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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

460–462

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Garber, Klaus

Titel/Untertitel:

Der Reformator und Aufklärer Martin Opitz(1597–1639). Ein Humanist im Zeitalter der Krisis.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XXI, 846 S. Geb. EUR 79,95. ISBN 9783110550047.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Wenn es mit der Auskunft des Duden, das Adjektiv kolossal attestiere einem Gegenstand »ungewöhnliche Größe und beeindruckende Wucht«, seine Richtigkeit hat, dann darf der anzuzeigende Titel getrost als ein kolossales Werk der Wissenschaft gewürdigt werden. Als Nestor der literaturgeschichtlichen Späthumanismus- und Barockforschung hat Klaus Garber mit seinem Alterswerk die maßgebliche Gesamtdarstellung des schlesischen Dichters, Sprachreformers und Diplomaten Martin Opitz (1597–1639) erbracht.
Dass dieser im Buchtitel zugleich als Humanist, Reformator und Aufklärer etikettiert wird, ist weder anachronistisch noch typologisch zu deuten, sondern umreißt die ihm in der Geistes-, Kultur- und Theologiegeschichte des beginnenden 17. Jh.s zufallende »transitorische Stellung« (41). Allerdings will G. keine flächendeckende Biographie vorlegen, sondern konzentriert sich auf die »Erarbeitung markanter Stationen«, für die er aus dem Gesamtwerk von Opitz jeweils »einzelne markante Titel« (XVI) in mikroskopischer Analyse zur Geltung bringt. Dabei wird man zwar die eingehende Würdigung der vielleicht wichtigsten, jedenfalls aber bekanntesten Schrift des Schlesiers, sein Buch von der deutschen Poeterey (1624), vermissen, dafür aber mit zahlreichen Klein- und Nebenschriften, von denen G. nicht wenige auf seinen ausgedehnten Inspektionsreisen durch osteuropäische Bibliotheken erstmals aufgespürt hat, vollauf entschädigt. Ein weiterer gewaltiger Ge­winn der Untersuchung kann darin verbucht werden, dass sich die von Opitz frequentierten Stationen gemäß einer auf den Literaturwissenschaftler Konrad Burdach zurückweisenden »kulturellen Raumkunde« (244) in die tiefenscharfe Dreidimensionalität des mit höchster interdisziplinärer Gelehrsamkeit freigelegten historischen Gesamthorizonts eingefügt finden. So weitet sich die Opitz gewidmete historische Spurensicherung durchweg in ein repräsentatives geistesgeschichtliches Epochenporträt.
Dergestalt wird in 17 Kapiteln der Lebens-, Arbeits- und Wirkungsgang von Opitz umrissen. Das letzte Kapitel bietet dann eine kenntnisgesättigt kommentierende Sichtung der Sammelausgaben, die dem Barockschriftsteller im 17. und 18. Jh. zuteilwurden. Organischen bibliographischen Fortgang bietet daraufhin die ausführliche »Kommentierte Literaturkunde« (779–828), die auf dem Weg von den Titelverzeichnissen und Sammlungen der Aufklärungsepoche bis in die »forscherliche Ernte der jüngsten Zeit« (824) intim vertraute, ausgewogen urteilende Lotsendienste erbringt; eine knappe Auswahl aktueller Literatur findet sich dann noch hinzugefügt.
Eröffnet wird der Band mit einem »Eingangs-Essay«, der den von Opitz selbst insinuierten Anspruch, er habe als der »Vater der deutschen Dichtung« (1) zu gelten, umsichtig aber entschieden relativiert und den Wandel des Opitz-Bildes durch die Zeiten bis in das unmittelbare Vorfeld der Gegenwart hinein dargelegt. Als zweites, den biographischen Durchgang vorbereitendes Kapitel modelliert G. für die Zeit um 1600 ein »religiös durchwirktes Ideen-Panorama« (41), in welchem er das zwischen den drei christlichen Konfessionen entstandene, spannungsgeladene Kraftfeld präzise rekonstruiert und dadurch dann auch die spezifische geschichtliche Figuration des deutschen und europäischen Späthumanismus kenntlich zu machen versteht. Dieser habe sich konsequent dem Prozess der »konfessionellen Fraktionierung« (43) entzogen und damit die Möglichkeit und den humanen Mehrwert »hybride[r] Glaubensformen« (78) vor Augen geführt. Solche auf Ausgleich und Vermittlung abhebende konfessionelle Überparteilichkeit sei nä­herhin darauf bedacht gewesen, die unantastbare Dignität der biblischen und frühchristlichen Dokumente zu wahren, zugleich aber »die Notwendigkeit ihrer dogmatischen Fixierung und ihrer zur konfessionellen Diversifikation geleitenden kontroversen Auslegung« (78) rundheraus zu bestreiten.
