundlage entwickelt E. einen phänomenologisch grundierten Offenbarungsbegriff, der Offenbarung in ihrem konstitutiven Entzugscharakter als pathisch responsiv verfasstes Zwischenereignis versteht und dadurch die dekonstruktiv erhobenen Mängel des bisherigen Diskurses, Offenbarung bewusst oder implikativ unter dem letztlich transzendenz-, weil alteritätstilgenden Primat der Präsenz, der Verstehbarkeit, der Hyperessentialität oder Ursprungslogik zu fassen, behebt.
Das 775 Seiten umfassende Werk gliedert sich in sechs Hauptteile und einen Epilog. Der 1. Teil liefert eine knappe Skizze des biblischen Offenbarungszeugnisses, wobei der Fokus auf den Zusam­menhang von Sichzeigen und Sichentziehen Gottes im Offenbarungsgeschehen gerichtet ist. Der 2. Teil dient einer ersten Annäherung an das Phänomen der Transzendenz als Entzug/ Sichentziehen mittels einer kritischen Analyse des Motivs der Verborgenheit bei Luther, Barth, Jüngel, wobei die genannten das Entzugsmoment doch je domestizieren, weswegen statt des theologischen Verborgenheitsbegriffs der phänomenologische Begriff radikaler Alterität zur Konzeptionalisierung des biblischen Entzugsmomentes verwendet werden soll. Im 3. Teil unternimmt E. eine Revision theologischer Offenbarungskonzepte anhand der Leitfrage, wie sie das Zugleich von Offenbarung und Entzug denken, genauer, ob sie Entzug ausreichend radikal (als radikale Alterität) denken; mit dem Ergebnis, dass kein Entwurf dem Kriterium radikaler Alterität zu genügen vermag. Um diesen Mangel einer konzeptionellen Transzendenztilgung im Offenbarungsdiskurs zu beheben, wird im 4. Teil eine alternative Methodologie zum Denken von Offenbarung entworfen. Der Entwurf nimmt den (Um)Weg einer eingehenden Analyse phänomenologischer Entwürfe der Phänomenalität von Heidegger bis Waldenfels, wobei die Ansätze Heideggers, Marions und Henrys einer dekonstruktiven Kritik im Namen radikaler Alterität unterzogen werden, die erst der späte Levinas zu würdigen vermag. Entsprechend sind es Levinas, Derrida und Waldenfels mit denen E. seine Methode indirekter Beschreibung entwickelt. Sie besteht darin, Phänomene in ihrem Erscheinen von dem Schema von Pathos und Response her zu verstehen: als responsive, zeiträumlich verschobene Verantwortungen eines pathisch (wid)erfahrenen Ereignisses, die dieses nachträglich/retroaktiv, medial vermittelt und damit immer supplementär und iterativ (also nie in einfacher Entsprechung zu einer Form ursprünglicher Präsenz) bezeugen. Darauf folgt im 5. Teil ein Zwischenstopp, der der Ableitung von Kriterien und Problemfeldern aus den bisherigen Analysen dienen soll, letztlich allerdings weniger ableitet als explizit macht, was implizit in den Analysen kriteriell bereits wirksam und leitend war: die dekonstruktive Kritik an jeder Form des Präsenzdenkens, der Subjektphilosophie, der Ursprungslogik etc. Auf dieser Grundlage wird schließich im 6. Teil ein theologischer, trinitarisch strukturierter Offenbarungsbegriff mit Hilfe phänomenologischer Motive skizziert, indem diese Motive auf material-dogmatische Fragen der Eschatologie, Christologie, Pneumatologie, Trinitätslehre etc. bezogen werden. Im Epilog wird das phänomenologische Offenbarungskonzept im Kontext der Harmatologie Luthers weiter konturiert.
