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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

565–567

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herbst, Hans R.

Titel/Untertitel:

Behinderte Menschen in Kirche und Gesellschaft.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 1999. 351 S. gr.8. Kart. DM 59,-. ISBN 3-17-15405-2.

Rezensent:

Anne M. Steinmeier

Im Kontext gesetzgeberischer Maßnahmen zum Schutz und zur Integration behinderter Menschen stellt der Vf. folgende These an den Anfang seines Buches: "Wenn es in unserer Gesellschaft eine Aufgabe ist, Behinderte zu integrieren, dann muß es logischerweise auch Ordnungs- und Wertesysteme im Kontext zu unserer Gesellschaft geben, wodurch behinderte Menschen als gesellschaftliche Randgruppe bzw. Außenseiter benannt und eingeordnet worden sind" (17). Wo aber ein Teil der Menschen "nur unzureichend an der Sinnordnung der Gesellschaft teil-[hat]" (ebd.), stellt sich grundlegend die Frage einer unterschiedlichen Wertung von Würde und des Verhältnisses der Menschen zueinander. Der Versuch einer Begriffsbestimmung veranschaulicht das Problem eines vielschichtigen "Interdependenz-Verhältnis[ses]" "zwischen dem behinderten Individuum und seiner Gesellschaft" (22): Behinderung ist ein "relativer Tatbestand" (ebd.), den Herbst mit Rivers (M. Rivers: Rehabilitation Code, New York, o. J.) im Rahmen eines Bezeichnungskomplexes von Schädigung (impairment), Behinderung (disability) und Benachteiligung (handicap) begreift. Schädigung bezeichnet dabei den funktionalen, Behinderung den relativ-sozialdynamischen und Benachteiligung den konstruktiv-psychodynamischen Aspekt des Begriffs (vgl. ebd.).

Der Versuch, unter weiteren sprachlichen und vor allem juristischen Gesichtspunkten den Begriff zu untersuchen, macht die Problemlage deutlich: In sich vielschichtig und nicht eindeutig geklärt, verstärkt er in konkreter Aktion die Außenseiterposition der Betroffenen und trägt zu stigmatisierenden Zuschreibungen bei. Das ist umso einschneidender, als ohnehin emotionale Abscheu und Unkenntnis eine soziale Distanz gegenüber behinderten Menschen aufbauen, die durch die dominierenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen wie Gesundheit, Erfolg, Stärke, Handlungsfähigkeit (vgl. 45) fundiert wird. Von daher fragt H.: Sind derartige Wertvorstellungen "schon immer vorhanden gewesen oder gibt es im Kontext zur biblischen Überlieferungstradition auch anders gelagerte Einstellungsmerkmale und Phänomene?" (47)

Eng verknüpft mit dieser Fragestellung stellt er sich die Aufgabe einer theologischen Auseinandersetzung und Deutung mit dem Phänomen Behinderung. Methodisch führt das den Vf. in eine durch genaue Einzelstudien gegliederte Untersuchung alt- und neutestamentlicher Einsichten und Aussagen zur Behindertenproblematik. In Bezug auf das gesamte AT lässt sich unter Berücksichtigung der Schädigungs- und Krankheitsaussagen das Menschenbild nur als gespaltenes beschreiben: Auf der Grundlage der Imago-Dei-Lehre und der ihr konsequenten ästhetischen Betrachtungsweise ist der Mensch gemäß dem Bilde Gottes schön und trägt der schöne Mensch "qua ästhetischer Erscheinung ein Symbol der jahwistischen Glaubensgemeinschaft an sich" (137 f.). Schönheit gilt also als Symbol für die Zuneigung Jahwes. Darum wird im AT nur mangelhaft über Menschen gesprochen, die dem Ideal nicht entsprechen, seien sie blind, lahm, unfruchtbar oder durch andere Schädigungen als Außenseiter stigmatisiert (vgl. 138). Erst das NT bringt im Auftreten Jesu diesen vernachlässigten Menschen eine andere Gesinnung entgegen. Was H. hier wiederum in genauen Einzeluntersuchungen erarbeitet, kulminiert in folgender, für die Gesamtperspektive des Buches wegweisender Aussage: Kennzeichen der Sozialität Jesu ist die Annahme des Andersartigen. Das christliche Ethos ,Liebe Deinen Nächsten’ eröffnet nicht nur Selbsterfahrung und Erfahrung des Mitmenschen. In der Begegnung findet vielmehr eine "Ergänzung des eigenen Person-Seins statt" (205). Über alle sozio-kulturellen Schranken hinweg findet in der zwischenmenschlichen Beziehung ohne Vorbedingung die Annahme des Anderen als Anderen statt: Begegnung ist also in sich Vollzug der Habilitation, es bedarf aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung keinerlei zusätzlichen Rehabilitation mehr (vgl. 205 f.).

