Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

561–563

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stölting, Ulrike

Titel/Untertitel:

Zwischen Tradition und Moderne. Eine Analyse der Theologie Dietrich Bonhoeffers unter besonderer Berücksichtigung seiner Christologie.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1998. XIV, 423 S. 8 = Saarbrücker Theologische Forschungen, 6. Kart. DM 98,-. ISBN 3-631-33334-X.

Rezensent:

Christian Gremmels

Für eine Promotionsschrift eher ungewöhnlich, nimmt die von Ulrike Stölting vorgelegte Arbeit für sich in Anspruch, Versuch einer systematisch orientierten Gesamtdarstellung der Theologie Dietrich Bonhoeffers zu sein. Gegenstand ist Bonhoeffers gesamtes literarisches Werk - angefangen bei den studentischen Seminararbeiten über Vorträge, wissenschaftliche und meditative Schriften bis hin zu den späten Briefen und Aufzeichnungen aus der Tegeler Haft.

Die Darstellungsperspektive, durch die das Gesamtwerk erschlossen wird, fällt mit einer in der Bonhoeffer-Forschung vielverhandelten Frage zusammen - es ist die Bonhoeffers theologische Entwicklung thematisierende Frage nach dem Verhältnis von "Kontinuität" und "Diskontinuität", zu der "in der Forschung überwiegend noch die Meinung vertreten (wird), daß sich im Ganzen eine genuine Kontinuität und Geschlossenheit erkennen lasse." (19). Die Vfn. zeigt sich angesichts dieses Befundes wenig überrascht: "Zu diesem Ergebnis kommt man unweigerlich, wenn man sich hermeneutisch an Bonhoeffer angleicht." Zur Erläuterung dieses Angleichungs-Vorbehalts wird auf K.-M. Kodalle verwiesen, der der Herausforderung durch Bonhoeffer die Forderung entnahm, die Differenzen zu Bonhoeffer "nicht vorschnell zuzuschütten." (19 f.; mit Verweis auf K.-M. Kodalle, Dietrich Bonhoeffer. Zur Kritik seiner Theologie, Gütersloh 1991, 10 f.) Das auch von der Vfn. für ihre Untersuchung in Anspruch genommene Differenzbewusstsein hat seine methodologische Entsprechung darin, dass - statt der Frage nach der Kontinuität der theologischen Entwicklung- nunmehr ihre Kohärenz in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wird: "... ,innere Konhärenz’ meint ... eine Theorie-Praxis-Korrelation, in der gewonnenes Erfahrungswissen im Blick auf die eigene Theorie überprüft wird und in sie eingeht. Das schließt aber auch den Versuch ein, den eigenen Standort zu begründen bzw. kritisch zu hinterfragen." Das im Licht dieser Interpretationsperspektive gewonnene Ergebnis lautet sodann: "Bei Bonhoeffer läßt sich ein jeweiliger Zugewinn an Erfahrungswissen, auch eine Modifikation des eigenen Erfahrungswissens, jedoch keine Überprüfung hinsichtlich der zugrundeliegenden Theorie aufzeigen. ... Die Erfahrung verändert nicht die Strukturen seiner Theologie; sie modifiziert nur das Bezugsfeld, in dem dieselben Prämissen je neu zur Geltung gebracht werden" (20 f.). Mit anderen Worten: Dietrich Bonhoeffer "erweist sich als ein Mann zwischen Tradition und Moderne, der letztere ,seismographisch’ registriert, aber ihre Anforderungen von der selbst nicht hinterfragten Tradition her zu beantworten sucht" (32). Darauf wird zurückzukommen sein.

