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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

429–431

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Friedl, Johanna

Titel/Untertitel:

Ein brüderliches Volk. Das ›Bruder‹-Konzept im Heiligkeitsgesetz und deuteronomischen Gesetz.

Verlag:

Berlin u. a.: Peter Lang Verlag 2021. 352 S. m. 6 Tab. = Österreichische Biblische Studien, 52. Geb. EUR 67,95. ISBN 9783631849507.

Rezensent:

Ann-Cathrin Fiß

Die katholische Alttestamentlerin Johanna Friedl ist Research Associate am Department of Old Testament and Hebrew Scriptures, Faculty of Theology and Religion an der University of Pretoria und Mitarbeiterin des Instituts für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie wurde 1972 in Johannesburg, Südafrika, geboren und studierte evangelisch-reformierte Theologie und Semitische Sprachen in Pretoria und katholische Theologie in Wien. Die vorliegende Monographie ist 2018 an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Wien als Dissertation angenommen worden. Betreut wurde F. von ihrem Doktorvater, em. Univ.-Prof. P. DDr. Georg Braulik OSB.
Mit ihrer Untersuchung möchte F. nicht nur einen exegetischen Beitrag zum Verständnis der Bruderethik im Deuteronomium (Dtn) und im Heiligkeitsgesetz (HG) leisten, sondern bewusst ein Gespräch mit der christlichen Sozialethik aufnehmen. Sie steht dem wissenssoziologischen Ansatz von P. Berger und T. Luckmann nahe, der vor allem von N. Lohfink aufgenommen worden ist. Die biblischen Texte und ihre symbolische Sinnwelt sollen als Mittel der Korrektur und Deutung in die Gesellschaft getragen und Möglichkeiten zur jeweiligen gegenwärtigen Aneignung geschaffen werden. F. betont, dass ihre Forschung unter dem Eindruck der Krise (Flüchtlingskrise, weltweite Pandemie) entstanden ist und dadurch die biblische Bruderethik mit ihrem integrierenden »Du« statt eines spaltenden »sie« und »wir« eine besondere Relevanz gewonnen hat (14).
F. beginnt mit einer kurzen Einleitung (vier Seiten), in der sie Absicht und Aufbau der Arbeit beschreibt; einen Forschungsüberblick zu bisherigen Untersuchungen gibt es leider nicht. Der Hauptteil des Buches beginnt mit einem Überblick über die Bruderbelege im gesamten Alten Testament und einer Verortung der Bruderbelege des Dtns und des HGs in ihren weiteren Kontexten. Bevor die einzelnen Bruderbelege ausgelegt werden, legt F. Vorbemerkungen zur Exegese dar, in der bestimmte Lexeme in ihrer Bedeutung dargestellt (z. B. das Paradigmenwort »Volk«) bzw. in ihrem Gebrauch definiert (Begriffe aus der Rechtssprache) und ihre Herkunft geklärt (»Bruder« in altorientalischen Texten) werden. Auch die schwierigen Datierungsfragen hinsichtlich des Verhältnisses der Belegstellen aus Dtn und HG werden hier verhandelt, wobei F. nach Abwägung verschiedener Ansätze zu einer relativen Chronologie der Texte kommt. Dabei spielt vor allem der Gedanke eine Rolle, dass die Wachstumsgeschichte der jeweiligen Texte und ihr Verhältnis zueinander eine hohe Komplexität besitzen, so dass kein einseitiges Spender-Empfänger-Modell greift, sondern eine wechselseitige Beeinflussung in Betracht gezogen werden muss, die teilweise kaum noch rekonstruiert werden kann. F. gelangt zu folgender zeitlichen Abfolge der Brudertexte: Dtn 13, dtn Ämtergesetz, Lev 19, dtn Sozialgesetz, Lev 25 (229). Zu der plausibel dargelegten Chronologie sei lediglich eine Bemerkung hinzugefügt: In der Datierung von Lev 19 argumentiert F. mit Braulik gegen Barb iero. Es wäre angemessen, an dieser Stelle auch andere neuere Argumentationen anzufügen wie z. B. die Differenzierung zwischen deuteronomistischem Dtn und nachexilischer Fortschreibung in den wechselseitigen Rezeptionsprozessen von E. Otto oder die Beobachtungen zur Lexematik bei C. Nihan.
