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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1212-1215

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Heil, Uta [Hg.]

Titel/Untertitel:

Das Christentum im frühen Europa. Diskurse – Tendenzen – Entscheidungen.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. IX, 508 S. m. 4 Abb. = Millennium-Studien, 75. Kart. EUR 29,95. ISBN 9783110736908.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Hinter diesem erstrangig theologiegeschichtlich ausgerichteten Sammelband steht eine 2017 in Wien abgehaltene Tagung unter dem Titel »Formation of European Christianity in Late Antiquity and the Early Middle Ages«, die in enger Anbindung an das von Uta Heil (Wien) und Henning Drecoll (Tübingen) geleitete Forschungsprojekt »Die Formation des westlichen Christentums im frühen Mittelalter – oder: Übersehene Fundamente Europas« stattgefunden hat. – Um es gleich vorweg zu sagen: Die Publikation bietet methodisch und inhaltlich ebenso frische wie reichhaltige Kost, die auch für Theologinnen und Theologen manch Nahrhaftes bietet. Strukturiert ist die Publikation in sechs Hauptkapitel, denen die einzelnen Aufsätze zugeordnet sind. Abgerundet wird der Sammelband durch ein Sachregister (477–481), ein Personenregister (482–483) und ein (auf »Altes Testament«, »Neues Testament« und »Antike bis frühmittelalterliche Quellen« bezogenes) Stellenregis-ter (484–506). Auf den letzten beiden Seiten findet sich die »List of Contributors« (507–508).
In der »Einleitung« (= Hauptkapitel I) bieten Uta Heil und Henning Drecoll unter dem Titel »Anti-Arianismus und mehr. Zum Profil des lateinischen Chris-tentums im entstehenden Frühmittelalter« (3–31) hinführende Überlegungen zu Konzeption und Inhalt der Gesamtveröffentlichung. Hauptkapitel II (»Universal und regional«) bündelt folgende Aufsätze: Walter Pohl, »Die christliche Dimension ethnischer Identitäten im Frühmittelalter« (35–49), Fabian Schulz, »Westkirche und Okzident im frühen 5. Jahrhundert« (51–66) und Carmen Cardelle de Hartmann, »Latinitas. Überlegungen zur sprachlichen Korrektheit zwischen Spätantike und Karolingerzeit« (67–90). Hauptkapitel III (»Konfisziert und kodifiziert«) besteht aus zwei Aufsätzen: Clemens Weidmann, »Zum Problem der Pseudepigraphie in patristischen lateinischen Predigten« (93–116) und Mark Vessey, »Sidonius Apollinaris Writes Himself Out. Aut(hol)ograph and Architext in Late Roman Codex Society« (117–154). Hauptkapitel IV (»Bekennen und Verdammen«) vereint neun Beiträge: Yitzhak Hen, »Dialog und Debatte in Spätantike und frühmittelalterlichem Christentum« (157–169), Irene van Renswoude, »Crass Insults. Ad hominem Attacks and Rhetorical Conventions« (171–194), Roland Steinacher, »Vom Ketzerkönig zum christianissimus rex. Politische Dimensionen der homöischen Christologie. Afrika im 5. und 6. Jahrhundert mit einem Ausblick nach Spanien« (195–218), Uta Heil/Christoph Scheerer, »Wiederentde-ckung eines homöischen Dokuments. Thrasamunds Einwände gegen den katholischen Glauben als Zeugnis homöischer Theologie Nordafrikas« (219–261), Benjamin Gleede, »(Neu-)Chalkedonismus bei Fulgentius von Ruspe« (263–279), Jan-Markus Kötter, »Der Umgang der zeitgenössischen lateinischen Chronistik mit der reichskirchlichen Entwicklung im fünften Jahrhundert« (281–300), Ian Wood, »Discussions with Kings. The Dialogues of Avitus of Vienne« (301–315), Hanns Christof Brennecke, »Das Athanasianum – ein Text aus dem Westgotenreich? Überlegungen zur Herkunft des Symbolum quicumque« (317–338) und Richard Price, »Western Theology and the Ecumenical Councils« (339–351). Hauptkapitel V (»Christen und Juden«) präsentiert Günter Stemberger, »Gregor von Tours und die Stellung der Juden im Gallien des 6. Jahrhunderts« (355–367) und Wolfram Drews, »Anti-Jewish Treatises in Visigothic Spain« (369–385). Hauptkapitel VI (»Gelehrtes und Gelerntes«) bietet die Aufsätze von Wolfram Kinzig, »Formation des Glaubens. Didaktische und liturgische Aspekte der Rezeption altkirchlicher Symbole in der lateinischen Kirche der Spätantike und des Frühmittelalters« (389–431), Andreas Weckwerth, »Was hat Cicero mit der Liturgie zu schaffen? Zur Bedeutung der Rhetorik in der spätantiken lateinisch-christlichen Gebetssprache« (433–457) und Els Rose, »Plebs sancta ideo meminere debet. The Role of the People in the Early Medieval Liturgy of Mass« (459–476).
