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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1210-1212

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gemeinhardt, Peter, u. Tanja S. Scheer [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 230 S. = Studies in Education and Reli-gion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs, 9. Geb. EUR 69,00. ISBN 9783161594557.

Rezensent:

Karl-Heinrich Lütcke

Das aus einer Tagung hervorgegangene Buch entfaltet ein breites Panorama zum Thema »Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion«. Die Zusammenarbeit von Klassischer Philologie und Theologie hat sich dabei als fruchtbar erwiesen. Die Teilaspekte sind klug ausgewählt. Die Herausgeber Peter Gemeinhardt und Tanja S. Scheer gehen schon in der Einleitung auf den Ursprungsbegriff, die römische auctoritas ein, haben aber auch das Phänomen Autorität unabhängig von dem römischen Begriff im Blick, zumal es im Griechischen kein wirklich vergleichbares Äquivalent für auctoritas gibt.
Am Anfang stehen zwei altphilologische Beiträge. Tanja S. Scheer sieht in ihrem Aufsatz zur religiösen Autorität im Klassischen Athen die Bürgergemeinschaft als Trägerin formaler Autorität in religiösen Dingen, die dann Elemente religiöser Autorität in Form von Ämtern delegiert (religiöse Beamte, Priester). Aber auch die Autorität religiöser Spezialisten wie der Exegeten, der Orakel und der Seher wird vorgestellt – als eine Autorität mit beratender Funktion. Nicht ganz überzeugend erscheint mir, dass Scheer die Autorität der Orakel als schwach einschätzt. Das von ihr herangezogene Beispiel des delphischen Orakelspruchs in den Perserkriegen 481 v. Chr. kann man auch so sehen: Der bei Herodot geschilderte heftige Streit um die Auslegung dieses Orakelspruchs zeigt doch gerade, dass Delphi eine Autorität darstellt.
Den Part für das Klassische Rom hat Peter Kuhlmann übernommen. Er konzentriert sich unter dem Titel »Philosophen – Pries-ter – Bürger. Auctoritas und humanitas bei Cicero« vor allem auf die akademischen Dialoge, insbesondere De natura deorum. Richtig ist sicher, dass die Dialogform einen »herrschaftsfreien Diskurs« er­möglicht. Aber wenn Kuhlmann bei Cicero ein »antiautoritäres Programm« sieht, wird er dem komplexen Denken Ciceros in Sachen Autorität und Vernunft nicht gerecht (ganz abgesehen von der Frage, wie sich die römische auctoritas zu dem heutigen Begriff »autoritär« verhält). Gerade in De natura deorum wird doch eine Auseinandersetzung vorgeführt, die für das Thema »Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion« spannend wäre: Der Skeptiker Cotta, der auch pontifex ist, muss sich gegen den Vorwurf verteidigen, er als pontifex könne doch nicht so locker mit der Frage nach dem Dasein der Götter umgehen, und er antwortet darauf mit einer besonderen Dialektik von auctoritas (maiorum) und ratio (nat.deor. III 5–9).
Es folgen zwei Beiträge biblischer Exegese. Reinhardt G. Kratz schreibt unter dem Titel »Vom Text zum Kanon« über die Autorität der Hebräischen Bibel im antiken Judentum. Wichtig ist, dass er auch das Verhältnis von Autorität und Auslegung anspricht und es am Beispiel von Textvarianten zu 1Sam 10,27–11,2 erläutert. Das zugespitzte Fazit dieses Beitrags, es sei gerade die Pluralität von Auslegungen, welche die Autorität der Bibel begründet, müsste wohl um den Satz ergänzt werden, dass die pluralen Auslegungen die Autorität der Bibel auch voraussetzen. Das Thema »Autorität und Auslegung« hätte in dem Buch vielleicht auch in einem eigenen Beitrag behandelt werden können. So ließe sich am Beispiel der allegorischen Homer-Auslegung (bei Pseudo-Heraklit, Porphyrius u. a.) zeigen, dass die Auslegung dazu dient, die Autorität der Götter ebenso wie die Autorität des sonst der Asebie zu bezichtigenden Homers abzusichern. Florian Wilk arbeitet am Beispiel des Johannesevangeliums und des 2. Petrusbriefs »Strategien der Selbstautorisierung im Neuen Testament« heraus: Durch explizite und implizite Verweise auf andere autoritative Texte und Personen geben die Autoren ihrem Text Autorität. Hilfreich wäre da auch ein Blick auf die in der Antike verbreitete Pseudepigraphie.
Zwei Beiträge von Altphilologen werten die Literatur der Zweiten Sophistik aus. Unter dem Titel »Von falscher und von wahrer Autorität« schildert Heinz-Günther Nesselrath Strategien zum Erwerb religiöser Autorität. Drei Beispiele charismatischer Führer und Wundertäter (oder auch: Scharlatane) werden behandelt: Alexander von Abouteichos, der mit raffinierten Mitteln den Kult um ein Orakelheiligtum (und auch um sich) aufbaut, der »wandlungsreiche« Wanderungsweg des Peregrinos Proteus, und schließlich, als be­kanntestes Beispiel, das Leben des Apollonius von Tyana, des heidnischen Missionars und Wundertäters. Unter dem Titel »Freiheitshelden, Wahrsager und das Gedächtnis der (W)orte« wendet sich Ulrike Egelhaaf-Gaiser der Autorität von Erinnerungsorten in Texten von Gellius zu, zuerst dem Vergleich der Orte Athen und Rom, dann einer interessanten Geschichte um das Denkmal des Freiheitshelden Horatius Cocles.
Der Aspekt der Bildung kommt in den meisten Beiträgen auch vor. Ausdrücklich thematisiert wird das im Buchtitel benannte »Spannungsfeld von Bildung und Religion« im Beitrag des Kirchenhistorikers Peter Gemeinhardt. Er fragt nach dem christlichen Umgang mit der antiken Bildungstradition. Im Gegenüber zu Julian, der den schulischen Unterricht durch christliche Lehrer ablehnt, weil sie einen anderen Gott verehren als die im antiken Bildungsgut vorgestellten Götter, arbeitet Gemeinhardt heraus, wie sich bei Augustin die antike Schulbildung mit der Überzeugung von der Autorität der Heiligen Schrift verbindet. Mit Johannes Chrysostomos und mit Antonius stellt er dann zwei unterschiedlich akzentuierte Konzepte für den Umgang mit antiker rhetorischer und grammatischer Bildung bei der Ausbildung von Predigern vor. Denn die Autorität des Predigers setzt Kompetenz voraus, aber auch eine durch Demut und Lebenswandel gewonnene Glaubwürdigkeit.
Daran fügt sich der Schlussartikel gut an: Der Mediävist Steffen Patzold schreibt über Autoritäten in karolingischen Priesterbüchern. Diese Priesterbücher versammeln autoritative Texte der Kirchenväter, die den Priestern als den religiösen Experten und Erziehern ihrer Gemeinden die nötige Kompetenz geben und damit zugleich ihre Autorität sicherstellen sollen.
Allen Beiträgen ist ein Verzeichnis der benutzten Quellen und Sekundärliteratur beigefügt. Die Zitate aus den antiken Quellen werden im fortlaufenden Text in deutscher Übersetzung wiedergegeben und in den Anmerkungen im Urtext zitiert – eine gute Lösung.
Fazit: Ein interessantes Buch, das die vielschichtigen Aspekte von auctoritas in der Antike und der Alten Kirche gut herausarbeitet und das heutige Nachdenken über Autorität anregen kann.