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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

569–571

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmid, Peter F.

Titel/Untertitel:

Im Anfang ist Gemeinschaft. Personzentrierte Gruppenarbeit in Seelsorge und Praktischer Theologie. Beitrag zu einer Theologie der Gruppe.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 1998. 223 S. gr. 8. Kart. DM 39,80. ISBN 3-17-015462-1.

Rezensent:

Dietrich Stollberg

Es handelt sich um Bd. 3 des umfangreichen Gesamtwerks zur personzentrierten Gruppenarbeit, wie sie der österreichische katholische Pastoraltheologe P. F. Schmid konzipiert hat. Er konstatiert "einen Hunger nach etwas, das der Mensch weder in seiner Arbeitswelt noch in der Familie oder seiner Kirche findet": vertrauenswürdige, liebevolle und tragende Gemeinschaft mit Gott und den Menschen. Er möchte, ausgehend von Erfahrungen in und mit Gruppen, eine Gotteslehre entwerfen, die "Gott als Gruppe", den trinitarischen Gott als Koinonia, beschreibt und bekennt, um von daher "Kirche als Sakrament der Trinität" und "Communio als Grundprinzip des kirchlichen Lebens und der kirchlichen Strukturen" zu verstehen. Das impliziert Kritik festgefahrener hierarchischer Strukturen, dogmatischer Deduktionen und formalistisch-juridischer Einstellungen. In der Spannung von "Solidarität und Autonomie", Zugehörigkeit und Selbständigkeit, Dienst und Kreativität soll die Kirche und sollen ihre einzelnen Glieder den Weg gehen, den Jesus ihnen vorangegangen ist.

Das wird in acht Kapiteln - manchmal etwas redundant - entfaltet: Gott ist Gemeinschaft, ein soziales Verständnis der Trinität; der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen, Konsequenzen für die Anthropologie; Kirche ist Communio, Koinonia als Grundprinzip der Ekklesiologie; Gemeinde ist die Sozialgestalt der Kirche, Ekklesia als Versammlung der Glaubenden; Gruppe als gelebte Koinonia, der Stellenwert der Gruppe in der Kirche; die Gruppe ist Lernort des Glaubens, Solidarität und Autonomie in theologischer Sicht; die Begegnungsgruppe ist Ort der Gottesbegegnung, praktisch-theologische Perspektiven zur Gruppe; die Praktische Theologie als Theorie aus und in koinonischer Praxis, die Gruppe ist auch Lernort der Reflexion des Glaubens.

Der Vf. möchte die theologischen und politischen Implikationen der seelsorgerischen und therapeutischen Gruppenarbeit deutlich machen, zieht dazu - manchmal etwas defensiv - unendlich viele Belegstellen aus der theologischen Literatur, immer wieder auch aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, besonders L. Boffs, heran und plädiert für eine sich in Gruppen verwirklichende Gemeindekirche.

Das Verdienst des Vf.s, Gruppenarbeit entgegen dem Trend weiterhin kritisch im theologischen Diskurs zu halten, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Nach dreißig Jahren pastoralpsychologischer Arbeit auf dem Kontinent ist Gruppendynamik zwar gelegentlich in aller Pastoren Munde, aber weit entfernt davon, auch nur einigermaßen verstanden oder gar praktisch umgesetzt zu werden. Das gilt für die Seelsorge ebenso wie für die zahllosen Sitzungen und Tagungen, die so dilettantisch organisiert und geleitet werden wie eh und je. Des Vf.s Gesamtwerk wäre daher breite Rezeption zu wünschen.

Einige kritische Anmerkungen im Folgenden seien daher als Ausdruck "autonomer Solidarität" und als Unterstützung des sehr berechtigten Anliegens des Autors verstanden. So denke ich z. B., des Vf.s theologisches Anliegen käme noch überzeugender zur Geltung, wenn statt der Fülle von Zitaten praktische Beispiele aus der Gruppenarbeit veranschaulichten, wie Menschen in Gruppen heute jene Erfahrungen machen und zur Sprache bringen, die in der theologischen Tradition formuliert wurden bzw. zu Formeln geronnen sind. Ich gebe zu, das ist sehr schwierig und unter der hierarchischen Gesinnungsdiktatur, die immer wieder innerkirchliche Apologetik hervorrufen muss, schwer zu realisieren. Mehr Konkretion wäre nicht nur für jenes soziale Gottesbild, an dem dem Autor so viel liegt, sondern auch für das Konzept von Gemeindekirche zu wünschen gewesen, das man z. B. mit Bernhard Honsels "Der rote Punkt" (Düsseldorf 1983) hätte veranschaulichen können. Denn gerade beim Thema "Gemeindekirche" ist nicht leicht zu entscheiden, wo die Schwärmerei beginnt und was unter europäischen Bedingungen derzeit als realistisch einzustufen ist (vgl. Manfred Josuttis, "Unsere Volkskirche" und die Gemeinde der Heiligen, Gütersloh 1997). In diesem Zusammenhang wird man auch fragen dürfen, inwieweit speziell die christliche Kirche altruistisch-diakonische Gemeinschaft sein soll. Nächstenliebe und Altruismus sind im Zeitalter des kapitalistischen Narzißmus und einseitiger subjekttheoretischer Ansätze in der Praktischen Theologie zwar durchaus zu betonende gesellschaftliche Notwendigkeiten, aber keine spezifisch christlichen, sondern schlicht humanistisch und vernünftig; sie gehören nach Martin Luther auf die Seite des schöpfungstheologisch verstandenen "Gesetzes", nicht des "Evangeliums" (das erst dort greift, wo Vernunft und soziale Notwendigkeit scheitern bzw. unerfüllt bleiben).

