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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1270-1272

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Müller, Hadwig Ana Maria

Titel/Untertitel:

Theologie aus Beziehung. Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge. Hgg. v. R. Feiter, M. Heidkamp, M. Moerschbacher.

Verlag:

Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2020. 352 S. = Bildung und Pastoral, 4. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783786740285.

Rezensent:

Heinrich Balz

Im ersten der von Freunden und Schülern ausgewählten Vorträge und Aufsätze aus drei Jahrzehnten von Hadwig Ana Maria Müller, der langjährigen Referentin des missionswissenschaftlichen Instituts Missio in Aachen, liest man: »Gottes Nicht-alles-sein hat mit seinem Ja zur Beziehung zu tun. Sein Ja zum Mitsein ist gleichbedeutend mit dem Ja zur Begrenzung des Seins, zur Begrenzung des Könnens und zur Begrenzung des Wissens.« Und im letzten Vortrag erfährt man: »Glauben heißt, ein Fehlen als Gabe zu empfangen.« Es geht mit M. de Certeau darum, die tiefere Schwachheit des Glaubens zu begreifen, das Fehlen dessen, an den wir glauben: Er ist nicht hier, Mk 16,6. Zugespitzte, steile Sätze ziehen sich durch das ganze Buch und machen es dem Leser nicht leicht. Gleichzeitig gilt aber auch umfassend der einfache Glaube an das Leben; das Evangelium ist die Nachricht vom »radikalen Gutsein des Le­bens«. Eine spröde, an mystische Tradition anknüpfende Redeweise unterbricht sich aber immer wieder mit den Lebenserfahrungen M.s, besonders der zehn Jahre, die sie in Brasilien unter armen frommen Frauen lebte. Sie wurden ihr zu einer Initiation und Bevollmächtigung zum Reden, auf andere Weise auch die tiefgreifenden Reformen der Kirche in Frankreich, wie sie im Brief der Bischöfe 1996 und in dem Schreiben »Proposer la foi« 2009 Gestalt annahmen. In Brasilien und in Frankreich sind Veränderungen und ein schöpferischer Gebrauch der umfassenden Krise schon im Gange, die dem deutschen Katholizismus noch bevorstehen.
M. sieht sich und ihresgleichen »im Übergang zu einer noch nicht gewussten Kirche«, die anders sein wird als die bisherige in ihren Traditionen, Gewohnheiten und Institutionen befangene. Aufbruch zum Neuen ist das eigentliche Wesen der Kirche, Stehen »im Gegenüber zur Welt«, aber auch »das Wort auszusäen«, verträgt sich damit nicht. Kirche und Welt sind eins in der Krise, Neues ist im Kommen; die Kirche ist darin Partner, die eine Seite der Veränderung, nicht Inhaberin des überlegenen Wissens, wo es hingeht.
In einigem ist der Umbruch, den M. beschreibt, konfessionenübergreifend: Gottesdienstbesuch, Gemeinden und Nachwuchs zum Theologiestudium nehmen ab. Anderes ist spezifisch katholisch: Dass die Laien endlich eine Stimme bekommen sollen – M. hat über J. Lacan promoviert –, dass das Priestertum aller Gläubigen gelten und das Volk Gottes von der Hierarchie gehört werden solle, klingt protestantisch gelesen nicht gänzlich neu. M. stellt denn auch in »Mission und Vision« in einiger Breite protestantische ökumenische Stimmen dazu vor, einschließlich E. Jüngels Referat vor der EKD-Synode 1999. Doch dies bleibt im Ganzen ein Blick aus dem Fenster – ein fortlaufendes Gespräch mit nichtkatholischer Bemü hung um Erneuerung der Kirche findet nicht statt, auch nicht beim Blick auf Frankreich und Brasilien.
