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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

479–482

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Assel, Heinrich, u. Hartwig Wiedebach [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Cohen im Kontext. Beiträge anlässlich seines hundertsten Todestages.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VII, 368 S. = Religion in Philosophy and Theology, 108. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783161600326.

Rezensent:

Harald Seubert

Der Sammelband, der aus einem Symposion zum 100. Geburtstag Hermann Cohens am Greifswalder Alfried Krupp-Kolleg im Frühjahr 2018 hervorgegangen ist, würdigt Kontexte, »Netzwerke und Verbindungen« Hermann Cohens. Die Beiträge greifen teilweise sehr detaillierte Forschungsfragen auf. Sie sind alle von hoher, wenn auch naturgemäß unterschiedlicher Qualität. Zweierlei fällt indessen auf: Jüdische Denker oder Denkerinnen und jüdische Philosophie, die die zentralen Fragen und Anliegen Cohens eigenständig weiterführen würden, sind kaum vertreten. Und die große Einsicht, die Cohen schon vor 100 Jahren formulierte, wird nur in historischer Perspektive rezipiert: dass eine, nicht »die« Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums einen fundamental anderen Charakter hat als der in Europa dominante, weil selbstverständliche Weg aus dem christlichen Zusammenhang.
Cohen wies schon mit seiner Fragestellung fundamental auf die für die europäische Kultur herausfordernde jüdische Frage hin. Sie ist so herausfordernd, weil sie über die nationalstaatlichen Muster des 19. und 20. Jh.s hinausführt. Zudem erinnerte Cohen ausgehend von Maimonides (Maimun) daran, wie weit die jüdische Prägung des Abendlandes reicht. Hier wäre hinter Maimonides noch weiter u. a. auf Bahya ibn Pasqua (1050–1120) zurückzugehen. Allein durch den Horizont seiner Fragestellung eröffnete Cohen die Wegbahn jüdischer Philosophie, die über Martin Buber und Franz Ro­senzweig bis zu Emmanuel Lévinas und darüber hinaus reicht. In jüdischer Perspektive wird ein Zusammenhang zwischen Philosophie und Theologie entworfen, der die Verbindung zwischen Religion und Vernunft und dem alltäglichen Leben (vgl. Lev 19), zwischen vormoderner Tradition und Moderne herstellt: ein Konnex, der auf dem Boden des Christentums niemals zur Entfaltung kam.
Symptomatisch für das fehlende Verständnis und die bleibende Herausforderung von Cohens Denken ist es, dass in der Rezeption zwischen den systematisch neukantianischen und den »jüdischen Schriften« Cohens meist klinisch rein getrennt wird und dass damit ein Zusammenhang durchtrennt wird, den Cohen selbst deutlich sah. So verdienstvoll der Band ist, dieses Missverhältnis korrigiert er nicht. Irritierend ist zumal, dass unbefragt Kriterien der Säkularisierung und Aufklärung aus den gängigen christlich geprägten Diskursen reproduziert werden. Die Positionierung »Cohen im Kontext« zieht deshalb die Frage nach sich, um welchen Kontext es gehen soll. Die Antwort liegt nahe: Es muss Cohens eigener Kontext sein: also die Quellen des Judentums.
In einem von E. Goodman-Thau unter Mitarbeit von G. Y. Kohler herausgegebenen Sammelband war vor zwei Jahren eindrücklich und polyphon von Cohens Denkansatz die Rede (vgl. Dies. [Hgg.], Nationalismus und Religion. Hermann Cohen zum 100. To­destag, Heidelberg 2019). Die von E. Goodman-Thau be­gründete Hermann Cohen-Akademie rief zuvor in einer Vielzahl von Ta­gungsbänden und Veranstaltungen Cohens Vermächtnis wirksam ins Gedächtnis. Es ist bedauerlich, dass die Resonanz auf solche Fragen im vorliegenden Sammelband, sieht man vom letzten Beitrag, dem Nachdruck eines Aufsatzes von Siegfried Sinai Ucko (1905–1976) ab, weitgehend fehlt. Dies ändert nichts an den Verdiensten der facettenreichen Beiträge, von denen einige, nicht alle, thematisiert werden sollen.
