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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

422–424

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Resonanztheologie. Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik. Bd. 2: Gott – Christus – Geist.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2020. 488 S. = Beiträge zum Verstehen der Bibel, 43. Kart. EUR 59,90. ISBN 9783643145338.

Rezensent:

Petra von Gemünden

Dieser Band ist der mittlere einer auf drei Bände angelegten Sammlung von »Beiträge[n] zu einer polyphonen Bibelhermeneutik«, der Gerd Theißens Ansatz eines wissenschaftlich verantworteten polyphonen Verstehens der Bibel (vgl. G. Theißen, Polyphones Verstehen, Berlin 2014) weiterführt: Der erste, 2019 unter dem Titel »Texttranszendenz« erschienene Band thematisiert den biblischen Text und sein Verständnis. Hier vertritt T. in Analogie zum doppelten Liebesgebot die These einer doppelten Texttranszendenz »in Richtung auf Gott und auf das Leben« (G. Theißen, Texttranszendenz, BVB 36, Münster 2019, 1). Der mittlere Band von 2020 geht einen Schritt weiter: Er entfaltet nach einer Einführung – den drei Artikeln des Apostolischen Glaubensbekenntnisses folgend – Gedanken zur Resonanztheologie. Für 2022 angekündigt ist der dritte, mit »Kirchenträume – Kirche in urchristlicher Zeit und Gegenwart« überschriebene Band.
Der hier zu besprechende Band versammelt 18 in sich geschlossene Beiträge aus den letzten 15 Jahren, die meist aus Vorträgen zu unterschiedlichen Anlässen hervorgegangen und deshalb auch in sich gerundet sind. Vier der Beiträge wurden schon in nicht-deutschen Sprachen publiziert, fünf sind Neubearbeitungen deutscher Aufsätze, die Hälfte der Beiträge ist bisher unveröffentlicht: Die Einleitung (Nr. 1), die Zusammenfassung seiner Gedanken zur Resonanztheologie (Nr. 3), das Kapitel über den Osterglauben (Nr. 13) und über den Heiligen Geist (Nr. 17) wurden eigens für das Buch geschrieben. Hinzu kommt als Anhang (Nr. 19) ein bisher unveröffentlichtes Manuskript, das auf das Jahr 1968 zurückgeht und den Titel »Kritische Theologoumena: Reflexionen über die Wahrheit der Religion« trägt. Es macht deutlich, dass die Metapher »Resonanz«, die H. Rosa 2016 mit seinem gleichnamigen Werk populär machen sollte, von T. nicht erst in dessen (anders als in studentischen Kreisen damals wenig beachteten) Büchlein »Argumente für einen kritischen Glauben« (1978), sondern schon zehn Jahre vorher als zentrale Schlüsselmetapher verwendet wurde. Der ausführlichste Beitrag (47–98), den T. für den vorzustellenden Band neu verfasste, ist nicht von ungefähr der Resonanztheologie gewidmet. Dies macht deutlich, dass sich die Resonanzmetapher trotz sich verändernder äußerer Rahmenbedingungen (vgl. dazu 9) wie ein roter Faden durch das theologische Denken von T. zieht.
So wird nach einer summarischen Einführung in das Buch (11–24) den Teilen über das Gottesverständnis (101–198), das Christusverständnis (201–375) und das Verständnis des Geistes (379–425) ein Teil zur Resonanztheologie (27–98) vorangestellt, der die konzeptionelle Basis des Werks legt. Er besteht aus einem vor Prädikanten gehaltenen, sehr persönlich gefärbten Vortrag (»Glaube als Resonanzerfahrung: k/ein Schnellkurs«) und aus einer systematisch-ausdifferenzierten Entfaltung seiner Gedanken zur Resonanztheologie, die er als »Grundriss einer Glaubenslehre« (47) versteht. Hier zeigt sich seine Meisterschaft in an-sprechender und gleichzeitig reflektiert-strukturierter Darstellung. So greift T. zum Beispiel R. Kakuschkes Gleichnis von der Alpenlandschaft auf, um die innere Resonanz des Menschen auf die ihn umgebende, ja, die ihn bestimmende letztgültige Wirklichkeit deutlich zu machen: Tief angesprochen von der unberührten, im Licht der Sonne verklärten Schneelandschaft spürt ein Skifahrer nach diesem Gleichnis die Aufforderung, dieser Schönheit durch eine besonders schöne Kurve im Schnee gerecht zu werden (30–31). Die Erfahrung der Resonanz bewegt zu antwortender Beziehungsaufnahme. Letztere ist charakteristisch für den Glauben und findet ihre intensivste Form im Gebet (34).