Das Proprium jeder Religion ist, dass sie primär als Anbetungsgemeinschaft existiert. Die vom Vf. gelegentlich angesprochene eschatologische Dimension wäre bei solch starker Hoffnung auf "die Gruppe als Erfahrungshorizont der Koinonia und als ,Sakrament der Trinität’" (hier steht nicht zuletzt das psychoanalytische Konzept der Triangulierung im Hintergrund) vielleicht noch stärker zu betonen, um mit der Enttäuschung angesichts der Kurzlebigkeit intensiver Gruppenerfahrungen und der Frustration realer Kirchengemeinden zurechtzukommen. Vermutlich würde diesbezüglich auch eine stärkere Akzentuierung von Krise und Konflikt, Auseinandersetzung, Streit und Neid, Missgunst, Habgier, Geiz usw. gegenüber der allzu starken Betonung der Gruppe als Ort von Harmonie, Verständigung und Liebe weiterführen.

Das hätte Konsequenzen für das Gottesbild des Vf.s: dass nämlich "das Böse" auf nicht-dualistische Weise mit hineingenommen werden müsste. Gerade bei der Gruppenarbeit geht es doch um einen Zuwachs an Realitätssinn. Ich verspreche mir deshalb auch nicht so viel von einem Plädoyer für einen Gottesdienst, an dessen Gestaltung die Gemeindeglieder aktiver beteiligt werden sollten. Der Gottesdienst als gemeinsames Gebet unterliegt in einer dynamischen Kleingruppe mit ihrer eigenen Geschichte und in einer ganz konkreten einmaligen Situation anderen Gesetzmäßigkeiten als unter den Bedingungen einer volkskirchlichen Sonntagsgemeinde. Hier bedarf es auch der soziologischen Perspektive und der klaren Unterscheidung von Gesetzmäßigkeiten, denen Großgruppen unterliegen, und Kleingruppenprozessen.

Analog wäre zwischen quasi privater Diakonie im Sinne gegenseitiger Hilfeleistung einander persönlich verbundener Gruppenmitglieder und öffentlich institutionalisierter Sozialarbeit bzw. karitativer Hilfeleistung großen Stils genauer zu differenzieren. Übrigens scheint mir "Verantwortung" keineswegs "gleichbedeutend mit Diakonie" (95) zu sein, und eine Kirche für andere (frei nach D. Bonhoeffer) wird rasch hohl, lebt sie nicht aus einer liturgischen Mitte, in der es zunächst einmal nicht um andere geht, es sei denn dieser andere wäre Gott selbst.

So regt dieses Buch zu mancherlei Fragen und Hypothesen an, bringt die soziale Dimension der Kirche unter dem spezifischen Aspekt der Gruppe erneut und neu ins Gespräch und erweist sich als äußerst diskussionswürdig. Man sollte es fleißig diskutieren und - man sollte vor allem reflektierte Gruppenarbeit in der Kirche praktisch betreiben.

Auf einen Irrtum sei für die Korrektur in der 2. Auflage hingewiesen: A.T. Boisen hat das CPT zunächst nicht als praktisches Training für die Seelsorge konzipiert, sondern als empirische Quelle neuer theologischer Einsichten (118).

Fussnoten:

Literaturhinweise: Arnd Hollweg, Theologie und Empirie, Stuttgart (Evang. Verlagswerk) 1971. Bernhard Honsel, Der rote Punkt. Eine Gemeinde unterwegs. Düsseldorf (Patmos) 1983. Manfred Josuttis, ,Unsere Volkskirche’ und die Gemeinde der Heiligen, Gütersloh (Kaiser) 1997. Matthias Kroeger, Themenzentrierte Seelsorge, Stuttgart (Kohlhammer) 31983. Karl Josef Ludwig [Hrsg.], Im Ursprung ist Beziehung, Mainz (Grünewald) 1997. Klaus Volker Schütz, Gruppenarbeit in der Kirche, Mainz (Grünewald) 1989. Hermann Steinkamp, Gruppendynamik und Demokratisierung, Mainz (Grünewald) 1973. Dietrich Stollberg, Seelsorge durch die Gruppe, Göttingen (V&R) 31975.