Es folgt ein Gang durch die weitere Geschichte. Der Durchgang durch die Zeiten aber zeigt: Verhalten und Einstellung gegenüber Geschädigten und Kranken haben sich nicht grundsätzlich verändert. Vor und nach der Reformation gibt es Zurückweisung und bis zur Tötung reichende Ablehnung, Ausbeutung bis hin zu Sklavenarbeit und Prostitution, aber auch Mitleid, das sich zu Leidensverklärung und Selbstkasteiung verführen lässt, und zwischenmenschliche Solidarität bis hin zu Partnerschaft und frühen Formen autonomen Lebens lassen sich finden (vgl. 269). Der Vf. nimmt Bezug auf sozialwissenschaftliche Studien, die für den geschichtlichen Verlauf der Einstellungen geschädigten Menschen gegenüber vor allem ablehnendes sowie mitleidsbetontes Verhalten als typisch belegen (270; G. W. Jansen [Hrsg.]: Sozialwissenschaftliche Aspekte der Rehabilitation, Rheinstetten 1977, 85). Kennzeichnend ist die unveränderte Perspektive von Behinderung als Prototyp der Anomalität. Denn wohl hat die kognitive Einstellung sich verändert, nicht aber oder nur kaum die affektive und aktionale Komponente. H. verdeutlicht dies vor allem am Durchbruch längst vergessen geglaubter Emotionen und Verhaltensweisen, wie sie in der nationalsozialistischen Vernichtung "lebensunwerten Lebens" (257) offenbar werden. Allein die kognitive Komponente hat dazu beigetragen, Geschädigte "mit zu tragen" (270). Das aber bedeutet noch längst nicht Akzeptanz und Integration der Andersartigkeit eines Anderen im Horizont von Begegnung. Begründet ist dies in der sozio-kulturellen Wertorientierung an der Gesundheit (vgl. 270 f.).

Hohes Interesse verdient die Folgerung des Vf.s aus den Befunden der Sozialwissenschaften: Wenn - und davon geht er aus - diese zutreffen, "dann muß sich die ,wertexpressive Funktion’ der Einstellung gegenüber Geschädigten und Kranken nicht zuletzt im religiösen und theologischen Raum fixieren lassen, zumal christliche Religion und Theologie in unserem Kulturkreis als prägende Sozialisationsfaktoren angesehen werden" (271). "Vor diesem Hintergrund" ergibt sich für den Vf. "ein Befund für die Wirkungsgeschichte des christlichen Glaubens, wonach die Denkkategorie von der sündenvertilgenden Kraft der Almosen und Schenkungen bis in die heutige Zeit praktiziert wird" (ebd.). Im Anschluss an Küng (H. Küng: Was ist Kirche?, Gütersloh 1980)erklärt der Vf., dass mit Methoden des "geistlichen Imperialismus" die Entwicklung des Hospital- und Anstaltswesens vorangetrieben worden sei, was nichts anderes als "ein kirchliches Apartheitssystem zwischen Gesunden und Kranken, Nichtbehinderten und Behinderten" (271) bedeutete. Damit ist aber das Schicksal der behinderten Menschen nicht bewältigt worden, obwohl das Evangelium dazu den Boden bereitet hat.

Das letzte Kapitel des Buches ist der Versuch, theologisch die Lösungs- und Versorgungsansätze zur Behindertenproblematik, die längst von Expertenseite als unzulänglich gewertet werden, zu überwinden (vgl. 273). Christlicher Glaube muss, nach H., konsequent "daran mitwirken, inhumane Denkvorstellungen nicht nur anzuprangern, sondern darüber hinaus um des Menschen willen an der Schaffung menschengerechter Lebensverhältnisse adäquat mitzuarbeiten" (279). In der kritischen Sichtung von Theologie und gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten stößt er aber "auf ein von Unsicherheiten geprägtes Bild von geschädigten und kranken Menschen ..., das insbesondere im theologischen Bereich von Defiziten geprägt ist" (291). Eigene Stimmen behinderter Menschen sind in den letzten Jahren mit Ulrich Bach, Jürgen Knopp, Eva Bohne und Esther Bollag verlautbar geworden (vgl. 304). Deren Beiträge gehen aus von einem christlichen Menschenbild, das "menschliches Leben ob mit oder ohne Schädigung von Gott geliebt und gewollt" (ebd.) weiß und es darum als eines "von einzigartiger Würde" (ebd.) achtet.

In Bezug auf den kirchlich-diakonischen Bereich stellt sich für den Vf. durchgehend die Frage, warum "staatliche Normen mit großer Selbstverständlichkeit im kirchlichen Bereich übernommen worden" (ebd.) sind. So steht z. B. der normative Begriff ,Rehabilitation’ "im Gegensatz zum Verständnis vom christlichen Menschenbild. Schließlich hat Jesus den Menschen habilitiert und nicht rehabilitiert." (ebd.) Was der Kirche, nach H., fehlt, ist die Begegnung mit der Andersartigkeit. Durch eine Seelsorge oder Diakonie bloß "an" Behinderten und durch Fürsorge-Maßnahmen und -Anstalten aber wird diese verhindert. In Konsequenz des schöpfungstheologisch grundgelegten und von Jesus radikalisierten Gedankens der Gleichwertigkeit des Menschen kommt es dem Vf. "darauf an, daß ein dynamisches Verständnis einer korrelativen Andersartigkeit entsteht. Die gleiche Personwürde von behinderten und nichtbehinderten Menschen verlangt Respekt und adäquate Verwirklichung im privaten, staatlichen und kirchlichen Leben" (305). Die Zukunftsverantwortung von Theologie und Kirche wird im Blick auf die Verwirklichung eines sozialen Europas verortet. Der Bratislava-Erklärung von 1994 schreibt der Vf. wegweisende Bedeutung zu (vgl. 308).