Christoph Schulte (15–33) widmet sich unter dem Titel »Messianismus ohne Messias« der Profilierung des Messianismus durch Cohen. Schulte geht davon aus, dass der liberal-religiöse Messianismus des Reformrabbinertums und die sozialpolitische Bewegung eines religiösen Sozialismus sich bei Cohen überschneiden. Messianische Humanität ist für Cohen der »innerste Boden unserer Religion«, »das prägnanteste, das originellste Erzeugnis des jüdischen Geistes« (zit. 23). Was Schulte schon im Problemtitel seines Aufsatzes übersieht, ist fundamental: An eine Säkularisierung nach christlichem Muster sah sich Cohen keineswegs gebunden. Das Epitheton »Messianismus ohne Messias« ist verfehlt. Es nimmt eher wirkungsgeschichtliche Konstellationen auf.
Dass dieses christliche Kontextmuster irreführend ist, zeigt sich am folgenden Aufsatz, Thorsten Lattkis Studie (33–51), die sich dem komplexen Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Cohen und dem heute weitgehend vergessenen Benzion Kellermann widmet. Kellermann suchte als Neukantianer in der Prägung der Marburger Schule der neukantianischen Philosophie eine jüdische Richtung eigener Prägung zu geben. Er etablierte die Konzeption einer prophetisch-ethischen allgemeinen Religiosität. Ausgangspunkt war für ihn die von Cohen in keiner Weise geteilte Auffassung, dass jede religiös fundierte Ethik, auch die Halacha, mit Kants Religionsschrift als statutarisch zu begreifen und zu überwinden sei (45). Die Differenz endete jedoch im Tod: Kellermann hielt eine einfühlsam empathische Grabrede auf Cohen und bezeugte darin, wie Cohen im synagogalen Gottesdienst tiefe Heimat gefunden habe.
Ulrich Sieg (51–73) verweist auf den nach wie vor hoch interessanten politischen Horizont Hermann Cohens. Es ist allgemein bekannt, dass Cohen für einen »ethischen Sozialismus« eintrat. Von dieser Position aus wehrte er Treitschkes programmatischen Antisemitismus mit Entschiedenheit ab. Sieg gewichtet die Bedeutung des Materialisten Friedrich Albert Lange für Cohens Konzeption stärker als dies in der Forschung bislang üblich war. Ausgehend von bislang unbekanntem Archivmaterial, vertritt Sieg die These, dass Cohen dem Linksliberalismus nähergestanden habe als der Sozialdemokratie.
Der Mitherausgeber Heinrich Assel (71–201), Systematischer Theologe in Greifswald, wendet sich Cohens Verhältnis zur Luther-Renaissance von Karl Holl und dessen Schule zu. Dabei konstatiert er als einer der besten Kenner jener Richtung eine Ambivalenz: Das Schulhaupt jener einflussreichen Richtung, Karl Holl, ignorierte Cohens Werk mit christlich antijüdischen Ressentiments. Nicht so eine jüngere Generation mit Rudolf Hermann an der Spitze, der sich die einflussreiche skandinavische Filiation der Lutherrenaissance mit Anders Nygren an der Spitze anschloss. Cohens gelegentlich geäußerte Behauptung seiner eigenen »Prinzipien-Verwandtschaft« mit Martin Luther nimmt Assel konsequent ernst. Vor diesem Horizont untersucht er einen gemeinsamen biblischen Referenztext Psalm 51, der für die Korrelation von Gott und Mensch besonders einschlägig ist. Die Gegenläufigkeit von Cohen und dem neulutherischen Ansatz ist prima facie offensichtlich. Bei Luther wird der Psalm als Inkunabel des peccatum radicale und der absoluten Rechtfertigungsbedürftigkeit des Menschen interpretiert. Bei Cohen dagegen steht die »un-zerstörbare Geistigkeit des Menschen« im zentralen Fokus der Psalmeninterpretation. Assel versucht gleichwohl durch die Konstatierung des gemeinsamen Anfangsproblems über diesen offensichtlichen Hiat hinauszudenken. Dass dabei auch die christologischen Absolutheitsansprüche und Theologoumena, nicht zuletzt angesichts der Exzesse von Luthers Judenfeindschaft, zu bedenken wären, ist eine Perspektive, die der brillante Aufsatz andeutet, die aber weitergehend zu explizieren wäre.