Im Sinne eines Zwischenergebnisses sei festgehalten: Der Sam-melband schreibt Forschungsgeschichte! Alle Aufsätze sind forschungsgeschichtlich kontextualisiert und in ihren primärquellenbasiert-soliden Perspektiven inspirierend. Ohne dass der große wissenschaftliche Reichtum der vorgelegten Einzelbeiträge, die größtenteils gut lesbar sind und allesamt mit einem eigenen Primär- und Sekundärliteraturverzeichnis enden, hier detailliert vorgestellt werden kann, seien immerhin exemplarisch einige Highlights – aus jedem Hauptkapitel ein Aufsatz – im Sinne einer Leseempfehlung für das Gesamtwerk hervorgehoben.
Hilfreich ist im Hauptkapitel I der einleitende Aufsatz der Wiener Kirchenhistorikerin Uta Heil und des Tübinger Kirchenhistorikers Henning Drecoll. Nach dem Ende der »Germanisierungs-these«, und nachdem »Dekadenzmodelle« inzwischen als problematisch gelten, fragen sie im Blick auf den Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter nach »neuen Megatrends« oder einer neuen »Art von Signatur der Epoche«, bei deren Eruierung ein breites methodisches Forschungsspektrum sowie zeitliche und räumliche Differenzierungen einzubeziehen seien (7 f.). Dem Faktor Religion billigen sie eine eigene Rolle zu: »Wenn für die Identität eines sich bildenden Gemeinwesens eines gentilen Nachfolgereiches und die damit verbundenen identitätsstiftenden Erzählungen und Rückbezüge auch die Religion konstitutiv gewesen ist, dann auch inklusive deren inhaltliche Füllung, die demzufolge umfassend mit zu berücksichtigen ist.« (7)
Anregend liest sich im Hauptkapitel II der Beitrag des Mittelalter-Historikers Walter Pohl, der die allgemeine Rede vom christlichen Universalismus im Blick auf die Transformationen vom 5. bis 7. Jh. entscheidend differenziert. So kehrt er sich ab vom forschungsgeschichtlich oft vertretenen Gegensatzpaar, demzufolge ein universales Christentum und partikulare Traditionen einander gegenüberstanden. Stattdessen sieht er die »ersehnte Einheit im Glauben« auf einer Vielfalt der Völker als »Teil des göttlichen Heilsplans« basieren (45). Pointierter noch formuliert er seine Hypothese: »Das Christentum spielte eine wesentliche Rolle dabei, dass Ethnizität als politisches Ordnungsmuster im lateinischen Europa wichtiger wurde als anderswo.« (38)
Der CSEL-Editor Clemens Weidmann befasst sich im Hauptka-pitel III mit der Pseudepigraphie in patristischen lateinischen Predigten und veranschaulicht anhand einzelner Homilien, wie schwierig die Autorenzuschreibung zwischen dem 5. und 7. Jh. im Einzelfall ist. Mit Aspekten moderner Echtheitskritik und auf der Basis konkreter Primärquellen sucht er hier neue Horizonte zu eröffnen (97).