Die einzelnen Exegesen zu den Bruderbelegen sind fokussiert, stringent argumentiert, von sprachlicher Genauigkeit und geschehen in der Diskussion mit der Sekundärliteratur. Hervorzuheben ist der Bezug zu altorientalischen Quellen, z. B. zur Frage der Herkunft von zinsstrategischen Schulden in Mesopotamien (109–114). Aus der Exegese der Brudertexte ergibt sich, dass das Ämtergesetz eine egalitäre Bruderkonzeption aufweise, in der alle Brüder für die Ausübung der Ämter in Frage kämen. Das darauf folgende Sozialgesetz s ei eine Reaktion auf politische Ereignisse, die eine Aufspaltung von arm und reich zur Folge hatte, so dass dem armen Bruder geholfen werden müsse. Ähnliches gelte für Lev 19,17 f., ein Text, der eine Konfliktsituation beschreibe, in welcher zur Liebe er­mahnt werde. Lev 25 beschreibe ein hohes Ideal, indem der verarmte Bruder nicht versklavt werden dürfe, sondern als Lohnarbeiter behandelt und ihm im Jobeljahr Freiheit geschenkt werden müsse.
Die Auslegung der Brudertexte zeigt pointiert die Spannung zwischen Idealbild und geschichtlicher Wirklichkeit bzw. das Ringen um einen idealen Zustand und den Diskurs, der bei den biblischen Redaktoren ausgelöst wurde. Die große Stärke der exegetischen Analyse liegt in der Konzentration auf die Bruderbelege und in der Zuspitzung auf die sozialethischen Implikationen, welche die Auslegung durchziehen. Durch diese Fokussierung gerät allerdings an manchen Stellen der größere Kontext aus dem Blick bzw. die Tragweite der Gott-Mensch-Relation. Genannt sei hier z. B. die Bedeutung der Schöpfungstheologie, die weitestgehend für die Brudertexte verneint wird und lediglich für Lev 25 unter dem Stichwort »Land« in den Blick kommt (255). Für das HG insgesamt ist aber gerade die Schöpfung, wenn auch die priesterschriftlichen Traditionen in den Blick genommen werden, sehr wohl bedeutsam (vgl. die Untersuchungen von Ruwe). Es stellt sich also die Frage, wie die Einbettung in einen bestimmten theologischen Kontext, z. B. die bewusste Zusammenstellung von D und P Texten im HG, die Deutung der Brudertexte mitbestimmt? Weitere Beispiele für die Relation zu Gott wäre das Motiv der Gottesfurcht, das die Brudertexte begleitet und in der Untersuchung nur am Rande erwähnt wird, oder schlicht die Tatsache, dass Israel im HG an der Heiligkeit Gottes partizipiert (Lev 19,2) und daher besonders hohen Maßstäben bezüglich seines ethischen Verhaltens unterliegt.
An die exegetische Untersuchung wird ein theologischer Ertrag angeschlossen, der dazu dient, die vielfältigen exegetischen Beobachtungen zu systematisieren und die theologischen Grundlagen des Dtn vertiefend darzustellen. Thematisch beschäftigt F. u. a. die Bedeutung des Volkes, der Fremden und des Staates. Sie diskutiert Ansätze aus der Soziologie zur Identität und zur Idee des Staates und interpretiert mit ihnen die Ethik der Brudertexte. Es werden auch Impulse für die kirchliche Perspektive auf aktuelle Themen, wie z. B. die Flüchtlingsdebatte, gegeben. Gerne möchte man mit F. weiter ins Gespräch kommen, da vieles aufgrund der Fülle des be­handelten Materials nur angerissen werden kann. Den Ab­schluss der Untersuchung stellt ein eindrucksvoller Überblick über die ideelle Nachwirkung des Bruderkonzeptes dar, der u. a. mit Hilfe der Thesen der Wirtschaftswissenschaftler L. Bruni und S. Zamagni entwickelt wird und sich von der Antike bis zur späteren Neuzeit erstreckt.
F. ist ein Werk gelungen, das zum Gespräch zwischen den verschiedenen Disziplinen einlädt und in dem die exegetischen Ergebnisse als Impulse zur Deutung der gegenwärtigen Krisen fruchtbar gemacht werden. Für diese Vielstimmigkeit ist F. zu danken, da sie zeigt, dass die Exegese der biblischen Texte kein Expertenwissen für einen kleinen Kreis von Wissenschaftlern bleiben muss, sondern so zugänglich gemacht werden kann, dass sie einen anschlussfähigen gesellschaftlich-kirchlichen Beitrag leistet.