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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

424–426

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bauks, Michaela, and Saul M. Olyan[Eds.]

Titel/Untertitel:

Pain in Biblical Texts and Other Materials of the Ancient Mediterranean.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VIII, 267 S. = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 130. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161606410.

Rezensent:

Eckart Otto

Der katholische Theologe J. B. Metz stellte vor Jahren die Frage, warum man der zeitgenössischen Theologie die Leidensgeschichte der Menschen so wenig ansehe, und zog daraus die Konsequenz, es müsse für die christliche Theologie ein »Schmerzapriori« geben, wolle sie nicht unempfindlich sein gegenüber den Erfahrungen der Menschen im 20. Jh. Aus einem vergleichbaren Impuls heraus veröffentlichte 1946 der japanische Theologe Kazoh Kitamori eine Theologie des Schmerzes Gottes (dt. Übers. 1972). Ein derartiger Ansatz, wie er von J. B. Metz eingefordert wurde, hat nicht nur für die christliche Dogmatik und Ethik Bedeutung, sondern gleichermaßen für die exegetischen Bibelwissenschaften, und das nicht nur dann, wenn es gilt, eine Theologie der Hebräischen Bibel zu konzipieren, sondern auch bereits für ein Verständnis der religionshistorischen Dynamik, die zu einer monolatrischen und monotheistischen Transzendierung des Gottesbegriffs im Alten Testament führte; cf. E. Otto, Monotheismus als Reaktion auf die politische Bedrückung in der Leidensgeschichte Israels, in: ZAR 27 (2021), 109–111.
Da nimmt man gern den von M. Bauks und S. M. Olyan edierten Sammelband zu Schmerz in biblischen, rabbinischen und griechisch-römischen Texten sowie religiösen Artefakten zur Hand, der auf eine Tagung der Universität Koblenz-Landau im Jahr 2018 zurückgeht und der, wofür die Herausgeberin einleitend plädiert, auch die Traumaforschung berücksichtigen soll. Die Beiträge sind in drei Kapiteln zusammengeordnet. In einem ersten Kapitel werden Aspekte von Schmerz in biblischen und keilschriftlichen Texten sowie in Artefakten der Eisenzeit behandelt. Im zweiten Kapitel werden Beiträge zu griechisch-römischen Traditionen und zur Septuaginta sowie zur apokryphen und deuterokanonischen Literatur und im dritten Kapitel zu rabbinischen Diskussionen zusammengestellt.
Andreas Wagner eröffnet das erste Kapitel mit einem Überblick über Phänomene des Schmerzes im Alten Testament anhand einer Metaphernanalyse, um Zugang zur kulturell vermittelten Versprachlichung historischer Emotionalität zu gewinnen, wobei er aufzeigt, dass im Gegensatz zu westlicher Denk- und Sprachtra-dition das Alte Testament auf die Behältermetapher (»voll des Schmerzes«) verzichte (cf. aber Klgl 1) und sich stattdessen vornehmlich der Vorstellung einer extrapersonalen Wesenheit des Schmerzes, die den Menschen ergreife, bediene. In Gen 6,6 weist der Vf. die gängige Übersetzung von nḥm (Ni.) mit »bereuen« als Emotion Gottes berechtigterweise zurück und erwägt stattdessen die semantische Konnotation eines »Umschlagen(s) von einem (emotionalen) Bereich in den anderen« für das Lexem. Doch das dürfte semantisch an dieser Stelle noch zu unpräzise sein. Vielmehr wird, wie Hos 11,8 zeigt (s. u.), mit diesem Lexem vom Schmerz Gottes gesprochen, der zu Zorn (‘ṣb; cf. Gen 34,7) in seinem Herz führt – wie in der griechischen Archaik wird der Zorn als schmerzvoll empfunden –, so dass auch ein theologisch fundierteres Verständnis von Jes 53,3–4 in den Blick kommen kann. Insgesamt aber bereitet der Vf. einen überzeugend-informativen Rahmen für die folgenden Beiträge in diesem Band. Michaela Bauks schreibt anhand der Ätiologie in Gen 3,16 und ihrer innerbiblischen Rezeption zu den Ge­burtsschmerzen, die auch als Metapher für Krisen und Neubeginn dienen können. Saul M. Olyan beschreibt Fälle psychischer Folter von gefangenen Feinden in keilschriftlichen und biblischen Quellen wie 2Kön 25,7 (Zedekia). Christian Frevel wendet sich anhand von Klgl 1 der Rhetorik des Schmerzes und ihrer Empathielenkung durch die