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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

439–441

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jochum-Bortfeld, Carsten

Titel/Untertitel:

Paulus in Ephesus. Eine Expedition in die Entstehungszeit des Neuen Testaments.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (Penguin Random House) 2021. 272 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 22,00. ISBN 9783579071534.

Rezensent:

Stephan Witetschek

Gerd Theißens Erzählung »Der Schatten des Galiläers« wurde schon Generationen von Studierenden als niederschwelliger Zugang zu einem zentralen Thema der neutestamentlichen Wissenschaft empfohlen: dem historischen Jesus. Für ein anderes großes Thema des Fachs, Paulus, hat nun Carsten Jochum-Bortfeld, apl. Professor für Neues Testament an der Universität Hildesheim, etwas prinzipiell Ähnliches unternommen. Er stellt einen Ausschnitt aus dem Leben des Paulus in einer fiktionalen Erzählung (ohne erfundene Figuren) dar, die sich aber in einer historisch begründbaren Chronologie bewegt und ein zeit- und lokalhistorisch plausibles Kolorit aufweist. Mit Letzterem unterscheidet sich sein Buch deutlich von Theißens »Schatten des Galiläers«: Der Vf. konzentriert seine Darstellung auf den Aufenthalt des Paulus in Ephesos – immerhin ein Lebensabschnitt von einigen Jahren, in dem einige seiner heute noch erhaltenen Briefe entstanden sein dürften.
Diese Fokussierung erlaubt es ihm, verschiedene Orte innerhalb dieser antiken Großstadt zu verschiedenen Aspekten im Denken und im Werk des Paulus in Beziehung zu setzen: Eine Synagoge in Ephesos ist archäologisch nicht nachzuweisen und kann nur aus literarischen Quellen erschlossen werden, doch sie ist der Anlass, die Positionierung des Paulus innerhalb des Judentums seiner Zeit zu thematisieren (31–64). Der Vf. problematisiert durchweg die Rede von »Christen« in der Mitte des 1. Jh.s und zieht es vor, von »Messiasleuten« zu sprechen. Die Vorstellung, wie Paulus wohl den »Staatsmarkt« in Ephesos wahrgenommen haben mag, regt zum Nachdenken über seine Sicht des römischen Staates an, die, dem Vf. zufolge, trotz Röm 13,1–8 eine kritische, widerständige Haltung ist (65–85). Hier spielt eine Rolle, dass er, einem Trend der amerikanischen Forschung folgend, die Kategorie »Imperium« in einem sehr weiten Sinn versteht, so dass der Begriff sowohl die römische Herrschaft als auch die jeweilige städtische Selbstdefinition unter den Bedingungen römischer Herrschaft einschließt. Demgegenüber versteht er die frühe Jesusbewegung, Paulus eingeschlossen, dezidiert als ein Unterschichtphänomen. Diese Sicht wird auch im anschließenden Kapitel über Wohnsituationen im antiken Ephesos (86–114) akzentuiert. Der Blick auf den Embolos mit seinen Statuen und Ehreninschriften liefert in einem weiteren Kapitel einen Kontext für die Kritik des Paulus an den Gruppenbildungen in Korinth (1Kor 1,12) und andere dortige Missstände, in denen sich die konventionelle hellenistische Mentalität Bahn bricht, die gern als »agonistisch« bezeichnet wird (162–177). Die Tetragonos Agora (kommerzieller Marktplatz) bietet hingegen nicht nur Anlass zu sozialgeschichtlichen Betrachtungen, sondern auch für einen theologischen Akzent, das Nachdenken über Gnade – angesichts eines Marktes, »wo es nichts umsonst gibt« (so die Kapitelüberschrift, 178–191). Die noch erhaltenen Grabstätten außerhalb der Stadtmauer lassen sich schließlich gut zur zentralen Botschaft von der Auferstehung in Beziehung setzen (192–208).
Diese wenigen Schlaglichter mögen genügen. Der Vf. verfolgt in diesem Buch ein dreifaches Anliegen: (1.) eine lebendige Erzählung über einen Abschnitt im Leben des Paulus, (2.) eine knappe, lesbare Erläuterung zu wichtigen Stationen im archäologischen Park von Ephesos, (3.) eine in jedem Sinn »geerdete« Darstellung zentraler Themen im Denken des Paulus. Gerade der dritte Punkt ist sehr verdienstvoll: Das, was man »paulinische Theologie« nennt, ist nicht am Reißbrett entstanden, sondern in konkreten Auseinandersetzungen – mit anderen Anhängern Jesu, mit anderen Juden, aber auch mit der Welt, in der Paulus lebte und in der er sich zu­rechtfinden musste. Der theologische Kontext, in dem der Vf. seine Paulus-Interpretation entwickelt, geht nicht zuletzt aus den Anleihen bei der »Bibel in gerechter Sprache« hervor, wie auch aus den Referenzautorinnen und -autoren, die im Text und in der Bibliographie häufiger genannt werden (L. Schottroff, M. u. F. Crüsemann, R. Horsley u. a.). Letztere (249–263) ist nach Kapiteln gegliedert und weist neben theologischen Werken auch relevante und aktuelle Literatur aus der Alten Geschichte und der Archäologie auf. Man wird zum Weiterlesen ermutigt.
Kritisch ist anzumerken, dass der publizierte Text noch unnötig viele Rechtschreib- und Kongruenzfehler enthält, die in einer zweiten Auflage zu tilgen wären.
Davon abgesehen ist dem Vf. mit diesem sehr gut und flüssig lesbaren Buch ein Reisebegleiter im besten Sinn gelungen. Wer die antiken Stätten in Ephesos auch in dem Bewusstsein besichtigt, dass in dieser Stadt Grundlegendes für die spätere christliche Theologie (und zwar nicht nur unter dem Namen des Paulus!) geleistet wurde, wird hier angeleitet, die antike Stadt auch als Ort christlichen Nachdenkens zu sehen. Und wer zu Hause bleibt, erlebt bei der Lektüre, wie sperrige theologische Themen in der Korrelation mit den Gegebenheiten einer antiken Großstadt ganz neue Relevanz gewinnen und neue Akzente in den Vordergrund treten. Da die fiktionalen Passagen der Paulus-Erzählung im Layout nicht von der Beschreibung archäologischer Befunde und von damit verbundenen theologischen Erörterungen abgesetzt sind, ist man als Leserin und Leser stets gefordert, die Referenzialität des Gelesenen selbst zu bestimmen. Als niederschwelliger Zugang zu Paulus ist dieses Buch aber in jedem Fall zu empfehlen.