Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

484–485

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Detel, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Subjektive und objektive Zeit. Aristoteles und die moderne Zeit-Theorie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. VI, 111 S. = Chronoi, 2. Kart. EUR 25,95. ISBN 9783110709223.

Rezensent:

Norman Sieroka

Wolfgang Detel hat einen kurzen und kurzweiligen Band vorgelegt zum Verhältnis von objektiver und subjektiver Zeit. Dabei überzeugt vor allem der erste der beiden Teile, in die das Buch eingeteilt ist. Hier rekonstruiert D. in scharfsinniger und origineller Weise die Aristotelische Zeittheorie. Statt eine axiomatisch-deduktive Argumentstruktur aufzeigen zu wollen – etwas, für dessen Ermangelung Aristoteles immer wieder kritisiert wurde –, zeigt D. eine Struktur auf, in der Vorher-Nachher-Modelle miteinander verkettet werden. Dabei hat jedes dieser (räumlichen, kinetischen, zeitlichen, …) Modelle innerhalb der Reihung definitorische Priorität gegenüber seinem Nachfolger. Diese Rekonstruktion erlaubt es, die Aneinanderreihung als theoretische Anreicherung zu lesen, die es insbesondere erlaube, Aristoteles eine einheitliche Zeittheorie zuzuschreiben, die auf geschickte Weise subjektive und objektive Aspekte von Zeit verbinde.
Mit dieser Rekonstruktion werde Aristoteles auch für gegenwärtige zeittheoretische Diskussionen wieder fruchtbar. Denn diese, so D. im zweiten Teil des Buches, krankten insbesondere an einer inhaltlich nicht haltbaren Dichotomie, die sie zwischen Objektivität und Subjektivität ausmachten. Die Position, die D. hier im Gefolge Quines und Davidsons kritisiert, identifiziert subjektiv mit geistabhängig und definiert etwas als objektiv genau dann, wenn es nicht subjektiv ist (und umgekehrt). Vor dem Hintergrund dieser irreführenden Dichotomie kritisiert D. dann unter anderem Neurophänomenologie und Strukturrealismus. Dies ist nachvollziehbar, könnte aber um neuere und ausdifferenziertere Diskussionen ergänzt werden, die statt Struktur einen breiteren Begriff von Invarianten verwenden, oder auch von Zeittheorien, die zwar eine Dichotomie von Lage- und Modalzeit annehmen, diese aber nicht mit dem Gegensatzpaar objektiv-subjektiv identifizieren. Weiterhin drängen sich an dieser Stelle Fragen zur intersubjektiven Zeitlichkeit auf und, wie sich diese konstitutiv zu den anderen Zeiten verhält. Dies ist umso mehr der Fall, weil die Dichotomie von objektiv und subjektiv durch D. ja gerade aufgebrochen wurde. Andererseits ist es verständlich, dass in einem solch kurzen Band und mit dem direkten Anschluss an Aristoteles eine Beantwortung dieser Fragen jenseits dessen liegt, was hier geleistet werden konnte.
Der Rezensent hat große Sympathie nicht nur mit der allgemeinen Kritik an der Dichotomie von Objektivität und Subjektivität, sondern auch mit dem Primat, das D. nicht einer absoluten Zeit zuordnet, sondern vielmehr Bewegungen und Ereignissen, aus denen sich dann Zeit als Ordnungsrelation ergibt. Kleinere Schwächen weist der zweite Teil allerdings gelegentlich dann auf, wenn es um Bezüge zu den aktuellen Naturwissenschaften geht. Ob es beispielsweise ein punktartiges physikalisches Jetzt gibt, ist nicht ausgemacht. Auch ist der wahrnehmungsphilosophische Fokus auf das Sehen nicht so unschuldig, wie D. annimmt, wenn er lakonisch anmerkt, »diese Analyse ließe sich analog auch auf den auditorischen Fall ausdehnen« (50). Das stimmt so nicht. Die Zeitskalen visueller und auditorischer Diskriminationsfähigkeit unterscheiden sich und mit ihnen (und den unterschiedlichen Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Licht und Schall) auch die von D. betonten und abgeschätzten wahrnehmungsrelevanten Umgebungen und Reichweiten. Kontra D. ist für uns nicht die Erde als Ganze wahrnehmungsmäßig relevant (was wäre lokal anders, wenn wir auf einem Planeten lebten, der den zehnfachen Durchmesser hätte?), sondern unsere unmittelbare Umgebung. Auch kann, naturwissenschaftlich gesprochen, das visuelle System gar nicht direkt zeitlich leitend sein wegen des frequenz-abrogativen Charakters der Verarbeitung in Stäbchen und Zäpfen. Doch stehen diese Fragen – das sei nochmals betont – nicht im Zentrum dieses lesenswerten Büchleins mit insbesondere seiner überzeugenden Interpretation der Aristotelischen Zeittheorie.