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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

491–493

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Costanza, Christina, Keßler, Martin, u. Andreas Ohlemacher[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Claritas scripturae? Schrifthermeneutik aus evangelischer Sicht. Hgg. im Auftrag d. Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 526 S. Kart. EUR 29,80. ISBN 9783374066469.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Das reformatorische Schriftprinzip, das von Luther klassisch in Gestalt der beiden Konzepte der Selbstauslegung der Schrift (Assertio omnium articulorum, 1520) und der doppelten Klarheit der Schrift (De servo arbitrio, 1525) entfaltet wurde, gilt bis heute als einer der wichtigsten konfessionellen Identitätsmarker des Protestantismus. Doch durch die historisch-kritische Bibelauslegung und vollends durch die neueren poststrukturalistischen und re­zeptionsästhetischen Texttheorien wurde die ihm zugrundeliegende Annahme eines eindeutigen und als solchen autoritativen Schriftsinns fraglich. Die »Krise des Schriftprinzips« wurde nach einem vielzitierten Diktum von Wolfhart Pannenberg zu einer »Grundlagenkrise der modernen Theologie« (Die Krise des Schriftprinzips, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie, 31979, 11–21, hier: 13), die letztlich alle theologischen Disziplinen herausfordert.
Einen guten Überblick über die aktuelle Diskussionslage und über neuere Forschungsansätze bieten die 16 Aufsätze des vorliegenden Bandes, die aus einer 2019 durchgeführten Nachwuchstagung der VELKD hervorgegangen sind. Unter der professoralen Leitung von M. Keßler (damals Frankfurt) und begleitet von A. Ohlemacher, Referent der VELKD für theologische Grundsatzfragen, und C. Costanza, Studienleiterin am Theologischen Studienseminar in Pullach, widmeten sich junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von zehn Fakultäten in vier Ländern und aus fünf theologischen Fächern mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten und Herangehensweisen wesentlichen Aspekten des Themas. Alle Beiträge verbindet die lutherische Perspektive, die sich auch in der häufigen, schon am Titel des Bandes ablesbaren Bezugnahme auf Luthers Schriftlehre zeigt, die auf ihre Anschlussmöglichkeiten für moderne bibelhermeneutische Zugänge geprüft wird.
Es erscheint bemerkenswert, wie sich die Beiträge zu einem weitgehend kohärenten Gesamtbild fügen. Dabei kann es als symptomatisch gelten, dass zwei Drittel von ihnen aus der Systematischen Theologie stammen und nur zwei (bzw. drei) aus den exegetischen Fächern. Tatsächlich wird die grundsätzliche Diskussion über den theologischen Gebrauch der Schrift heute ganz überwiegend in der Systematik geführt, während in der Exegese Methodenfragen im Vordergrund stehen. Dabei stellt die Krise des Schriftprinzips durchaus auch eine enzyklopädische Herausforderung dar, die nur im Dialog der verschiedenen Fächer zu bearbeiten ist. Nicht zufällig sind Frederike van Oorschot und Kinga Zeller, die Initiatorin und eine Teilnehmerin des interdisziplinären Netzwerks »Schriftbindung evangelischer Theologie«, das sich von 2015 bis 2019 diesen Fragen gewidmet und 2020 seine Abschusspublikation vorgelegt hat, auch in diesem Band vertreten.