Im Zeitalter der Konfessionalität stellte der Umstand, dass ge­dichtete Sprache stets auch Theologisches abbilden und erörtern konnte, eine Selbstverständlichkeit dar. Dementsprechend ist bei Opitz die Glaubensreflexion allenthalben, wenn auch nicht durchweg ausdrücklich, präsent. Beispielhaft wird dies etwa in dem Trost-Gedichte In Widerwärtigkeit Deß Krieges (1633) ersichtlich, wenn der lyrische Tröster über allgemeine, vernünftige Gründe hinausgehend etwa die Frage, wie sich die geschichtliche Erfahrbarkeit von Gottes Zorn und Gottes Liebe zueinander verhalten (vgl. 378–380), oder den eschatologischen Horizont christlichen Glaubens (vgl. 394–397) in den poetischen Zuspruch mit einbezieht. Abermals erscheint dies, wie G. festhält, in eine »postkonfessionelle Gestalt des Glaubens« (379) gebettet, welche sich mit der Verbindlichkeit des biblisch fixierten Wortes Gottes begnügt, weil darin »alles Glaubensnotwendige unzweideutig und der Nachahmung anheimgestellt niedergelegt war« (396). Innerhalb dieser Gesamtkonstellation dürften drei Sachverhalte von pointiertem theologischen Interesse sein.
So hat Opitz der Dichtung auch explizit die Funktion als »verborgene Theologie« (469) zugewiesen, und dies, auf den ein Jahrhundert nach seinem Tod geborenen Johann Gottfried Herder vorausweisend, für die Anfänge sogar in exklusiver Sachwalterschaft: »Die Poesie«, referiert G., »führt seit Urzeiten eine theologische Mitgift bei sich« (369), weil ihr eine gegenüber der Theologie ungleich größere Elementarität und Allgemeinverständlichkeit sowie ein wesentlich breiterer Wirkungsradius eigne. Deshalb sei sie nach Opitz auch in seiner Zeit noch »befugt und berechtigt, überzugreifen auf das Terrain der Theologie« (471). Der Rezensent erkennt darin, an die eigene Profession gerichtet, die Verpflichtung, eine auf die Frühe Neuzeit gerichtete Theologiegeschichtsschreibung nicht auf Dogmatiken, Streitschriften, Predigten und andere Binnenprodukte zu beschränken, sondern stets auch die in literarischem Gewand einhergehende »verborgene Theologie« jener Zeit einzubeziehen.
Darüber hinaus webt G. immer wieder hervorragende kirchengeschichtliche Miniaturen in seine Darstellung ein, die in ihrer Prägnanz, Lebendigkeit und sachhaltigen Komplexität einen Vergleich mit den gängigen Fachkompendien wahrhaftig nicht zu scheuen brauchen. Dies gilt für die exakte Momentaufnahme der in Breslau um 1600 herrschenden religiösen Situation (vgl. 101–104) ebenso wie für die Skizze der vielgestaltigen religiösen Physiognomie der von Opitz zeitweise bewohnten Stadt Görlitz (vgl. 173–175), für die gebündelte Schilderung und Deutung des vom brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund 1613 vollzogenen Konfessionswechsels (vgl. 188–191) ebenso wie für die präzise Erhellung der Initialfunktion, die dem 1563 vollzogenen Übergang der Kurpfalz vom lutherischen zum reformierten Bekenntnisstand zukam (vgl. 249 f.).
Überdies hat Opitz 1631 die zentrale, zuerst in niederländischer, dann in lateinischer Sprache vorgelegte Apologie De veritate religionis christianae von Hugo Grotius nicht allein ins Hochdeutsche übersetzt, sondern dazu auch mit einer eigenen ausführlichen Vorrede versehen, die nach dem Urteil von G. als ein »Manifest neuplatonisch grundierten Glaubens humanistischer Observanz« (628) in Erscheinung tritt. Angeregt durch den niederländischen Vor- oder Frühaufklärer Grotius, den er 1630 in Paris auch persönlich kennenlernte, dürfte Opitz in dieser Vorrede seine bündigste Glaubensrechenschaft abgelegt haben. Eingehend bestimmt er dabei den Weg, den er einer von natürlichen, vernünftigen Einsichten ausgehenden Gotteserkenntnis hin zur biblischen Offenbarung gewiesen sieht. Dabei ist, wie G. deutlich hervorhebt, dieses späthumanistische Sola-scriptura-Prinzip »nicht mehr in erster Linie gegen altgläubige Praktiken gerichtet, sondern gegen die sekundären Derivate konfessioneller Provenienz und Polemik, die allemal den Grund des Glaubens versehren« (631). Erneut dokumentiert sich darin die religionsirenische Frömmigkeit des schlesischen Späthumanisten, die den Religionsparteien ein transkonfessionelles Versöhnungsangebot unterbreitet: »Kein Wort ist verlautet, das einer bestimmten Konfession sich zurechnen ließe, niemand ist in seinem je eigenen Glauben lädiert« (634).
Nicht als Tadel, sondern als Spezifikum sei vermerkt, dass G.s umfangreiche, mit ausführlichen gelehrten Anmerkungen unterfütterte Monographie denen, die sie eingehend rezipieren wollen, gehörige Geduld und Ausdauer abverlangt. Die unmittelbar einnehmende Sprachgestalt des Buches, die nur gelegentlich in einen gewissen Praliné-Stil abzugleiten droht, suggeriert das Bild eines knisternden Kaminfeuers, vor dem ein glänzend ausgewiesener Sachkenner seinem altvertrauten Gegenstand im Gelehrtengespräch immerzu neue, reizvolle Aspekte und Einsichten abgewinnt. Tatsächlich dürfte es dem, der nicht schon seit Jahrzehnten mit Opitz und dessen Zeit Umgang gepflegt hat, bisweilen etwas Mühe bereiten, sich im Gewoge der faszinierenden Einzelheiten jederzeit der grundlegenden Basisinformationen versichert zu halten.
Indessen zeugt auch der Aufweis dieser hermeneutischen Be­sonderheit am Ende nur von der »ungewöhnlichen Größe und beeindruckenden Wucht« dieses wahrhaft kolossalen Buches, das in viele theologische Bibliotheken und erst recht in viele theolo-gische Hände zu wünschen ist.