Die zwanzig Vorträge und Aufsätze M.s sind von den Herausgebern, um die Spannung aufrechtzuerhalten, nicht chronologisch, sondern sachlich unter fünf Themen angeordnet. Am Anfang steht programmatisch I. Beziehung als Schlüssel zum Sprechen von Gott aus eigenem Nachdenken und Erfahren und in der in Lateinamerika begriffenen »Option für die Armen«, die nicht nur die Ethik be­stimmen, sondern auch die Fundamentaltheologie als ihr »Herzstück« neu bestimmen soll: »Christus offenbart Gott, indem er auf Macht verzichtet, er offenbart sich in der Ohnmacht. Durch seine Armut, nicht durch seinen Reichtum hat er uns beschenkt […] Das Sklavenleben, das Christus gewählt hat, gibt dem oder der Armen jene besondere, objektive Ähnlichkeit die ihn/sie zu einer Ikone Gottes macht.« Was vordem ein Thema neben anderen im Ganzen der Theologie war, wird zu ihrem Gesamtthema, in welchem alles andere seinen Platz findet. – Dies gilt auch II. für die Mission. M. sieht sich selber Missionarisch wider Willen. Das Wort ist abgenutzt und in Verruf geraten in den vormaligen kolonialen Sendungsländern des Westens, doch es aufzugeben, verbieten die Kirchen des Südens, für die Mission weiter einen positiven und verpflichtenden Klang hat: Das Evangelium wird von ihnen weiter hinausgetragen. Die anderen nichtchristlichen Religionen der Menschheit spielen in M.s Ausführungen kaum eine Rolle, Gegenüber der Kirche sind in der weiten Welt die Armen und im Westen bei uns die säkularisierten Religionslosen.
Was aber ist die christliche Gemeinschaft, die Kirche weltweit? M. beruft sich mit G. Collet, dem langjährigen Direktor von Missio Aachen, darauf, dass die Wechselseitigkeit des Austauschs zwischen den verschiedenen Weltteilen unabdingbar ist, was aber auch das Recht der Europäer einschließt, ihre Probleme in den allgemeinen Diskurs einzubringen, ohne aber Überlegenheit zu beanspruchen. Die pastorale, gemeindliche Wirklichkeit steht immer am Anfang, Theologie kommt erst als Zweites hinzu. Alle sind eingeschlossen in einen weltumfassenden Lernprozess, das Lernen, gleich wichtig, wenn nicht gar wichtiger als der Gottesdienst, ist die Mitte der erneuerten Kirche (III. Voneinander lernen).
Das aber erfordert IV. Vertrauen in den Weg, wofür von Deutschland aus der Blick auf Kirche in Brasilien und in Frankreich wichtige Anstöße gibt. Kirche erneuert sich, indem sie nicht Institutionen rettet, sondern Laien-Teams, Equipen zur Gestaltung von Gemeinden ohne Pfarrer ermächtigt: Nicht »Leitungs«personal fehlt, sondern »Verantwortliche« werden gesucht und gefunden. Die Bischöfe geben den Laien das Wort und nehmen überrascht zur Kenntnis, was an der Basis ohne sie lebt und funktioniert. Sie gestehen ein, dass auch sie, die Oberen, nicht immer wissen, wo die Reise hingeht; Basis und Hierarchie sind gemeinsam unterwegs im Über gang zu einer noch nicht gewussten Kirche. – Doch nicht alles ist offen und ungewusst.
Im Schlussteil V. An kein Ende kommen spricht noch einmal die Theologie als denkende Verarbeitung dessen, was begegnet und herausfordert: im Treffen etwa mit einer »subversiven Mystik im Leben armer Frauen in Brasilien« und in der Weggemeinschaft mit jungen Menschen bei uns, die nicht Nachfolge im Sinne von gehorsamem Hinterhergehen meint, sondern Mitsein mit dem Gott der Verheißung. Zuletzt noch: »Glauben – was ist das eigentlich?« Es ist »elementares Vertrauen in das Leben« im Sinne des Nicht-Wissens. »Das Nichtwissen markiert die Grenze wo endet, was man vom Anderen wissen kann, und wo das ihm geschenkte Vertrauen be­ginnt.«
Die Gedankenführung ist insgesamt herausfordernd, zuspitzend ins Paradoxe. Man spürt einen hoffenden Aufbruch, tief verwurzeltes Leiden und Ungeduld mit dem Bestehenden, das teils erlischt, teils unberechtigt weiter besteht, einen ausgeprägten Sinn für das noch nicht Sichtbare, katholisch konkretisiert. Dass Aufbruch auch anderswo in der weltweiten Christenheit geschieht, theologisch, pfingstlerisch, evangelisch und anders, möchte man M., ohne sie zu bremsen, sagen und im Übrigen mit ihr warten nicht nur auf die noch ungewusste Kirche, sondern auch auf das erhoffte, herbeizubetende Reich Gottes.