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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1255-1258

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Gojny, Tanja

Titel/Untertitel:

Schulgottesdienste in der Pluralität. Theoretische Grundlegung, konzeptionelle Bestimmungen und Handlungsorientierungen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 638 S. = Praktische Theologie heute, 177. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783170374645.

Rezensent:

Bernhard Dressler

Vor einigen Jahren war in einer Rezension in der ThLZ zum Thema »Schulgottesdienst« zu bemerken, dass dieser Gottesdienstgestalt in Wissenschaft und Kirche noch längst nicht die nötige Beachtung zukomme. Das hat sich inzwischen, zumindest was die Wissenschaft betrifft, geändert. Und die vorliegende Arbeit von Tanja Gojny – eine im Fachbereich Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg angenommene Habilitationsschrift – ist ein gewichtiges Zeugnis dieser Entwicklung.
Umfangreiches Material ist zu bändigen: Dazu ordnen einzelne Kapitel die Vielfalt des Gegenstandes thematisch, um jeweils abgeschlossen zu werden mit einem »Fazit«, das themenspezifische »Bausteine zu einer Theorie von Schulgottesdiensten« festhält. Dieser Aufbau macht es möglich, das voluminöse Werk auch aus einem jeweils (einzel-)themenspezifischen Interesse mit Erkenntnisgewinn in den Blick zu nehmen.
Die Einleitung (I) bietet eine erste »Annäherung an das Phänomen«, Klärungen zum »Begriffsgebrauch«, »wissenschaftstheore-tische und methodologische Aspekte«, einen Blick auf den »Forschungsstand und chronologischen Literaturüberblick« sowie die Aussicht auf eine »Theorie von Schulgottesdiensten als Ziel der Arbeit«. Es folgen (II) »Verortungen« des Themas in unterschied-lichen theologischen und (religions-)pädagogischen, aber auch rechtlichen Diskursen. Kapitel III widmet sich einer Vielfalt von »Begründungen« im Blick auf unterschiedliche beteiligte Personengruppen und auf die Institutionen Schule und Kirche, um dann in Kapitel IV der Frage nach »Gestaltungen« im Sinne unterschiedlicher Gestaltungsoptionen und Qualitätskriterien nachzugehen. Abschließend (V): »Ausblick und Weiterführung: Desiderate empirischer Forschung und mögliche Anschlüsse für eine Theorie alternativer schulischer Feierformen.«
Es lässt sich hier schon sagen, dass die Arbeit ihrem »Ziel« durchaus gerecht wird, »eine wissenschaftliche Theorie von Schulgottesdiensten zu entwickeln, mit der das Phänomen Schulgottesdienste […] präziser als bisher wahrgenommen werden kann«, und es damit zugleich einigen »exemplarische[n] Grundfragen aus der Praktischen Theologie, der Religionspädagogik sowie der Schulpädagogik und -theorie« zuzuordnen (33). Ein Anhang bietet als »Überblick über Verortungen von Schulgottesdiensten in liturgischen, pädagogischen und rechtlichen Diskursen« gleichsam eine Art Orientierungshilfe über das thematische Gesamtgelände.
Der Begriff »Pluralität« im Untertitel schließt das Buch nicht nur an die gängige Gegenwartsbestimmung der Religionspädagogik an, sondern ist im Blick auf seinen Gegenstand wohl noch treffender, als es Überlegungen zum Religionsunterricht sein müssen: Im Blick auf die beteiligten Personengruppen, auf die unterschiedlichen Anlässe, auf die institutionellen Rahmenbedingungen und auf die Gestaltungsoptionen ist kaum eine andere Form religiöser Praxis so vielfältig wie die Schulgottesdienste. Es ist vor allem dieser Umstand, der den voluminösen Umfang des Buches erfordert und rechtfertigt. Das bedeutet auch, dass in einer Rezension längst nicht allen Aspekten gebührend nachgegangen werden kann, sondern einige dem Rezensenten bedeutsam erscheinende Blickpunkte herauszugreifen sind.
Entscheidend ist, dass Schulgottesdienste energisch als eigenständige und »vollwertige« (59) Gottesdienste zu verstehen gegeben werden, die weder religionspädagogisch zu funktionalisieren sind noch auf klerikale Vereinnahmung zielen sollen. Diesem Grundgedanken bekommt der durchgängige Bezug auf Michael Meyer-Blancks maßstabsetzende »Gottesdienstlehre« gut: Auch Schulgottesdienste sind »Mitteilung und Darstellung des Evangeliums in ritueller Gestalt« (62). Durchgängig wird der abwertenden Gegenüberstellung von »Schulgemeinde« und »eigentlicher« (= parochialer) Gemeinde widersprochen. Auch wenn die Frage nach einer Einordnung von Schulgottesdiensten als Kasualien differenziert und nicht uneingeschränkt zustimmend erörtert wird (372–380), können sie doch in ihrem Gruppenbezug in die Perspektive einer »Erweiterung der Kasualpraxis« (Ulrike Wagner-Rau) gerückt werden, in der »liturgische, poimenische und religionspädagogische Aspekte« verbunden werden (81). Dass eine tauftheologische Begründung heute »nicht (mehr) trägt« (378), setzt einen eigenen Akzent.