literarische Repräsentation der Schmerzen traumatisierter Körperlichkeit der Frau und Witwe Zion wie ihrer Bewohnerinnen und Bewohner zu. Dabei konzentriert er sich auf die Dialektik der Innen-Außen-Relation des Schmerzes. Der Beitrag besticht durch die Fülle weiterführender Perspektiven zur Anthropologie und Theologie des Alten Testaments bei intensiver Nutzung von C. Taylors »Quellen des Selbst« (stw 1233). Judith Gärtner schließt Erwägungen zu Schmerzen als Ausdrucksformen körperlichen, psychischen und sozialen Leidens in den Psalmen anhand einer sorgfältigen Exegese von Ps 38 an. Rüdiger Schmitt führt die iko-nographische Repräsentation von Trauer in der materialen Kul­tur des eisenzeitlichen Israel vor. Sind diese Beiträge weithin auf die Repräsentation menschlichen Schmerzes konzentriert, so wendet sich Bernd Janowski anhand der Analyse von Gen 6,5–8; Hos 11,7–11* (sic) und Jer 14,13–18 als theologische Kontrapunkte dem Schmerz Gottes als Ausdruck göttlicher Reaktion in seiner Kommunikation mit dem Menschen zu. Dieser Beitrag verbleibt in der Analyse von Gen 6,5–8 auf von der bisherigen Forschung vorgezeichneten Bahnen, wenn er in der Interpretation von nḥm (Ni.) mit J. Jeremias (BThSt 31) die Reue Gottes ins Zentrum stellt. Hos 11,7–9 ist kaum ein »Zwillingsbruder« von Gen 6,5–8, sondern prophetische Vor-gabe für die post-priesterschriftliche Redaktion in Gen 6,5–8. Der Vf. übersetzt die nḥwmj in Hos 11,8 unter Berufung auf B. Seifert (FRLANT 166, 220 ff.) mit »Mitleidsregung« Gottes und verfehlt damit den Aspekt des schmerztragenden Gottes, geht es doch nicht um Gottes Mitleid, sondern um ein Mitleiden Gottes, wobei eine erhebliche Differenz zwischen Mitleid und Mitleiden besteht. In der Dialektik von Zorn und Liebe in seinem Herzen überwindet JHWH in seinem Schmerz seinen Zorn durch sein Leiden an dem Israel angesagten Vernichtungsschicksal, auf das er sich selbst überwindend verzichtet und Israel so eine neue Zukunft eröffnet; cf. E. Otto, Theol. Ethik des Alte Testaments, 109–111. Von Bedeutung ist in diesem für jede Theologie des Alten Testaments wichtigen Beitrag die Schlussfolgerung des Vf.s, dass das biblische Gottesverständnis fern sei von aller philosophischen Reinigung des Gottesbildes durch ein Apathieaxiom, auch wenn der Schmerz Gottes tiefer im Gottesbild verankert ist, als es dieser Beitrag zu erkennen gibt.
Martin F. Meyer eröffnet den zweiten Abschnitt mit einem Beitrag zu Bedeutungen und Konzepten von Schmerz in der antiken griechischen Literatur von der homerischen Archaik bis zu wissenschaftlichen Erklärungsmustern seit dem 5. Jh. in Medizin und Philosophie mit Schwerpunkt in der Ethik von Gorgias, Platon und Aristoteles, die auf Konzepte der medizinischen Therapie rekurrieren, bis zur hellenistischen Emotionstheorie. Annette Weissenrieder ergänzt dazu die zwischen religiösen und medizinischen Aspekten oszillierende Sprache der Septuaginta des Hiobbuches zu Krankheit, Schmerz und Körperschäden im Horizont medizinischer Texte, insbesondere des Corpus Hippocraticum. Beate Ego folgt mit einem Beitrag zum hellenistischen Tobitbuch als Erzählung von Schmerz und Hoffnung auf Heilung, die als Schmerzdiptychon beginnt und den Leser die Heilung in Gestalt einer Bibliotherapie nachverfolgen lässt wie auch die Wiedererrichtung des schmerztragenden Jerusalemer Tempels. Christina Risch schließt den Abschnitt mit einem Beitrag zum Johannesapokryphon ab. Lennart Lehmhaus schließt im dritten Abschnitt einen Beitrag zu Seman-tik und Verständnis von Schmerz in antiker rabbinischer Literatur an. Während er einen breit gefächerten Überblick über Verknüpfungen medizinischer, rechtlicher und theologischer Aspekte von Schmerzphänomenen in Mischna und Talmud vorlegt, konzentriert sich Jonathan Schofer auf die Interpretation von Mischna Makkot 3:1–2 zu Körperstrafen wie der Geißelung, die die Möglichkeit zu Differenzierungen gerade im Sexualstrafrecht zwischen den biblischen Alternativen von Geld- und Todesstrafe ermöglichen.
Der informative Band wird durch eine Bibliographie zum Thema und die für die Reihe üblichen Register abgeschlossen.