Hartwig Wiedebach (101–122) thematisiert Cohens Studienzeit am Breslauer Rabbinerseminar, das er bereits mit 15 Jahren bezog. Cohen hörte dort unter anderem die Vorlesungen von Heinrich Graetz und Jacob Bernays, von deren persönlicher Wirkung er in späten autobiographischen Rückblicken eindrucksvolles Zeugnis ablegte. So exzellent die Dokumentation ist, scheint Wiedebachs Leitgedanke, dass Cohens Konzeption einer Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums eine Spielart der säkularen, aufklärerischen »Wissenschaft des Judentums« sei, doch keineswegs plausibel. Den eigenen theologisch-philosophischen Ansatz artikulierte Cohen, von Wiedebach zitiert (120), gerade in der Trennung von jener Schule. Dies führte ihn zur Vertiefung in die Philosophie.
Christian Damböck (123–141) geht Cohens Konzeption der rationalen Psychologie nach. Cohen arbeitete die Psychologie nicht als eigenen Systemteil aus. Er wendete sich, ähnlich wie Husserl, philosophisch gerade vom Psychologismus ab. Maßgeblich war für ihn vielmehr die konsequente Verfolgung der »transzendentalen Methode« in der Folge von Kant. Die Psychologie behielt dennoch einen wichtigen Ort. Sie wurde als ein pädagogisches Instrument verstanden, um die Einheit der Kultur, eine Synthese ohne Systemzwang, zu generiren. Er sprach ihr die Rolle einer »hodegetischen«, also in kultureller Hinsicht Weg weisenden Enzyklopädie zu.
Cedric Cohen-Skalli (177–199) geht einer anderen Spur nach: Cohens Stellung zum Imperialismus im Ersten Weltkrieg. Dabei werden Übernahmen aus der Semantik des Imperialismus allerdings überbetont. Die Russlandreise war für Cohen auch ein Weg zu den nach wie vor präsenten Quellen des nicht-assimilierten Judentums. Als Korrektiv ist Ulrich Siegs Befund zu verstehen, der die Kontinuität der Positionen Cohens vor dem Ersten Weltkrieg und an dessen Ende unterstreicht.
Auch persönliches Kolorit wird intensiv präsentiert: Robert S. Schines (199–213) geht den Spuren Cohens in den Erinnerungen seiner Schüler aus der Marburger Zeit nach. Plastisch nachgezeichnet wird so das Bild eines gleichermaßen philosophisch strengen leidenschaftlichen Lehrers und des zugewandten väterlichen Mentors. Ähnliches zeigt sich auch in Bernd G. Ulbrichs Beleuchtung der Freundschaft zwischen dem klassischen Philologen Robert Fritzsche und Hermann Cohen, die ein Leben lang anhielt.
Hoch interessant und auch auf der Spur der jüdischen Quellen ist die Erkenntnis von Pierfrancesco Fiorato (245–263), der dem Begriff der »Sprachhandlung« nachgeht. Erstmals wurde dieser Topos von Cohen in dessen ›Ethik des reinen Willens‹ eingeführt. Damit steht Cohen zwischen Hajim Steinthal und Ernst Cassirer. Schon Cohen befasste sich ebenso wie später Cassirer eingehend mit der Aphasie-Forschung. Am pathologischen Grenzphänomen der Aphasie, die von der Apraxie noch übertroffen wird, wird eingesetzt. Sprachliches Weltverhältnis steht in enger Korrelation mit komplexen Bewegungen und ist eine handelnde Welterschließung.
