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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1236-1238

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lohse, Simon

Titel/Untertitel:

Die Eigenständigkeit des Sozialen. Zur ontologischen Kritik des Individualismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XI, 254 S. Kart. EUR 59,00. ISBN 9783161589126.

Rezensent:

Georg Pfleiderer

Ob das Soziale, also insbesondere Institutionen und Organisationen, eine Wirklichkeitssphäre eigener Art darstelle oder sich ontologisch letztlich immer auf die Individuen, die sich in ihm kommunikativ handelnd zusammenschließen, reduzieren lasse, ist eine uralte Streitfrage moderner Gesellschaftstheorien, seit es diese gibt. Entwickeln die sozialen Strukturen insbesondere moderner Gesellschaften, etwa »der Markt«, eine Eigenwirklichkeit, die sich individueller, auch kollektivierter menschlicher Handlungsmacht entzieht? Die Theologie hat an dieser Frage von jeher ein genuines Eigeninteresse, nämlich im Bereich der Ekklesiologie: Ist die Kirche aufzufassen als ein Aggregat von Individuen oder als eine – wie immer genauer zu fassende – soziale Wirklichkeit eigener Art, die (letztlich unabhängig von den in ihr handelnden Individuen) eigene Bestimmungsmacht auf die Individuen und (als Kollektivakteur) auf die Gesellschaft ausübt? Wer sich klarmachen möchte, dass es bei dieser Frage keineswegs nur um Theorieprobleme geht, greife zum klassischen Werk von Ernst Troeltschs »Soziallehren«, die gerade in einer mustergültigen kritischen Neuedition (von (Friedrich W. Graf u. a.) in der Werkausgabe erschienen sind.
Wer sich hingegen einen Eindruck von der Heftigkeit der Glaubenskriege verschaffen möchte, die bis heute in der Sozialwissenschaft und der Sozialphilosophie auf diesem Feld ausgefochten werden, lese die Rezension des Kieler Soziologen Robert Seyfert zur hier anzuzeigenden Hannoveraner Dissertation von Simon Lohse (Soziologische Revue 44 [2021], 156–160) im Netz. Seyfert sieht in L. einen individualistischen Sozialphilosophen am Werk, der sich »Emergenztheorien des Sozialen« (156) im Stil einer »parteiische[n] Beobachtung« (ebd.) mit dem Ziel zuwendet, sie möglichst nachhaltig, auf oberflächliche und eine im Einzelnen oft unfaire Weise unschädlich zu machen. Richtig an dieser kritischen Sichtweise ist, dass der Buchtitel den Eindruck erwecken kann, L. halte die ontologische Kritik am sozialphilosophischen Individualismus – gemeint ist die starke Form des »Methodologischen Individualismus« – für durchschlagend. Dies ist, wie im Zuge der Lektüre sukzessive deutlich wird, jedoch nicht bzw. nur sehr bedingt der Fall. Doch dieses kritische bzw. antikritische Ergebnis steht – als differenziertes – am Ende der Untersuchung, die trotz der theoretischen Flughöhe, die sie konsequent hält, betont praxisbezogen sein möchte, und liegt ihr nicht einfach als parteiische Voreingenommenheit zugrunde. Vielmehr ist die hohe Kunst L.s zu überaus präziser, luzider, knapper Argumentation anzuerkennen, die sich zugleich über die Reichweite ihrer Argumente sehr genau Rechenschaft ablegt. Oberflächliche ideologische Überwältigungstechniken lesen sich anders.
Allerdings geht L. in der Tat davon aus, dass den empirischen Sozialwissenschaften in der Regel ein »Methodologischer Individualismus« als »Goldstandard« (79) zugrunde liege (vgl. 73), der die Rede von der »Eigenständigkeit des Sozialen« grundsätzlich metaphorisch verstehe (vgl. 57) bzw. entsprechende Begriffe als short cuts (76) verwende. Darum seien soziale Phänomene grundsätzlich sinnhaftem Verstehen (im Sinne M. Webers, vgl. 70 f.) zugänglich. »Methodologisch«, also funktional, sei ein solcher Individualismus, insofern als er von jeglichem ontologischen »Atomismus« (27) bzw. »individualistischen Atomismus« (33) strikt zu unterscheiden sei. Dafür müsse der »Methodologische Individualismus« jedoch möglichst präzise, d. h. ontologisch so implikationsarm wie möglich, bestimmt werden, um so als Prüfinstrument für Theorien einer ontologischen Eigenständigkeit des Sozialen fungieren zu können. Zu jener ontologischen Präzision meint L., dass Individuen zwar als die ontologischen Träger des Sozialen zu bestimmen seien, auch wenn soziale Phänomene häufig von den Individuen nicht beabsichtigt seien, diese insofern durchaus emergent wirken könnten (vgl. 56), und zwar auch aufeinander (vgl. 61), wie z. B. im Falle der berühmten Weberthese der Protestantismus auf den Kapitalismus (vgl. 62); sie seien also gerade nicht bloß fiktional (vgl. 75); das ändere aber nichts daran, dass es neben materiellen Faktoren – »eben nur die individuellen Akteure sind, die einen kausalen Unterschied in der sozialen Welt machen können« (68).
