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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1258-1259

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Hahn, Matthias

Titel/Untertitel:

Gemeindepädagogische Umbrüche. Peter Lehmann – eine pädagogisch-theologische Biographie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 408 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783374069248.

Rezensent:

Ingrid Piontek

Was zeichnet dieses Buch aus, das in anderen Werken zur Entwicklung von Gemeindepädagogik nicht schon von Autoren und Autorinnen mit ostdeutscher Perspektive beschrieben wurde? Die Antwort ist schon im Titel angedeutet: Grundlage ist die Biographie von Peter Lehmann.
In der ostdeutschen Gemeindepädagogik ist Peter Lehmann, geboren 1938 in Mühlhausen/Thüringen, ein Zeitzeuge von Um­brüchen in mehrfacher Hinsicht: gesellschaftlich, politisch, kirchlich. – An seiner Person ist besonders der Umbruch von der Katechetik zu Gemeindepädagogik ablesbar und bekommt Stimme und Gesicht. Aus seiner Perspektive wird diese ostdeutsche Geschichte in Geschichten erzählt. So entstand eine gemeindepädagogische Biographie, wurzelnd in der ehemaligen Kirchenprovinz Sachsen (heute Evangelische Kirche in Mitteldeutschland), zusammenges tellt von Matthias Hahn, Gastprofessor an der Evangelischen Hochschule Berlin und apl. Professor an der Universität Erfurt. Peter Lehmann studierte Theologie am Katechetischen Oberseminar in Naumburg und an der Kirchlichen Hochschule Berlin, er war u. a. »Pfarrer im katechetischen Dienst« in Wittenberg, Kreiskatechet, Propsteikatechet und ab 1985 Rektor des katechetischen Seminars in Wernigerode/Harz – der späteren Fachschule für Ge­meindepädagogik in Drübeck. Peter Lehmann ist ein Pfarrer, der die Dimension der Gemeindepädagogik passioniert umsetzte. Er ist seit 2000 im Ruhestand und lebt in Wernigerode.
Peter Lehmanns Biographie steht exemplarisch für die Generation kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die den Um­bruch nach dem Zweiten Weltkrieg und den Umbruch nach der Friedlichen Revolution im Osten Deutschlands miterlebten. Seine Biographie ist eng verflochten mit Herausforderungen für Theologie und Pädagogik. Lehmann erlebte Umbrüche in kirchlichen Strukturen, Ausbildungsstätten und pädagogischen Ansätzen, in den Arbeitsformen der kirchlichen Unterweisung und Plänen. Die gemeindepädagogischen Umbrüche werden dargestellt aus Lehmanns Perspektive, seinen Erinnerungen und Quellen aus seinem umfangreichen Privatarchiv, gestützt von Materialien aus kirchlichen Archiven. Es stellt sich die Frage, wie die damit verbundene nicht ausbleibende subjektive Filterung in Bezug auf ge­meindepädagogische Umbrüche zu werten ist. Einzelne Textpassagen sind von Experten kommentiert worden, so dass H. in Auswahl einige abweichende Akzentuierungen aufnehmen konnte.
Wie ein roter Faden zieht sich Lehmanns Kirchenverständnis durch die Biographie: Kirche ist Gemeinschaft der Lernenden. Er setzt es praktisch und begeisternd um, in den Gemeinden und mit den Mitarbeitenden und Studierenden: gemeinsam Glauben leben lernen im Vollzug, mit Herz, Kopf und Hand. Er will Gemeinde betrachten über den Kontext von Kirchengemeinde hinaus und steht für gesellschaftliches Engagement, Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Er versteht und lebt Ökumene im weitesten Sinn, bis zur Ökumene der dritten Art, obwohl er diesen Begriff nicht benutzt. Kennzeichnend für Lehmann ist sein Blick über den Tellerrand, seine Weltoffenheit.
Ein Lebensthema ist die seminaristische Ausbildung für Ge­meindepädagogik und deren Bedeutung für die kirchliche Praxis – zuweilen umstritten, ignoriert und blockiert. An dieser Stelle hebt sich die Biographie von anderen Werken zu Gemeindepädagogik ab und beleuchtet einen Diskussionsgegenstand in den ostdeutschen Landeskirchen. Neben der akademischen Ausbildung zu ordinierten Gemeindepädagogen und -pädagoginnen wurden Formate einer dualen seminaristischen Ausbildung zu Gemeindepädagogen (FS) erprobt und weiterentwickelt, bewährt und gefragt in den Gemeinden. Fragen werden aufgeworfen und bleiben im Raum stehen: Warum gab es Bestrebungen der Personalverantwortlichen in der Landeskirche, diese Ausbildungsgänge zu behindern und zu beenden? Was waren die wirklichen Beweggründe? Wurde der Umbruch von Katechetik zur Gemeindepädagogik möglicherweise von Verantwortlichen gar nicht verstanden? Warum hatte dieser Weg der ostdeutschen Landeskirchen so zu kämpfen? Das ist nicht aufgearbeitet und lässt Lehmann gipfeln in einer bemerkenswer ten »Ungehaltenen Rede eines ungehaltenen Ge­meindepädagogen« anlässlich der Schließung »seiner« Fachschule (2019) in Drübeck.
Peter Lehmann wirkte mit seiner ganzen Person aufrecht, innovativ, kritisch unterscheidend und streitbar in Auseinandersetzungen, auch mit staatlichen Organen der DDR, ermutigend u. a. für Wehrdienstverweigerer. Er kämpfte – manchmal gegen Windmühlenflügel – für Katecheten, später Gemeindepädagogen und gilt als praxisreflektierender Mitgestalter von Gemeindepädagogik. Darüber hinaus trug er die pädagogisch-theologische Sichtweise in den Bund Evangelischer Kirchen in der DDR ein.
H. beleuchtet die Leistung von Biographien zum wissenschaftlichen Diskurs und zitiert Hönigwald (1927): »Ein einziger, wirklich analysierter Fall eines pädagogischen Verhaltens […] hat für die Theorie der Pädagogik mehr wissenschaftlichen Wert als ein ganzes Heer statistischer Angaben über das Zusammenbestehen von Merkmalen und Reaktionsweisen. Der gedankliche Querschnitt durch einen einzigen Fall eines pädagogischen Vorgangs und dessen Verknüpfung mit anderen bedeutet unendlich viel mehr als die üppigste Zusammenstellung nach Gesichtspunkten der äußeren Zweckmäßigkeit und der Konvention.« H. hat mit dieser detaillierten gemeindepädagogischen Biographie ein wichtiges Puzzlestück zur Zusammenschau der gemeindepädagogischen Entwicklungsstränge in Ostdeutschland hinzugefügt.