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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

431–433

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Tiemeyer, Lena-Sofia, and Jakob Wöhrle [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Book of the Twelve. Composition, Reception, and Interpretation.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2020. XX, 632 S. = Vetus Testamentum. Supplements, 184. Geb. EUR 132,00. ISBN 9789004423244.

Rezensent:

Aaron Schart

Bei diesem Sammelband handelt es sich mit 632 Seiten um die umfassendste Übersicht über den Stand der Forschung zum Zwölfprophetenbuch, die bisher vorgelegt wurde. Er enthält nach einer Einführung der Herausgeber (Introduction, 1–14) 30 Beiträge, die in vier Teile gegliedert sind. Die üblichen Register beschließen den Band.
Teil 1 »General Topics« umfasst eine Übersicht über die wichtigsten redaktionsgeschichtlichen Phasen, die dem Zwölfprophetenbuch vorausgingen. Jakob Wöhrle stellt das Vierprophetenbuch vor (The Book of the Four, 15–37), das Vorstufen der Schriften Hos, Am, Mi, Zef umfasst hat (Schart bevorzugt dafür den Namen »D-Korpus«). In diese Schriften wurden Passagen eingefügt, die Termini, Phrasen und zum Teil ganze Sätze mit dem Buch 2. Könige gemeinsam haben, und zwar genau in der Reihenfolge, in der sie in 2Kön begegnen (siehe die schöne tabellarische Übersicht auf S. 28–29). Die Ansagen der Propheten sollten offensichtlich mit der Berichterstattung über die Könige, die in den Überschriften ge­nannt sind, synchronisiert werden, wobei Wöhrle dahinter durchaus auch eine kritische Absicht am Werk sieht.
Lena-Sofia Tiemeyer befasst sich mit dem »Haggai–Zechariah 1–8 Corpus«, dem vormals eigenständigen Werk, das die Basis der nachexilischen Erweiterungen bildete (38–64). James D. Nogalski untersucht den redaktionsgeschichtlichen Status von Sach 9–14 (The Completion of the Book of the Twelve, 65–89). An dieser Stelle sind die bisher vorgelegten Modelle noch sehr kontrovers. Nogalski evaluiert die wichtigsten Thesen und deutet dann Möglichkeiten der Weiterarbeit an. Nach seiner Meinung sei auffällig, dass in Sach 9–14 stark auf Themen, Motive und Formulierungen aus den Büchern des Corpus propheticum (Jes, Jer, Ez, Zwölfprophetenbuch) Bezug genommen wird, was sich der Absicht verdanken könnte, am Ende des Zwölfprophetenbuchs noch thematische Spannungen miteinander auszugleichen (87).
Tchavdar S. Hadjiev widmet sich der Frage, wie man den Einheitssinn der redaktionellen Bucheinheit bestimmen soll (»A Prophetic Anthology Rather than a Book of the Twelve«, 90–110). Bekannt ist ja das Phänomen, dass das Zwölfprophetenbuch zwar zwölf verschiedene Schriften unterscheidet, von denen sechs auch Überschriften tragen, als Ganzes aber keine eigene Überschrift trägt. Das Zwölfprophetenbuch legt damit so offen wie kein anderes dar, dass die Heilsgeschichte Israels nicht von einem einzigen Zeitpunkt her überblickt werden kann, sondern dass es dazu einer Kette von Propheten bedarf, deren vollmächtige Verkündigungen des Wortes YHWHs über die Umbrüche der Geschichte hinweg ineinandergreifen. Hadjiev untersucht die externe Bezeugung des Zwölfprophetenbuchs (91–93), das »unifying theme« (97–98), die overall structure (95–96), und die coherence of style (98–103; hierunter fallen auch die vielen Stichwortbezüge). Sein Ergebnis, dass die durchaus gegebenen Einheitssignale nicht ausreichen, um von einem »Buch« zu sprechen, ist angesichts der vielen Beiträge in diesem Sammelband, die das Zwölfprophetenbuch erfolgreich als redaktionelle Großeinheit verstehen, erstaunlich.
Teil 2 ist überschrieben »Issues in Interpretation«. Dahinter verbirgt sich eine Exploration dessen, was es bedeutet die einzelnen Schriften dezidiert als Teile des Buchganzen zu lesen. Hosea (111–123) wird von Jörg Jeremias vorgestellt, Joel (124–138) von Ruth Ebach, Amos (139–150) von Jason Radine, Obadja (151–163) von Anna Sieges und Nicholas R. Werse, Jona (164–175) von John Kaltner, Rhiannon Graybill und Steven L. McKenzie, Micha (176–185) von Rainer Kessler, Nahum (186–200) von Daniel C. Timmer, Habakuk (201–213) von Michael H. Floyd, Zefanja (214–224) von Walter Dietrich, Haggai (225–237) von Martin Leuenberger, Sacharja (238–255) von Rüdiger Lux und Maleachi (255–270) von Karl William Weyde. Alle Artikel stellen zunächst die Schriften ganz traditionell dar, gehen dann aber auf deren Einbindung in das Zwölfprophetenbuch ein. In diesem zweiten Teil findet man viele innovative Ideen. Ausführlich werden diachrone redaktionsgeschichtliche Fragen im Falle von Joel, Obadja, Jona, Zefanja und Sacharja diskutiert.