Diesem prägnanten Begriff eines Methodologischen (und solchermaßen ontologisch präzisierten bzw. bestimmungsoffenen) In­dividualismus legt L. nunmehr als Prüfkriterium drei Typen von Theorien zugrunde, die sich anheischig machen können, eine (ontologische) Eigenständigkeit des Sozialen zu begründen. Die Programmbegriffe der drei Theorietypen sind (1) »Soziale Emergenz«, (2) »Kollektivakteure« sowie (3) »Verwobenheit«. Bei jedem der drei Typen stellt L. zunächst den ideengeschichtlichen Hintergrund vor, definiert die Grundidee und präsentiert entscheidende, aus seiner Sicht die jeweils stärksten Theorievertreter, die er sodann einer kritischen Analyse unterzieht. Im Falle der Emergenztheorien sind die Klassiker J. St. Mill (93), in gewisser Weise Marx (103) und vor allem Durkheim (104), gegenwärtig Keith Sawyer (107), Dave Elder-Vass (115 ff.) und als Neoklassiker N. Luhmann (124 ff.). Im Kapitel Kollektivakteure ist ein wichtiger (wenn auch selbst noch uneindeutiger) Initiant James Coleman (161 ff.); als starke gegenwärtige Theorien werden diejenigen von Hans Geser (164 ff.) und Deborah Tollefson (176 ff.) analysiert. Im Kapitel Verwobenheit diskutiert L. Bruno Latour (192 ff.) und vor allem P. Bourdieu (200 ff.). Dabei wird den untersuchten Theorien oft viel argumentative Plausibilität zugestanden. Im Ergebnis kommt gleichwohl in der Tat heraus, dass entweder keine der untersuchten Theorien die definitive Durchschlagskraft gegen die tragenden Fundamente eines Methodologischen Individualismus, wie er hier von L. geschnitten wird, besitze oder dass sich diese Theorien bei näherer Betrachtung als »kompatibel mit dem Methodologischen Individualismus« (227) erwiesen.
Diese gesamte kritische Theoriediskussion vollzieht sich auf gut 100 Textseiten; der mit 25 Seiten, wenn ich recht zähle, längste Unterabschnitt ist dem bekanntlich nicht ganz kleinen und nicht ganz einfachen Werk N. Luhmanns gewidmet. Trotzdem macht sich L. anheischig, die aus seiner Sicht für seine Fragestellung entscheidenden Argumente der jeweiligen Autoren für den gegebenen Zweck, soweit es diese erlauben, herauszuarbeiten und kritisch zu diskutieren. Dabei ist ein häufiges Ergebnis, dass die Elaboriertheit der entsprechenden Theoriefiguren nicht ausreiche, um die damit verbundene anti-individualistische Argumentationslast zu tragen. So sei etwa Luhmanns These von der »Interpenetration zwischen Systemen« nicht genügend ausgearbeitet, um als »erklärungskräftige Kontaktstelle zwischen psychischen und so­zialen Systemen« (133) zu fungieren, ähnlich sei auch Gesers Begriff von Organisationen als »Sekundärakteuren« (173) nicht präzise genug elaboriert, um die Streitfrage zu entscheiden. Darüber – wie über alle anderen vorgetragenen Analysen – lässt sich natürlich streiten. Das Verfahren als solches sollte man aber nicht als un­ziemliche Strategie der Umkehrung der Beweislast kritisieren. Holistische Antikritiker sollten vielmehr anerkennen, dass L. seine eigene Position im kritischen Gespräch mit den untersuchten Autoren fortwährend zu präzisieren und durchaus auch kritisch zu korrigieren sucht. So nimmt er etwa Bourdieus Habitustheorie zum Anlass, das ontologische Substrat seines methodologischen Individualismus sozial stark zu erweitern, mithin der Prägekraft der geschichtlich-sozialen Welt und ihrer Institutionen auf die – eben gerade nicht atomistischen – Individuen großen Spielraum zuzugestehen. Weber und Troeltsch zumindest wären damit sicher einverstanden gewesen. Selbst für K. Barth und trotz seiner vielzitierten Rede von den »herrenlosen Gewalten« ist diesen letztlich »nur eine pseudo-objektive Wirklichkeit und Wirksamkeit eigen« (K. Barth, Das christliche Leben [KD IV/4], hgg. von H. A. Drewes u. E. Jüngel, Zürich 1999, 366).