Im Hauptkapitel IV stellt der israelische Historiker Yitzhak Hen für das 5. bis 7. Jh. die von heutigen Plausibilitäten getragene Vorstellung vom (christlichen) Monotheismus in Frage: »Der antike ›Monotheismus‹ sah einen Gott als privilegiert, aber nicht allein: Andere, niedere Götter existierten, waren dem höheren Gott aber in gewissem Sinne untergeordnet.« (159) Dass sich auch die Christen dieser Position anschlossen, verifiziert Hen u. a. anhand von Schriften des Ambrosius von Mailand († 379), der niemals die Existenz weiterer Gottheiten im religiösen Kontext seiner Zeit geleugnet, wohl aber auf dem christlichen Gott an der Spitze der Götterpyramide bestanden hätte (161). Damit unterstreicht auch die christliche Monotheismus-Auffassung für Hen, dass die oftmals in der Forschung vorgetragene Auffassung abseitig ist, der zufolge sich das Christentum als Ausdruck einer schwindenden Diskussionskultur in den eigenen Reihen nicht länger an zeitgenössischen Debatten und Dialogen (u. a. mit Andersgläubigen) beteiligt hätte (157 f.163–165).
Der Beitrag des Wiener Judaisten Günter Stemberger im Hauptkapitel V, der sich dem Zusammenleben von Juden und Christen vom 5. bis 7. Jh. widmet und sich dabei besonders auf die Überlieferungen des Gregor von Tours († 594) stützt, konstatiert ein »zwiespältiges Bild« (365): Auf der einen Seite gab es ein offenbar unkompliziertes Miteinander der Juden und der christlichen Mehrheitsgesellschaft, auf der anderen Seite wandten sich die Bischöfe wiederholt gegen eine übermäßige Nähe zwischen Christen und Juden.
Der in Bonn lehrende Kirchenhistoriker Wolfram Kinzig untersucht im Hauptkapitel VI die Rezeptionsgeschichte verschiedener Glaubensbekenntnisse im Kontext der Taufspendung und kommt für das 5. bis 7. Jh. zu einer ernüchternden Feststellung: »Die Texte belegen eindrücklich, dass für das Überleben des Christentums in der lateinischen Kirche dogmatische Präzision oder vertiefte theologische Kenntnisse nicht wesentlich gewesen sind.« (420) Sein Ergebnis – so fügt er an – könne »in einer Zeit wachsender theologischer Unbildung durchaus tröstlich sein« (420).
Der interdisziplinär ausgerichtete und international komponierte Sammelband sei theologie- und kirchenhistorisch Interessierten zur Lektüre gern empfohlen. Die Autoren und Autorinnen aller Beiträge beziehen sich auf das 5. bis 7. Jh., folgen inhaltlich einer gemeinsamen Gesamtperspektive, bieten eine Fülle an forschungsgeschichtlichen Orientierungen sowie zum Weiterdenken anregende Perspektiven. Allesamt lösen sie ein, was Heil und Drecoll fordern: einen differenzierenden Blick auf die Transforma-tionsprozesse am Übergang von der Spätantike zum Frühmit-telalter. – Womöglich könnte man bei der wissenschaftlichen Erforschung dieses Entwicklungsprozesses zukünftig eher noch verstärkt sozialgeschichtliche Überlegungen einbeziehen, wie man sie in der vorgelegten Sammelpublikation bei Walter Pohl (44 f.), Jan-Markus Kötter (296) oder Wolfram Kinzig (395) vorwärtsweisend akzentuiert findet. Ansonsten besteht doch eine gewisse Ge­fahr, dass die Frage nach der tatsächlichen Durchdringungskraft und Reichweite hochtheologischer Aufbrüche und Reflexionen allzu sehr im Hintergrund verbleibt (z. B. Carmen Cardelle de Hartmann, 85).