Es können hier nur ausgewählte Beiträge kurz vorgestellt werden. Martin Keßler zeigt, wie das Schriftprinzip aus der Autoritätendebatte der frühen Reformation hervorging und zunächst eine Verallgemeinerung der von Panormitanus für den Ausnahmefall in Betracht gezogenen Urteilskompetenz des vom Heiligen Geist geleiteten bibelkundigen Laien darstellte, von Luther aber auch nach der Preisgabe der Berufung auf Panormitanus weiterhin pneumatologisch akzentuiert wurde (13–35). Alexander Kupsch demonstriert an den verschiedenen Arten von Luthers Schriftgebrauch, dass für ihn die Klarheit der Schrift nicht vorgegeben, sondern je und je allererst in der Auseinandersetzung zu gewinnen war – ein Befund, der für einen heutigen Umgang mit der Umstrittenheit der Schrift im Sinne eines »Dissensmanagements« Anregungen geben kann (91–120). Andreas Ohlemacher widmet sich dem frühaufklärerischen Schriftgebrauch in der Predigtlehre J. L. von Mosheims; dieser hielt am Vorrang des Bibelworts fest, hob aber zugleich die Bedeutung von Erfahrung und Vernunft für dessen rechtes Verständnis und die praktische Vermittlung an die Hörer hervor (353–396). Christina Costanza analysiert den Bibelgebrauch in Predigten Tillichs, der darauf abzielt, dass die biblischen Worte durch die Gestaltung eines Resonanzraums zwischen Text und Hörer die Möglichkeit erhalten, ihre ursprüngliche Kraft neu zu entfalten (397–417).
Anhand der literarischen Nebenfiguren im Schlussteil des Markusevangeliums demonstriert Johannes U. Beck die praktische Erschließungskraft einer an Ricœur anschließenden Texthermeneutik (167–209). Patrick Bahl lotet mit einer Studie zu den differenten konfessionellen Deutungen des Apostelkonzils in der Reformation und im Konfessionellen Zeitalter das Potential auslegungsgeschichtlicher Untersuchungen für das Bibelverständnis aus (121–166).
Anhand von Beiträgen aus dem »Jahrbuch für evangelikale Theologie« arbeitet Wolfgang-Michael Klein als grundlegendes Charakteristikum evangelikaler Schrifthermeneutik die Forderung einer Offenheit gegenüber dem normativen Anspruch der biblischen Texte heraus, die darauf verzichtet, sich kritisch über den Text zu erheben (419–447). Knud Henrik Boysen versucht, den Ort der Bibel in dem als »Architektonik« im Sinne Kants verstandenen System der Dogmatik zu bestimmen, und plädiert für eine »biblische Dogmatik« im Anschluss an Schleiermacher und F. Mildenberger (37–90). Demgegenüber entwickelt Konstantin Sacher eine existenzia-listische Lebens- und Texthermeneutik nach Heidegger und Bultmann und verortet die Relevanz der biblischen Texte darin, dass sie seit 2000 Jahren zuverlässig das Verstehen menschlichen Lebens ermöglichten (253–273). Kinga Zeller skizziert einen eindrucksvollen Entwurf einer rezeptionsästhetisch orientierten Texthermeneutik in ihren Konsequenzen für eine fundamentaltheologische wie materialdogmatische Schriftlehre und wägt ab, inwieweit diese als Weiterführung der Ansätze Luthers gelten kann (449–497).
Bei aller Vielfalt der Zugänge und Urteile zeichnen sich im Ergebnis einige gemeinsame Tendenzen ab. So wird die unhintergehbare Pluralität der Schriftsinne bevorzugt im Rahmen rezep-tionsästhetischer Texttheorien und als Chance verstanden. Eine grenzenlose Willkür des Textverstehens erscheint aber nicht als sachgemäß. Dieses bedarf vielmehr der Korrektur durch eine historisch-kritisch operierende Exegese und der Einhegung durch kulturgeschichtliche (der biblische Kanon als kollektives Gedächtnis der Glaubensgemeinschaft) und theologische Rücksichten (etwa im Sinne der Konzeption des »inspirierten Lesers« von U. Körtner). Von den neuen Schriftlehren führt kein direkter Weg zurück zu Luthers Auffassung von der Autorität und Normativität der Heiligen Schrift. Doch ist die Rede von der Schriftautorität damit nicht per se obsolet, sie muss heute nur anders, etwa im Sinne individueller oder kollektiver »Anerkennung«, konfiguriert werden. Demgegenüber erweist sich Luthers Rede von der vom Heiligen Geist im Leser oder Hörer bewirkten inneren Klarheit der Heiligen Schrift als in hohem Maße anschlussfähig und fruchtbar für eine gegenwärtige theologische Schriftlehre.