Der 3. Teil ist überschrieben »Textual Transmission and Reception History«. Dabei geht es um die Rezeption durch solche antiken Werke, die zumindest teilweise auch Textabschnitte des Zwölfprophetenbuchs bzw. dessen Übersetzungen enthalten. Russell E. Fuller »The Book of the Twelve at Qumran« (271–285) befasst sich mit den Handschriften aus der judäischen Wüste, Barry Alan Jones (286–304) mit der Septuaginta, Gudrun E. Lier mit den Targumen (305–324), Simone Rickerby mit der Übersetzung in Latein (325–351), Frank Ueberschaer (352–384) mit frühjüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit und Craig A. Evans mit dem Neuen Testament (385–414). Evans hält es für wahrscheinlich, dass bereits der historische Jesus den endzeitlichen Boten (Mal 3,1) mit Johannes identifiziert habe (388). Auf jeden Fall hätten aber die Evangelisten (z. B. die Vorstellung, dass die messianische Endzeit mit Jesu Einzug in Jerusalem anbricht, Mt 21,4–5; Joh 12,14–15//Sach 9,9), die Apostelgeschichte (z. B. Pfingstereignis, Apg 2//Joel 3,1–5) und Paulus (z. B. Rechtfertigung aus Glauben, Gal 3,11; Röm 1,17//Hab 2,4) wichtige christologische Einsichten gewonnen. Anna Maria Schwemer befasst sich mit dem Buch »Die Leben der Propheten« (415–440) und Mark Leuchter mit der rabbinischen Literatur (441–468).
Der 4. Teil widmet sich einigen bibeltheologischen Fragen.
Ruth Scoralick, »Judgment and Grace« (469–489), untersucht die Bezüge auf die sogenannte Gnadenformel (Urform in Ex 34,6–7; zitiert in Hos 1,6–7; Joel 2,13; Jona 4,2; Mi 7,18–20; Nah 1,2–3). Diese expliziert in äußerster Knappheit die beiden wesentlichen Seiten YHWHs: seine überschwängliche Gnade, die aber Unrecht nicht ungestraft lässt. Texte wie Hos 11,8–9 machen deutlich, dass YHWHs Mitleid nie aufhört, so dass er das Gottesvolk wieder und wieder zur Umkehr einlädt.
Marvin A. Sweeney, »Kingship« (489–506), befasst sich mit der Heilsbedeutung des irdischen Königs im Zwölfprophetenbuch. Zwar gebe es Passagen, die Könige kritisierten, und solche, die für die Zukunft keinen irdischen König neben YHWH erwarten, die Sinnspitze der Gesamtkomposition ziele aber auf ein gereinigtes davidisches Königtum, dessen Hauptstadt ein geheiligtes Jerusalem inmitten einer versöhnten Schöpfung sei (504).
Mark J. Boda, »Geography« (507–531), stellt zusammen, wie vielfältig in den einzelnen Schriften vom Land geredet wird. Für die antiken Autoren war es selbstverständlich, dass das Volk nur in Harmonie mit dem Land und den anderen Landesbewohnern überleben kann. Roy E. Garton, »First Fruits Rites« (532–553), befasst sich mit Stellen, die auf die Darbringung der Erstlingsfrüchte am Heiligtum anspielen (z. B. Dtn 16,9–12; 26,1–15). Die Riten feiern YHWHs Gabe der Fruchtbarkeit des Landes, die YHWH freilich auch entziehen kann, wenn Israel sich gegen Gott versündigt. Anselm C. Hagedorn, »The Nations« (554–580), befasst sich damit, wie sich das Verhältnis Israels zu den Völkern in den verschiedenen Epochen der Geschichte Israels darstellt. Insbesondere die Großmächte Assyrien, Babylon, Persien und Griechenland haben Israel unterworfen und ökonomisch und religiös unter Druck gesetzt, aber auch Edom hat sich mehrfach feindlich verhalten. Sie werden von YHWH zerstört werden. Am Ende der Redaktionsgeschichte kommen aber Vorstellungen auf, die einen friedlichen Anschluss der Völker an den Gott Israels erwarten (z. B. Mi 4,1–5), wobei sowohl innerhalb der Völker als auch innerhalb Israels eine Trennung von Frevlern und Gerechten erfolgen wird. John Kessler, »Exile« (581–612) geht den traumatischen Erfahrungen nach, die Israel als Opfer der imperialen Großmächte des Vorderen Orients machen musste.
Wenige Monate nach dem vorliegenden Band erschien ein weiterer Sammelband mit dem gleichen Anspruch (Julia M. O’Brien, The Oxford Handbook of the Minor Prophets. Oxford 2021, 576 S., wobei zehn Autoren an beiden Bänden mitgewirkt haben). Das macht deutlich, dass sich fast 30 Jahre nach Nogalskis Büchern »Literary precursors« und »Redactional processes« (beide 1993), die den Durchbruch zum Verständnis des Zwölfprophetenbuchs als einer redaktionellen Großeinheit brachten, die Forschung bereits beachtliche Einsichten gewonnen hat. Es ist nicht mehr zu übersehen: Das Zwölfprophetenbuch verschränkt die verschiedenen Propheten zu einer Prophetenkette, die sich über die Generationen hinweg von Prophet zu Prophet verlängert. An ihr entlang kann Israel Gottes Wesen und Handeln immer tiefer verstehen. Isoliert man einen Propheten, führt das zu Einseitigkeiten.
Alle Artikel sind gut strukturiert und flüssig geschrieben. Der Forschungsstand wird aktuell und kompetent präsentiert. Das Buch dürfte sehr gut für solche Leser geeignet sein, die sich erstmals eine Gesamtperspektive auf Schriften erarbeiten möchten, die sie bisher isoliert gelesen haben. Aber auch Spezialisten finden sicher neue Forschungsgebiete.