Wird die innere Bewegung als Reaktion auf eine »umgreifende« (K. Jaspers) Wirklichkeit gedeutet, wird sie zur religiösen Erfahrung (47). Deren kognitive, intentionale Deutung (die auf unterschiedliche Weise möglich ist, was angesichts unserer menschlichen Wahrnehmungs- und Wissensgrenzen den Pluralismus der Religionen erklärt), führt zur Resonanztheologie. Zusammenfassend definiert T. Religion als »Resonanz der Gesamtwirklichkeit im Menschen, die sich intentional auf ihren Ursprung bezieht« (47).
Über seine o. g. früheren Veröffentlichungen hinausgehend er­gänzt und erweitert T. im vorliegenden Band die akustische Metapher der »Resonanz« um die optische Metapher der »Transparenz« und die verbale Metapher des »Wortes«: Die erste beschreibt subjektive Schwingungen der Gesamtwirklichkeit im Menschen, die zweite seine Wahrnehmung einer tieferen Wirklichkeit in der begrenzten Welt. Das Wort, das auch die Vergangenheit und Zukunft zu umgreifen vermag und besonders charakteristisch für die biblische Religion (sic! 14) ist, transformiert schließlich drittens den Menschen und ruft ihn zum Handeln. Diese drei Kategorien werden im Folgendem dem existenztheologischen (1.), dem erfahrungstheologischen (2.) und dem offenbarungstheologischen Ansatz (3.) korre liert und diskutiert. Resonanz kann auch ausbleiben – die Welt schweigt dann vernunftwidrig gegenüber dem fragenden Menschen (A. Camus), eine Erfahrung von Absurdität, die das Theodizeeproblem begründet (73); oder aber (notwendig partikulare) Resonanzerfahrungen werden illusorisch verabsolutiert und stranden in der Idolatrie. Möglich ist auch, dass der Mensch den Widerspruch zwischen Absurditäts- und Resonanzerfahrung nicht als Appell, etwas zu ändern, versteht und so seine Existenz verfehlt.
Im Teil zum ersten Glaubensartikel wendet sich T. der Erkenntnis Gottes im Buch der Natur und im Buch der Bibel zu, sodann der das Selektionsprinzip überwindenden Botschaft der Schöpfung und dem unbedingten Vertrauen der Bibel angesichts von Krisen. Vom Monotheismus ausgehend fragt er weiter einerseits nach dem spezifisch christlich motivierten Umgang mit den Religionen und formuliert Regeln für den Religionsdialog, andererseits interpretiert er die neutestamentliche Verehrung Christi neben der Verehrung Gottes als einen im strengen Monotheismus begründeten Be­wältigungsversuch des Theodizeeproblems. Wenig überraschend werden die Beiträge zum zweiten Glaubensartikel am breitesten aufgefächert: Von Weihnachten bis zur Auferstehung Jesu, von historischen Fragen bis zur Christologie zeichnet der Jesusforscher ein differenziert-informiertes Bild und hat auch in diesem Zusammenhang die anderen Religionen im Blick, wenn er der Frage nachgeht, ob der Glaube an Jesus Christus die Religionen trennt oder verbindet. Besonders diskutiert werden dürfte hier T.s Kritik an der EKD-Schrift »Für uns gestorben« von 2015: Letztere zeige im Blick auf die Sühnetodvorstellung ein mangelndes hermeneutisches und ethisches Problembewusstsein und wenig Sensibilität für das den gegenwärtigen Religionsdiskurs prägende Thema Religion und Gewalt (269–289). Die beiden Aufsätze zum dritten Glaubensartikel fokussieren schließlich auf die transformative Kraft des Heiligen Geistes – in theologischer und sozialer Hinsicht und im Blick auf (besonders protestantische) Spiritualität.
Das Buch ist auch spannend, weil manches – wie z. B. die Resonanztheologie – sowohl im Blick auf kirchliche (27–46) als auch auf akademische Kreise behandelt wird (47–98). Es zeigt die Kunst angemessener Adressatenorientierung. Trotz der Gliederung nach den Glaubensartikeln bietet das Buch natürlich keine geschlossene Dogmatik, sondern in sich abgerundete Aufsätze zu einzelnen Themen. Der Versuch einer systematischen Strukturierung kann gelegentlich zu Irritationen führen: So ist das Staunen darüber, dass etwas ist und nicht nichts (170–171), systematisch-theologisch leicht nachvollziehbar, historisch aber eine relativ späte Vorstellung aus hellenistischer Zeit (so richtig zur creatio ex nihilo, 311). Gleichwohl ist gerade das Bemühen weiterführend, historisch-exegetische Erkenntnisse daraufhin zu bedenken, was heute Gültigkeit haben kann. So kann man T.s Buch als fundierten und vielfältig-kreativen Beitrag zur theologischen Hermeneutik lesen und ihm viel »Resonanz« wünschen.