Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

571–574

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Jutta

Titel/Untertitel:

Beruf: Schwester. Mutterhausdiakonie im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Frankfurt/M.-New York: Campus 1998. 278 S. 8 = Geschichte und Geschlechter, 24. Kart. DM 78,-. ISBN 3-593-35984-7.

Rezensent:

Heide-Marie Lauterer

Heutzutage spielt die Mutterhausdiakonie Kaiserswerther Prägung im Bereich der Ausbildung für sozialpflegerische Frauenberufe nur noch eine marginale Rolle. Um den Klagen der Mutterhäuser über mangelnden "Nachwuchs" auf den Grund zu gehen, versuchten in den 80er Jahren Gerta Scharffenorth u. a. mittels einer aktuellen soziologischen und theologischen Bestandsaufnahme (G. Scharffenorth u. a.: Schwestern. Leben und Arbeit Evangelischer Schwesternschaften. Offenbach 1984) die Ursachen für die geschwundene Attraktivität des Diakonissenberufes für unverheiratete Frauen zusammenzutragen. Jutta Schmidt nähert sich dieser und anderen Fragen nun in einer historisch vergleichenden Studie.

In ihrer 1994 am Diakoniewissenschaftlichen Institut Heidelberg enstandenen Dissertation, die 1998 in Karin Hausens und Gisela Bocks Reihe "Geschichte und Geschlechter", im Campus Verlag erschien, fragt Sch. nach der historischen Entwicklung von Berufsbild und Frauenbild auf der einen sowie der Verbindung von Diakonie und Frauenberuf auf der anderen Seite. Zu erklären ist nicht nur die große Anziehungskraft, die das Kaiserswerther Mutterhaus im 19. Jh. für Frauen aus klein-, mittel- und bildungsbürgerlichen Schichten bis hin zum Adel besaß, sondern auch die Frage, wann und warum die Diakonie gerade zum Arbeitsfeld für Frauen wurde. Für ihr Vorhaben konnte Sch. auf geschlechter-, theologie- und diakoniegeschichtliche Ansätze zurückgreifen, wie etwa die Aufsätze von Catherine Prelinger zu Amalie Sieveking, oder zur Anfangsphase des Kaiserswerther Mutterhauses in der ersten Hälfte des 19. Jh.s, den bereits 1966 erschienen, grundlegenden Arbeiten von Paul Philippi (Die Vorstufen des modernen Diakonissenamtes 1789-1848 als Elemente für dessen Verständnis und Kritik. Neukirchen-Vluyn 1966) sowie Heide-Marie Lauterers Studie (Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft. Der Kaiserswerther Verband Deutscher Diakonissenmutterhäuser in den ersten beiden Jahren des NS-Regimes. Göttingen 1994), deren Gehalt die Autorin verkennt, wenn sie ihn auf die Zeit des Nationalsozialismus begrenzt. (12). Sch. setzt da an, wo Philippi aufhörte, nämlich bei den "gesellschaftlich-soziologischen Elementen" der Mutterhausdiakonie. Sch. verbindet Diakoniegeschichte mit einem geschlechtergeschichtlichen Ansatz; sie grenzt sich damit zu Recht von der "traditionellen" Diakoniegeschichtsschreibung eines Hermann Schauer, Erich Beyreuther, Martin Gerhardt u. a. ab. Wenn es auch ein unbestrittenes Verdienst dieser Werke war, die Geschichte der Christlichen "Liebestätigkeit" detailliert dargestellt zu haben, so waren sie doch in Bezug auf die Darstellung der Frauenrolle in der Diakonie von Einstellungen geprägt, die heute "fragwürdig" (15) erscheinen. Sch.s Ansatz liegt die These zu Grunde, dass die Gestaltung der weiblichen Berufsarbeit in der Diakonie wesentlich von der Wahrnehmung von Geschlecht getragen wurde, die auch eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung bezüglich der gesellschaftlich notwendigen Arbeit einschließt.

Wem diese Ausführungen zur Methode zu theoretisch erscheinen, dem sei vor allem die Lektüre des ersten der insgesamt drei Teile des Buches empfohlen. Hier vergleicht die Autorin drei zeitgleiche, in der ersten Hälfte des 19. Jh.s entstandene Konzepte weiblicher Berufsarbeit in der (evangelischen) Diakonie: Es ist dies Amalie Sievekings Konzeption einer "Barmherzigen Schwesterschaft" in Hamburg, Franz Härters Diakonissenmutterhaus in Straßburg sowie Theodor und Friederike Fliedners Konzept des Kaiserswerther Diakonissenmutterhauses. Die Frage, warum sich gerade die Kaiserswerther Gründung modellhaft durchzusetzen vermochte, bringt die spezifischen Eigenarten dieser drei Entwürfe zum Vorschein. Ohne auf die detaillierten Darstellungen Sch.s im Einzelnen eingehen zu können, seien hier nur die Hauptlinien aufgezeigt. Die Hamburger Bürgerin Amalie Sieveking wollte, beeinflusst von der Erweckungsbewegung, mit der Gründung einer Schwesternschaft für sich und andere Frauen Teilhabe an Bildung und Arbeit am Reich Gottes schaffen. In ihrem Entwurf verbanden sich mystisch-schwärmerische Elemente mit sozialem Engagement vor allem in der Krankenpflege (53).

