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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1203-1205

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hirsch-Luipold, Rainer, and Robert Matthew Calhoun [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Origins of New Testament Theology. A Dialogue with Hans Dieter Betz.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XII, 285 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 440. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161595349.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Hans Dieter Betz, seit Jahrzehnten Neutestamentler in Chicago, ist in seiner Paulus-Interpretation immer eigene Wege gegangen. Von der »New Perspective on Paul« oder der Debatte um »Paul within Judaism«, die die letzten Jahrzehnte der internationalen Paulusforschung bestimmt haben, nahm er kaum Notiz. Aber auch der theologisch-hermeneutischen Paulusdeutung der herkömmlichen deutschsprachigen Exegese stand er spätestens seit seinem Weggang nach Amerika eher distanziert gegenüber. Demgegenüber war er primär an der Einordnung des Paulus in die griechische philosophische, speziell sokratische Tradition interessiert. Epochal war sein Kommentar zum Galaterbrief (amerik. 1979, dt. 1988), der mit seiner Orientierung an antiker Rhetorik eine neue Phase der Paulusbriefexegese einleitete. In jüngerer Zeit trat er mit Arbeiten zum Philipperbrief hervor, darunter einem Band mit gesammelten Studien (Studies in Paul’s Letter to the Philippians, Tübingen 2015).
Der vorliegende Band gibt sich als »Dialog mit Hans Dieter Betz« zu erkennen (so der Untertitel), der um die Frage nach dem Ur­sprung und den Konturen einer Theologie des Neuen Testaments kreist. Am Anfang steht ein umfangreicher Beitrag von B. (New Testament Theology. The Origin of a Concept, 7–92), auf den die folgenden Aufsätze mehr oder weniger explizit Bezug nehmen. Eine Einführung der Herausgeber, ein zweiter Beitrag von B. (The Reasons for Romans: Why Did Paul Write His Letter to the Romans?, 199–220) sowie umfangreiche Verzeichnisse und Register runden den Band ab.
In seinem einleitenden Beitrag entwickelt B. die originelle These, der Ursprung neutestamentlicher Theologie sei nicht in der Reflexion frühchristlicher Bekenntnistraditionen und schon gar nicht bei der vorösterlichen Verkündigung Jesu zu suchen, sondern vielmehr im Hymnus, den er als theologisch reflektierende Verarbeitung visionärer Erfahrungen versteht. Basis eines solchen Theologieverständnisses sei die Wortbedeutung von θεολογία als einem Prozess, nicht einer Gegenstandsbezeichnung, die auf den Wortgebrauch bei Platon zurückgeht. »Theologen« sind demnach Leute, die von Gott oder Göttern reden (θεο-λογέω), und zwar am angemessensten, wenn sie ihn oder sie hymnisch preisen. Als Re­präsentanten der Anfänge von Theologie im Neuen Testament gelten B. (hierin ganz nah bei Rudolf Bultmann) Paulus und Johannes. Deren »Hymnen« in Phil 2,6–11 und Joh 1,1–18 lassen am klarsten die Ursprünge neutestamentlicher Theologie erkennen. Während der paulinische Hymnus in Phil 2 auf eine frühpaulinische Stufe zurückgehe (obwohl B. den Philipperbrief als letzten, aus römischer Gefangenschaft geschriebenen Paulusbrief ansieht), auf der Paulus in liturgischer Sprache seine Berufungsvision hymnisch-reflektierend verarbeitet habe, spiegele sich im Logos-Hymnus am Beginn des Johannesevangeliums, der das christologische Fundament johanneischer Theologie terminologisch fixiert und hymnisch artikuliert, schon die begriffliche Weiterentwicklung philosophisch reflektierender Theologie, die dann in der christlichen Literatur des 2. und 3. Jh.s zu voller Blüte kommt.
Im Römerbrief, den B., wie gesagt, vor dem Philipperbrief da­tiert, sieht er einen λόγος προτρεπτικός, der die apologetische Konstellation des Galaterbriefes aufgreift und die in seiner Berufung wurzelnden und im Philipper-Hymnus artikulierten theologischen Grundüberzeugungen des Paulus im Blick auf bevorstehende Auseinandersetzungen in Rom rhetorisch ausformuliert. Diese im einführenden Beitrag nur knapp skizzierte agonistisch-rhetorische Interpretation des Römerbriefes (»a formidable rhetorical and theological agon«, 200) greift B. in seinem zweiten Beitrag noch einmal auf und vergleicht sie ausführlich mit zwei anderen »berühmten historischen Fällen von Diffamierung in der antiken Literatur« (210), nämlich der Passionsgeschichte bei Markus und Platons Apologie des Sokrates.
Nicht alle Aspekte dieser bisweilen staunenswerten Konstruktionen werden von den übrigen Autoren des Bandes aufgegriffen (die meisten Beiträge gehen auf eine Tagung in Bern im Jahr 2017 zurück, wo B. seine Sicht vorgetragen hatte). Mit den Thesen zum Philipperbrief setzt sich nur Samuel Vollenweider, zum Teil massiv kritisch, auseinander, der (mit der neueren Forschung) weder die Gattungszuschreibung von Phil 2 als Hymnus noch B.s philosophiegeschichtliche Einordnung des paulinischen Theologieverständnisses akzeptiert und am Ende (sehr knapp) seine eigene, höchst interessante Konzeption von Theologie des Neuen Testaments skizziert (Paläste und ihre Baupläne: Auf der Suche nach der Theologie des Neuen Testaments, 179–197). Die fehlende biblisch-frühjüdische Basis neutestamentlicher Theologie bei B. kritisiert Ulrich Luz in seinem Beitrag (Die biblische Tradition als Wurzelgrund neutestamentlicher Theologie: Eine Skizze, 139–156). Rainer Hirsch-Luipold verweist auf die mittelplatonische Rezeptionsstufe antiker philosophischer Traditionen, die Paulus und Johannes nicht nur zeitlich viel näher stehen als Platon und die Vorsokratiker, auf die sich B. meist bezieht (Theo-logy in John and in Early Imperial Platonism, 127–137). Luz und Hirsch-Luipold kritisieren zudem, dass B. seine Interpretation johanneischer Theologie allein auf den Logos-Hymnus beschränkt und die narrative Entfaltung johanneischer Theologie im Evangelium weitgehend außer Acht lässt.
Äußerst lesenswert sind auch die Beiträge von Gerd Van Ried (Theology and Religiosity in the Greek Pagan Tradition, 93–118), Johan C. Thom (Theology and Popular Philosophy, 119–126) und Harold W. Attridge (The Beginnings of Christian Theology, 157–178 [zum Hebräerbrief]), die zwar jeweils interessante Bezüge zum Bandthema neutestamentliche Theologie im Kontext antiker Philosophie aufweisen, aber nur am Rande auf B. und gar nicht aufeinander eingehen.
Insgesamt spiegelt der Band eine höchst anregende Debatte um die Theologie des Neuen Testaments und ihre Ursprünge, die von B. angeregt und mit außerordentlich faszinierenden Überlegungen befruchtet worden ist. Dafür gebührt diesem Altmeister neutestamentlicher Wissenschaft, der wie nur wenige heute in der antiken Geisteswelt ebenso wie in der aktuellen exegetischen Forschung zu Hause ist, Hochachtung, ja, durchaus Bewunderung.