Zunächst jedoch zum Aufbau der Arbeit. Nach einem Eröffnungskapitel über die theologischen Grundentscheidungen in der Auseinandersetzung mit A. von Harnack und K. Barth entfaltet die Vfn. ihr Material in vier Ausschnitten, die chronologisch den Hauptgruppen der Veröffentlichungen Bonhoeffers Rechnung tragen. Bei der Darstellung werden durchgängig zwei Gesichtspunkte berücksichtigt: Während Vorüberlegungen die "Bedeutung der Arbeit" und "ihre Wirkungsgeschichte" erörtern, fragen die Hauptüberlegungen nach der jeweils leitenden theologischen und christologischen Konzeption. Dabei nimmt Bonhoeffers "Christologie-Vorlesung" aus dem Sommersemester 1933 die zentrale Stellung ein: "Christologie als Kernstück der Theologie"; das gilt im Blick auf den Umfang (213-272) ebenso wie hinsichtlich der Entfaltung jener "Kohärenzforderung", die am Beispiel dieser Vorlesung ein erstes Mal überprüft wird. Die Analysen zur theologischen Denkstruktur Bonhoeffers laufen dabei auf ein im Grunde sehr "einfaches" Ergebnis hinaus (nota bene: Die "Einfachheit" von Ergebnissen wird hier nicht als Argument gegen die Ergebnisse verwandt): Kennzeichnend ist der "positivistische" Ansatz, dem Bonhoeffer "während seines ganzen Lebens treu (bleibt)" (31); "positivistisch" (vgl. zu diesem Stichwort auch 68 f., 82, 125, 174 u.ö.) deswegen, weil für Bonhoeffer gilt: Die "Gegenstände" der Theologie (Gott, Offenbarung in Jesus Christus) "sind einfach gesetzt, ganz im Sinne Karl Barths" (60). Die Härte dieses Gegeben- und Gesetztseins wird durch nichts gemildert; zwar kann Bonhoeffer "durchaus - uneingestanden - geistesgeschichtliche, soziologische oder politische Erwägungen in seine Theologie (einbeziehen), aber diese heben den thetischen Ausgangspunkt von der Offenbarung in Jesus Christus nicht auf" (31). Damit verbunden ist bei Bonhoeffer "das Fehlen jeglicher Reflexion einer zureichenden Begründung der christologischen Topoi" (109), aber auch der dogmatischen: "Die Zahl der Sakramente", so heißt es beispielsweise in der "Christologie-Vorlesung" von 1933, "... bleibt durch nichts weiter begründet als durch [die] Einsetzung des erhöhten Herrn, d. h. in diesem Sinn rein positivistisch. [Sie] stehen nicht als Symbol für anderes, sondern sie sind Wort Gottes." (Vfn. zit. 236 nach der 1981 erschienenen Ausgabe; siehe jetzt: Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 12, hrsg. v. C. Nicolaisen und E.-A. Scharfenorth, Gütersloh 1997, 301). Schließlich ist der Vfn. zufolge Bonhoeffers Überzeugung, "daß die Offenbarung Gottes in Jesus Christus sich ihre eigenen Verstehensgrundlagen schafft" (134), nur der andere Ausdruck für seinen Umgang mit der historisch-kritischen Bibelexegese, der am Beispiel von "Schöpfung und Fall" nachgezeichnet wird: "Der Leser von ,Schöpfung und Fall’ könnte durchaus zu dem Schluß kommen, daß die ,innere Struktur’ der theologischen - und vor allem christologischen - Gedankenführung nicht am Thema selbst erwächst, sondern normativ vorgegeben ist. Die biblischen Erwägungen und theologisch-anthropologischen Schlußfolgerungen erfüllten dann nur einen ,additiven’ oder ,applikativen’ Zweck" (188) .

Das Ergebnis, zu dem die Vfn. gelangt, lässt sich wie folgt benennen: Den einleitend genannten "Kohärenz-Anforderungen wird Bonhoeffers Theologie durchgängig nicht gerecht". Weder ein "Verständnis, das beim erkennenden Subjekt ansetzt" (96), noch eine Selbstreflexion, die die theologischen Gegenstände - statt dieselben als unvermittelt gegeben zu setzen - auf die historischen Prozesse ihrer Setzung hin durchsichtig macht (vgl. hierzu 213, 238 f., 251 ff., 268 u. o.). Hinzu kommt die mangelnde Vermittlungsfähigkeit einer Theologie, die sich vielfach eines "thetischen" (325), "katechetischen" (217) oder "appellativen" (115), mithin eines rhetorischen und zirkelschlüssigen Sprachstils bedient. Dies ist nur ein Auszug der von der Vfn. vorgebrachten Bonhoeffer-Kritik, deren Einzelpunkte freilich so ganz neu nicht sind. Jedoch: Was in der Bonhoeffer-Forschung vielleicht doch zu leicht genommen oder allenfalls am Rande der Aufmerksamkeit notiert wurde, das gerät in dieser katholisch-theologischen Gesamtdarstellung auf eine Weise ins Zentrum, die zur Aufmerksamkeit nötigt, die Beachtung verdient.

Die Vfn. wäre jedoch gut beraten gewesen, sich bei der Darstellung und Erprobung ihrer These auf das Frühwerk Bonhoeffers zu beschränken. Der von der Idee einer "Gesamtdarstellung" ausgehende Systemzwang hat dieser Arbeit nicht gutgetan; jedenfalls verstärkt sich in ihrem Vollzug - bis in die Sprache hinein - die Tendenz zu einer Bonhoeffer-Kritik im Stil persönlicher Mutmaßungen: "Es hört sich zwar schön an, wenn Bonhoeffer von der Präsenz des ... ohnmächtigen und leidenden Gottes spricht; wenn man jedoch genauer hinsieht, fehlt es diesen Aussagen m. E. an Ernsthaftigkeit" (383, zur Begründung wird angeführt: "Zu deutlich weiß Bonhoeffer um die Herrschaft und die Souveränität Gottes, so daß auch das Leiden seine Omnipotenz nicht aufzuheben vermag"; der im Hintergrund stehende Gedanke des "messianischen Leidens" Christi bleibt jedoch in diesem Zusammenhang ebenso unerwähnt wie die zu seiner theologischen Entzifferung heranzuziehende Spezialliteratur).

Sieht man der Vfn. diese und eine Reihe ähnlicher Passagen nach (vgl. z. B. 83, 384), so bleibt dieser Arbeit das Verdienst einer Problemanzeige, an deren Bearbeitung die künftige Bonhoeffer-Forschung nicht wird vorbei kommen können.