In einem konstellationentheoretischen Beitrag untersucht Ezio Gamba (263–279) Cohens Positionierung zu den ästhetischen Debatten seiner Zeit. Cohen ist anfangs deutlich von F. Theodor Vischer, dem Ästhetiker der nicht mehr schönen Künste, beeinflusst. Nicht in allen Phasen seines Werkes arbeitete Cohen an Fragen der Ästhetik. Er nahm aber, mit dem Fokus auf seiner Rekonstruktion von Kants »Ästhetik des reinen Gefühls«, in seiner späteren Philosophie die gesamte ästhetische Debatte der Zeit auf.
Kirstin Zeyers Beitrag (279–293) greift auf ein weniger bekanntes Detail zurück, Cohens Beitrag zur Cusanus-Forschung. Es stellt sich immerhin die Frage, ob Cohen als Begründer der neueren Cusanus-Forschung bezeichnet werden kann. Sein fundiertes Interesse an der Infinitesimal-Rechnung knüpft ebenso eine Verbindung zu dem großen Koinzidenzdenker der frühen Neuzeit wie die Toleranzkonzeption, die sich stark an Cusanus’ Schrift De pace fidei orientierte. Zudem hatte Cohen bereits 1903 die Edition von Opera omnia angeregt.
Günter Bader (293–317) behandelt Cohens Kritik des Konzepts der creatio ex nihilo, der Schöpfung aus dem Nichts. Bemerkenswert daran ist, dass Bader als evangelischer Theologe sich in seiner subtilen Untersuchung tief auf einen jüdischen Diskussionskomplex einlässt. Einerseits thematisiert er das Verhältnis von reiner Logik und Poetologie als Spannung im Œuvre Cohens, andrerseits insinuiert er ein Gespräch zwischen Gershom Scholems kabbalistischer Rettung der Schöpfung aus dem Nichts und Cohens Vermeidung des Topos der Schöpfung aus dem Nichts. Bader konstatiert innerhalb der Kabbala eine Vorprägung der Debatte: Im Haupttext des Sohar werde zwischen dem Unendlichen (En-sôf) und dem Nichts streng geschieden, in der spanischen Kabbala seit dem 13. Jh. werde dagegen das Unendliche mit dem Nichts identisch gesetzt. Ersteres sei die Option Cohens gewesen, Letzteres jene von Scholem. Hier wäre fortzusetzen, im Blick auf das dezidiert jüdische Erbe Cohens.
Es folgt Rudolf Smends Rekonstruktion der freundschaftlichen Beziehung zwischen Hermann Cohen und Julius Wellhausen (317–329). Jene Konstellation bedeutete in Zeiten eines umfassend grassierenden Antisemitismus ein Antidotum. In der Freundschaft werden auch die Differenzen unverkennbar, die wiederum auf die Quellen des Judentums verweisen. Cohen fasst als das dauerhaft ewige Erbe des Judentums auf, was für Wellhausen ein großer Abschnitt der biblischen Religionsgeschichte ist und nicht mehr.
Es ist ein wichtiges Signal, dass der Band mit einem Text schließt, den der Rabbiner und Philosoph Siegfried Sinai Ucko (1905–1971) als Einleitung zur hebräischen Ausgabe der Religion der Vernunft beitrug – ein schillernder Traktat, der die Verflechtung von Philosophie und Theologie, Wahrheits- und Gottesfrage, Athen und Jerusalem, als Leitmotiv entwickelt. Damit wird doch den »Quellen des Judentums« in stärkerem Maß Rechnung getragen und der Kontext Cohens gewinnt konkrete Form.
In der nur referierten Rahmung der Tagung, einem Konzert mit synagogalen Stücken unter anderem von Martha Cohens Vater Louis Lewandowski und dem Gedenken an Martha Cohen im Greifswalder Dom, scheint die Gedächtnisdimension in würdiger Weise auf.
Damit wird deutlich, dass die Quellen des Judentums für Cohen keineswegs eine isoliert religiöse Fragestellung bedeuten. Von Cohen her formulierten sie sich als eigenständige Wurzel der Kulturphilosophie, die nach dem desaströsen 20. Jh. in den 20er Jahren des 21. Jh.s neu zur Geltung zu bringen und keineswegs nur in historischem Interesse ist.