Eingehend wird die Frage erörtert, ob und wie Schulgottesdienste bildungstheoretisch einzuordnen sind. Dass sie nicht die Fortsetzung des Religionsunterrichts mit anderen Mitteln sind, hätte stärker akzentuiert werden können. Insbesondere der Vorschlag, ihre Gestaltung als »Anforderungssituation« (103 ff.155 u. ö.) zu verstehen, einem in der kompetenzorientierten Religionsdidaktik durchaus nicht unumstrittenen Konzept, ist m. E. problematisch. Didaktische Re-Inszenierungen von religiösen Vollzügen und die authentische schulische Gestaltung religiöser Feiern sind im theologischen wie im bildungstheoretischen Interesse deutlicher kategorial zu unterscheiden, gerade wenn man manchen Problemanzei-gen gegen »performative Religionsdidaktik« gerecht werden will. Fruchtbarer erscheint hier der Rückbezug auf das religionsdidaktische Konzept der »Elementarisierung« (467 ff.). Läuft die gelegentlich zu hörende Warnung vor der »Pädagogisierung« von Schulgottesdiensten wirklich auf eine »wenig hilfreiche Frontstellung« hinaus (208 f.)? Immerhin kann der Begriff der »informellen Bildung« die Kontroverse etwas entspannen (211). Erhellend demgegenüber der gerade für Schulgottesdienste besonders bedeutsame, von Ursula R oth aufgegriffene Gedanke, dass die prinzipielle Öffentlichkeit evangelischer Gottesdienste den Aspekt einschließt, »dass es in einem Gottesdienst auch die Rolle des Publikums gibt«, samt der Entpflichtung von aktiver, affirmativer Mitgestaltung.
Ausführlich und klar ist die Analyse der Rechtslage im Ineinander von staatlichem Recht (inkl. Religionsverfassungsrecht) und Kirchenrecht (II.3); instruktiv ein kurzer vergleichender Blick auf die deutlich anderen britischen Formen von school worship bzw. collective worship (127 ff.). Dass eine »rechtspositivistische Argumentation« für die »Begründungen« (III) von Schulgottesdiensten nicht ausreicht, ist ein völlig überzeugender Schlüssel für dieses gesamte Kapitel, in dem zugleich differenziert die Frage erörtert wird, ob ein Gottesdienst »nützen« darf und worin die Grenzen seiner Funktionalisierung liegen (186 ff.) Dass der juristische Akzent beim Grundrecht auf positive Religionsfreiheit (194) die Bedeutung funktionaler Argumente einschränkt und zugleich den Möglichkeitsraum für religiöse Lebensorientierungen, für Trost und Hoffnungsstiftung eröffnet (198 ff.), schließt auch eine institutionen kritische Funktion, die »Unterbrechung« schulischer Eigengesetzlichkeiten und Sachzwänge (257), ein.
Die Erörterung von Gestaltungsformen und deren Qualitätskriterien (IV), insbesondere mit Blick auf das Verhältnis von Konfessionalität und Ökumenizität, zielt auf ein »Plädoyer für ein Nebeneinander von Gottesdiensten und multireligiösen Feiern, einer stärkeren Berücksichtigung von Konfessionslosen sowie Transparenz im Hinblick auf Charakter und Ziele von (religiösen) Schulveranstaltungen« (IV, 2.3.4, 365 ff.). Einem Verzicht auf jedes konfessionelle Profil wird dabei behutsam, aber sachlich klar widersprochen.
Das Buch mündet in einem »kontextbezogenen Modell für ›gu­te‹ Schulgottesdienste in der Pluralität« als »Fazit« (529–546). Die Absicht, eine »Schulgottesdiensttheorie« vorzulegen, auch wenn der Ausblick noch weitere Forschungsdesiderate zu benennen weiß (547 ff.), ist insgesamt fundiert und überaus aspektreich gelungen. Durchgängig bemerkenswert ist die sorgfältige Abwägung von Alternativen und die vorsichtige Akzentuierung von Präferenzen. Die evangelische Perspektive überwiegt; allerdings werden katholische Impulse vielfach einbezogen. Deutlich wird (indirekt) die bleibende Distinktionskraft der gegenwärtig etwas aus dem Blick geratenen Unterscheidungen Dietrich Rösslers zwischen privatem, öffentlichem und kirchlichem Christentum bewusst. Und: Welche kritische Funktion Schleiermachers Unterscheidung zwischen wirksamem und darstellendem Handeln im Blick auf das gegenwärtige kirchliche Agieren haben könnte.
Was fehlt? Das wagt man im Blick auf den Umfang des Buches kaum zu fragen. Aber etwas ausführlichere sozialwissenschaftliche und kulturtheoretische Einordnungen und eine genauere Analyse der teilweise dramatischen Veränderungen der Schulkultur hätten das Buch noch stärker abgerundet. Es handelt sich insgesamt um eine theologische Grundlegung eines religiösen Praxisfeldes, aber auch um ein Handbuch im besten Sinne, das man bei Bedarf wegen seines vollständigen Überblicks über alle Aspekte des Themas konsultieren kann. Hilfreich ist dabei das sorgfältige Sachregister.