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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

564 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Klaus u. Detlef Pollack

Titel/Untertitel:

Gegen den Strom. Kircheneintritte in Ostdeutschland nach der Wende.

Verlag:

Opladen: Leske u. Budrich 1998. 204 S. 8 = Veröffentlichungen der Sektion "Religionssoziologie" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 2. Kart. DM 44,-. ISBN 3-8100-2018-4.

Rezensent:

Karl-Fritz Daiber

Seit Jahren schon ist in Westdeutschland das Phänomen des Kirchenaustritts Gegenstand kirchen- und religionssoziologischer Forschung. Überraschend ist, dass bislang die Kircheneintritte weitgehend unbeachtet geblieben sind. Die Untersuchung von Hartmann und Pollack betritt von daher gesehen Neuland, dies umso mehr, als sie sich mit der Situation in Ostdeutschland beschäftigt, wo die empirische Erforschung der kirchlichen Situation zur Zeit der DDR nur in Ansätzen erfolgen konnte.

Das in der Studie bearbeitete Forschungsfeld ist in mehrfacher Hinsicht begrenzt. Es geht um Eintritte in evangelische Landeskirchen, genauer noch um Eintritte in die sächsische Landeskirche in Stadt und Land Leipzig. Den zeitlichen Rahmen bilden die Jahre zwischen 1989 und 1995. Die mit guten Gründen gewählte qualitative Erhebungsmethode (zwanzig halbstandardisierte Tiefeninterviews, von denen sechs ausführlich vorgestellt und interpretiert werden) erlaubt keine repräsentativen Aussagen. Die Vff. sprechen deshalb zu Recht von einer explorativen Studie. Gleichwohl stellen ihre Ergebnisse fundierte Hypothesen dar, die in den Grundtendenzen in repräsentativen Studien mit hoher Wahrscheinlichkeit bestätigt werden könnten. Die angewandte Interpretationsmethodik erfolgt bewährten Mustern. Überprüfungsbedürftig sind allerdings die "Typen der Religiosität", die im Rahmen der fallübergreifenden Überlegungen gebildet wurden.

Ein statistischer Überblick über Kircheneintritte und Kirchenaustritte in Leipzig ist vorangestellt. Hier wird instruktives kirchenstatistisches Material aufbereitet. Deutlich wird u. a., dass Eintritte im Jahre 1989 besonders stark erfolgten, allerdings ohne dass sie die Austritte hätten ausgleichen können. Ab 1990 überwogen die letzteren deutlich.

Im Rahmen der Interpretation der Interviews werden vor allem drei Fragerichtungen verfolgt: Einmal geht es um den Einfluss der Wende von 1989/90, zum anderen um die lebensgeschichtlichen Bezüge zu Religion und Kirche in der Zeit der DDR und schließlich um die jeweilige gegenwärtige kirchliche Bindung und religiöse Praxis. Auf diese Weise wollen die Autoren den Einfluss gesellschaftlicher Faktoren und individueller Sinnbezüge auf den Kircheneintritt, als Wiedereintritt bzw. durch die Taufe vollzogenen Neueintritt verstanden, feststellen.

Dass der gesellschaftliche Kontext der Wende von hohem Einfluss ist, deuten schon die statistischen Werte an. Die Interviews bestätigen dies, zeigen aber zugleich eine große Bandbreite der lebensgeschichtlichen Verankerung. Die Dauerhaftigkeit der eingegangenen Kirchenbindung ist ebenfalls außerordentlich unterschiedlich. Der Kircheneintritt bedeutet nicht automatisch die Entscheidung für ein hohes Engagement in der jeweiligen Ortsgemeinde. Überhaupt bilden Glaubensfragen in der Regel nicht die Primärmotivation. Sie spielen zwar auch eine Rolle, wichtiger sind Kontakte im sozialen Umfeld und andere individuelle Bedürfnislagen, die zu einer Annäherung an die Kirche führen.

Auffallend ist, dass von den Befragten ihre Entscheidung für die Kirche in besonders hohem Maße als eine innere Konsequenz interpretiert wird, die biographisch schon seit längerem angelegt war. Hartmann und Pollack sprechen hier von einer beobachteten "Konsistenzherstellung" (177-183).

Spätestens an dieser Stelle macht sich bemerkbar, dass die Autoren im Blick auf interpretationseröffnende Theoriebildungen sehr zurückhaltend sind. Der Rückgriff auf Konversionstheorien hätte das Phänomen der "Konsistenzherstellung" noch deutlicher in seiner Besonderheit erschlossen: Der Kircheneintritt ist offensichtlich keine Konversion, keine religiös symbolisierte Lebenswende, die als Bruch erfahren wird. Damit deutet sich eine Problematik an, die auf die soziale Gestalt der Kirche zurückweist, in die man eintritt oder nicht eintritt: Diese Kirche ist keine Kirche des Freiwilligkeitstyps mit einem relativ einheitlichen Glaubensverständnis, sie ist vielmehr eine Kirche, in der sich unterschiedliche Lebensentwürfe leben lassen und in der vielfältige Erfahrungen, von der Wärme der Gemeinschaft bis zur Faszination durch ästhetische Ausdrucksformen in Kirchenmusik und Sakralarchitektur, möglich werden. - Die Ergebnisse von H. und P. wären in der westdeutschen Situation nicht überraschend. Überraschend sind sie für Ostdeutschland, weil es sich dort um eine geschrumpfte Kirche handelt, eine Kirche der kleineren Zahl. Es könnte ja dort ganz anders sein, dass der Kircheneintritt tatsächlich einen Bruch bedeutet, eine Lebenswende. Dann könnte man wirklich davon sprechen, dass er einem Schwimmen "gegen den Strom" vergleichbar ist.