Amalie Sieveking ging es vor allem um das gemeinsame Leben von Frauen ihrer eigenen Gesellschaftsschicht, die nicht oder nicht mehr verheiratet waren und keine familiären Pflichten zu erfüllen hatten. Diesen Frauen, die "durch tausend lästige Conventionen" an einer erfüllenden Berufstätigkeit gehindert wurden, wollte sie mit der Institution Schwesternschaft helfen, die von der Gesellschaft errichteten Grenzen zu umgehen. Dabei dachte sie jedoch nie daran, die Zahl der Schwestern übermäßig auszudehnen oder etwa deren Karitativen Dienste flächendeckend einzusetzen. Hier dachte Theodor Fliedner ganz anders. Ihm ging es vor allem um Bedarfsdeckung, Effizienz und Expansion seiner von Frauen geleisteten Dienste. Im Gegensatz zu Sieveking ging es ihm um die Behebung gesellschaftlicher Notstände, aber nicht um die Selbstverwirklichung von unverheirateten Frauen in einer religiös gebundenen Lebensgemeinschaft (111). Fliedners Mutterhausgründungen wurden darüber hinaus motiviert von den als Konkurrenz wahrgenommenen katholischen Schwesternschaften, die sich in der Krankenpflege profilierten. Als Vorsteher des Kaiserswerther Mutterhauses glich Fliedner meiner Ansicht nach eher einem patriarchalisch-kapitalistischen Unternehmer im Dienstleistungssektor als einem Seelsorger. Während Sievekings Konzeption Raum für die Mitbestimmung der Schwestern ließ - ob dies "demokratisch" zu nennen ist, scheint mir fraglich - folgte Fliedners Konzept von Anfang an einer "sehr autoritären und patriarchalen Ordnung" (111).

Zwischen Sievekings frauenzentrierten und Fliedners patriarchalisch und - wie ich finde - an kapitalistischen Effizienzkriterien orientiertem Ansatz steht das Konzept Franz Härters, das Sch. in kritischer Auseinandersetzung mit der älteren Diakoniegeschichte herausarbeitet. Wie Fliedner war Härter ein guter Organisator, der jedoch im Gegensatz zu ihm auf einen Teil seiner Autorität verzichtete und sich in seinem Straßburger Mutterhaus als Seelsorger verstand, dem keine Vetorechte zustanden. Die Schwestergemeinschaft, die aus alleinstehenden Frauen zwischen 17 und 40 Jahren bestand, wurde von Frauen geführt; die Oberschwester wurde alle drei Jahre von allen Diakonissen gewählt.

Um die Frage zu beantworten, warum gerade die Kaiserswerther Konzeption, gemessen an der Schwesternzahl, den Filialgründungen sowie der geleisteten Dienste, als erfolgreichste unter den drei Entwürfen abschnitt, betrachtet Sch. das Kaiserswerther Modell in der Praxis, indem sie es einer sozialgeschichtlichen Analyse unterzieht. Statistiken belegen den stetig wachsenden Schwesternbestand seit 1850 (119), und werfen die Frage nach der sozialen Stellung und der Motivation dieser Frauen auf. Mit Hilfe des erstmalig systematisch ausgewerteten biographischen Quellenmaterials im Kaiserswerther Archiv, bestehend aus den Lebensläufen, die die Bewerberinnen zur Aufnahme anfertigen mussten, sowie dem Dienstbuch, das die Personalakten der Schwestern enthält, gelingt es Sch., das Sozialprofil der Kaiserswerther Schwesternschaft zu erhärten.

Die Analyse zeigt, dass der Schwerpunkt der Rekrutierung faktisch bei den Mittelstandstöchtern lag. Bei den meisten Frauen war die geforderte christliche Grundmotivation für den Eintritt entscheidend. Hinzu traten soziale Gründe sowie spezifische Arbeitsziele. Kaiserswerth wurde dabei als Ausbildungsstätte und Versorgungsinstanz wahrgenommen, während der Aspekt der Lebensgemeinschaft von Schwestern marginal blieb. Das Kaiserswerther Modell, so Sch., habe im Vergleich mit beiden Alternativkonzepten, den "größten gesellschaftlichen Nutzen" geboten. Kaiserswerth war ein Ort des Übergangs, in dem sich ständische und moderne Elemente in spezifischer Weise mischten. Das hier ausgebildete Berufsbild für sozialpflegerische Berufe wirkte in den nichtkirchlichen Bereich hinein und trug zu der Entstehung einer geschlechtsspezifischen Berufsform bei, deren strukturell angelegten Ungleichheit gegenüber Berufen, die Männern vorbehalten waren, heute noch zu einer Schlechterbewertung dieser vorwiegend von Frauen ausgefüllten Berufe beiträgt.

"Beruf: Schwester" ist ein gut lesbares Buch, das Thesen aus der Forschung aufgreift und an einem reichhaltigen Quellenmaterial kritisch überprüft. Interessant ist nicht nur der Vergleich dreier Diakonie-Konzepte, sondern auch der Vergleich der Kaiserswerther Konzeption an der Praxis des Mutterhauses. Störend wirken jedoch die vielen Druckfehler und Inkonsequenzen in der Schreibweise, die sich in der Literaturliste häufen; doch dies ist sicher nicht der Autorin allein anzulasten.