Die Arbeit stellt zweifelsohne einen bemerkenswerten und gewinnbringenden Beitrag zur aktuellen offenbarungstheologischen Debatte – nicht nur innerhalb der protestantischen Theologie – dar. Sie liefert nicht nur eingehende dekonstruktive Analysen phänomenologischer Theoriebildung von Heidegger bis Waldenfels und wirkmächtiger Offenbarungskonzepte von Barth bis Ricœur, die diese in ihrer verdeckten ultra-transzendentalen Er­möglichungsstruktur offenlegen, sondern bietet durch die theologische Rezeption phänomenologischer Motive zahlreiche interessante und weiterführende Impulse für materialdogmatische Problemfelder der Christologie, Pneumatologie, Trinitätslehre, an denen keine Abhandlung mehr vorbeigehen sollte. Allerdings hätte es der Plausibilität der Arbeit gut getan, die durch die biblischen Entzugsmotive allein nicht ausreichend in ihrer theologischen Normativität begründete dekonstruktive Kriteriologie nochmal eigens zu begründen. So ist es keineswegs evident, warum ausschließlich der Begriff radikaler Alterität (nebst der damit verbundenen Anthropologie, Epistemologie und Ontologie) dem biblischen Entzugsmoment der Selbstoffenbarung Gottes zu genügen vermag (und nicht etwa Konzepte »bloß« relativer Alterität, die dem Menschen eine gewisse eigene Empfangs- und Antwortfähigkeit, ein Selbst, belassen). Auch der Aufweis von »Aporien« nichtphänomenologischer Offenbarungskonzepte leistet dies nicht, son­dern setzt in der teilweise undifferenzierten Pauschalität der Vorwürfe (»Anleihen an Subjektphilosophie«, »hegelsche Dialektik« …) die Evidenz dekonstruktiven Denkens und seiner normativen Vorentscheidungen bereits voraus: keine Präsenz, kein Subjekt, keine Unmittelbarkeit, keine Verstehbarkeit. So verbleibt die Begründung unnötigerweise im Raum dekonstruktiv-phänomenologischer Binnenselbstverständlichkeiten und pauschaler Feindbilder und verspielt damit das Potential, die zu irritieren, die noch nicht irritiert sind.
Die genuin theologische Legitimation für die Normativität ra­diakler Alterität läuft in den Ausführungen implikativ mit und wird erst im Epilog wirklich explizit: Sie liegt nicht primär im biblischen Offenbarungszeugnis, als vielmehr in der lutherschen Sünden- und Rechtfertigungstheologie: Das konstitutive Entzugsmoment der Offenbarung korrespondiert theologisch mit der Unausweichlichkeit der Sünde und der anthropologischen Funktion der Rechtfertigung als nachträglicher Konstitution des gläubigen Selbst durch den Anspruch der Offenbarung. Diese theologische Platzierung der Dekonstruktion im Horizont einer universal gesetzten Sünde, die die Momente des Entzugs, der Unentscheidbarkeit, der Supplementarität etc. als Ausdruck der Unausweichlichkeit der Sünde versteht, wirft allerdings die Frage auf, ob man dem politisch-ethischen Anspruch der Dekonstruktion nicht eher genügt, wenn man diese Momente nicht als Defizienzmarkierungen, sondern als Figurationen der Transgressivität von Freiheit liest. Dem entzughaften Mangel an Bestimmtheit und Bestimmbarkeit entspricht nicht eine Defizienz der Fähigkeit, sondern ein Mehr an Freiheit.
Offenbarung tritt dann weniger als ein Geschehen in Erscheinung, das ob seines unerfüllbaren Anspruchs notwendig Sünde im Sinne einer unausweichlichen Defizienz menschlicher Antwortversuche konstituiert und dies – das ist dann die Gnade – unendlich wiederholt. Das Entzugsmoment der Offenbarung zielt vielmehr auf Befreiung: auf die Freisetzung von Freiheit zu ihrer Transgressivität. Von da aus kann auch der theologisch nicht ohne massive Kosten aufgebbare Begriff der Selbstoffenbarung beibehalten werden, ohne die dekonstruktive Kritik zu übergehen: Denn liest man den Begriff des Selbst nicht von vornherein von einem essentialistischen Wesensbegriff oder einem reduktiv idealistischen Begriff der Selbstdurchsichtigkeit des Subjekts her, sondern (ebenfalls im E rbe idealistischer Subjektphilosophie stehend, aber diese nicht auf strohmannhafte Motive – Selbstdurchsichtigkeit, Autonomie, System – verkürzend, sondern in der Abgründigkeit und Transgressivität ihrer Freiheitsemphase würdigend) freiheitstheoretisch-relational, dann impliziert gerade die SELBST-Gabe Gottes seinen Entzug: keine Freiheit ohne Negativität.