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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1196-1199

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bühner, Jan-A.

Titel/Untertitel:

Jesus und die himmlische Welt. Das Motiv der kultischen Mittlung zwischen Himmel und Erde im frühen Judentum und in der von Jesus ausgehenden Christologie.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2020. 487 S. = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 65. Kart. EUR 98,00. ISBN 9783772087257.

Rezensent:

Michael R. Jost

Der Weg zu dieser Publikation ist ungewöhnlich. Die Studie geht zurück auf eine in Tübingen abgelehnte Habilitationsschrift, die in den Jahren 1977 bis 1983 bei Otto Michel geschrieben wurde. Von ihm übernahm Jan-A. Bühner auch drei hermeneutische Voraussetzungen: erstens, »dass man Jesus nur vom Himmel her verstehen« könne; zweitens, dass das Judentum ernstgenommen werden müsse, weshalb die Thematik des Himmels im Kontext des Tempelkultes zu verankern sei; und drittens, dass die Bibel ernstgenommen werden müsse, womit insbesondere das »Ernstnehmen der Geschichte« gemeint sei. Auf eine Aufarbeitung der Forschungssituation seit 1983 wurde verzichtet. »So ist diese Arbeit auch ein historisches Dokument« (11), wie der Vf. selbst festhält. Das Geleitwort von Klaus Berger, das vermutlich kurz vor seinem Tod am 8. Juni 2020 abgefasst wurde (und nicht im Oktober 2020, wie die Angabe am Ende weismachen will), nennt »es als ein Gebot der Gerechtigkeit gegenüber Dr. Bühner, dass seine große und aus meiner Sicht sehr wichtige Arbeit endlich publiziert werden kann.« (13)
Das Buch hat drei Hauptteile. Im ersten Hauptteil bietet der Vf. eine Hinführung zum Thema und skizziert Aspekte der Forschungsgeschichte. Darin legt er seine theologische Grundthese dar:
»[D]ie räumliche Dimension der biblischen Lehre von der in Himmel und Erde getrennten Schöpfung wehrt sich heftiger gegen alle Versuche, das Transzendente in den irdischen Geschichtsverlauf einzubinden, als eine rein zeitliche Eschatologie. Die Rede vom ›Himmel‹ benötigen wir, um Eschatologie vor dem Versinken in Immanenz zu bewahren. […] Neutestamentlich ergibt sich aus diesem in die biblische Schöpfungslehre eingebundenen Rückgriff auf den ›Himmel‹, dass Jesus als Pneumatiker deutbar wird. Wenn er der Anfänger der Bewegung ist, die die eschatologische Neuschöpfung mit dem gegenwärtigen Pneuma-Besitz verschränkt, dann gehört er bereits als Irdischer auch zur himmlischen Welt.« (22)
Die forschungsgeschichtlichen Anmerkungen widmen sich hauptsächlich der Frage der Zuordnung von Raum und Zeit. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der kultgeschichtlichen Betrachtung, an deren Ende der Vf. zum Ergebnis kommt, dass kaum noch ein Grund bestehe, »an dem das Himmlische, Räumliche und Kultische allein der hellenistischen Entwicklungs-Epoche des Urchris-tentums zuweisenden traditionsgeschichtlichen Schema der älteren Forschung festzuhalten. Dort, wo das Judentum als lebendige Kultreligion verstanden wird, begegnet man einem raum-zeitlichen Weltempfinden, in dem die aus Himmel und Erde bestehende Schöpfung in einer beide Schöpfungsräume umspannenden Ge­schichte zwischen Schöpfung und Neuschöpfung geschaut wird.« (58) Diese Erkenntnis wendet er anschließend auf die Frage nach dem irdischen Jesus an. In michelscher Weise resümiert er: »Man kann den Zugang zum Himmel, sofern man darin einen inneren Kern der Botschaft Jesu sehen will, nicht an der Apokalyptik vor-bei religionsgeschichtlich bestimmen. Die in der übrigen kultgeschichtlichen Forschung angedeutete Richtung, Jesu Vollmacht aus einer eschatologischen und ins Himmlische reichenden Voll endung des jüdischen Kultes, Jesus als himmlisch-eschatologischen Hohenpriester zu sehen, hat die historische Wahrscheinlichkeit auf ihrer Seite.« (80–81) Dies will der Vf. in der Folge nachweisen.
Im zweiten Hauptteil wird die Rezeption des Motivs der kultischen Mittlung zwischen Himmel und Erde im frühen Judentum unter vier Gesichtspunkten skizziert. Zunächst wird die Bedeutung des Tempels erschlossen, danach die »vorrabbinisch, pharisäische Rezeptionslinie«, wobei der wahre Aaron-Dienst und sein Bezug zum Himmel gemäß Mischna Abot 1 aufgearbeitet werden. Weit ausführlicher folgt darauf die apokalyptische Rezeptionslinie (113–181). Als Quellentexte werden zentral 1Hen und TestXII (Levi-Tradition) diskutiert. Die Qumranschriften, die er in der gleichen Rezeptionslinie sieht, werden aber nicht eigens betrachtet. Inhaltlich folgert er, dass hinter dem irdischen Kultus eine eigentliche, heilige himmlische Kultsphäre liege und dass die endzeitliche Vollendung nach dem Muster der Zions-Verklärung ge­schehe. Darauf folgt als vierte Rezeptionslinie die »charismatisch-praktische«, was anhand der rabbinischen Überlieferung über »Choni der Kreiszeichner« bis »Eleasar ben Pedat« erschlossen wird (183–239). Diese Erkenntnisse werden in einem kurzen letzten Ab­schnitt bereits ins Verhältnis zum historischen Jesus gesetzt. Wichtig sei, »dass das Judentum zur Zeit Jesu längst Bewegungen kannte, die den Anspruch des Jerusalemer Kultus aus- und umdeuteten« (241), wobei die Menschensohn- und die Vater-Sohn-Tradition vom Vf. hervorgehoben werden, die er als zu einem gemeinsamen Sachzusammenhang gehörig bezeichnet. Der zweite Hauptteil endet mit der These, die er im dritten Hauptteil nachweisen will: »Jesus als Sohn, der Zugang hat zum Haus des Vaters, und als Menschensohn, der seine Herrschaft durch das Leiden hindurch und in der Gestalt des Leidens am Kreuz antritt – diese beiden zentralen Ersetzungen der jüdischen Tempeltheologie gehen im Kern auf den irdischen Jesus zurück.« (245)
Dieser These entsprechend ist der dritte Hauptteil aufgebaut. Der Vf. leitet von der Rede vom Beelzebul (als »Herr der himmlischen Wohnung«) mit Rückgriff auf Dan 7 zur Menschensohn-Rede über (als »Throngenosse Gottes, der im Sebul residiert und im Lichte der Würde eines himmlischen Hohenpriesters gesehen wird«, 257). Hinter dem Beelzebul-Vorwurf stehe »positiv Jesu Menschensohn-Anspruch« (269). Daraufhin wird der Menschensohn zunächst als himmlischer Hohepriester in der Stephanus-Tradition, in den Sendschreiben der Apokalypse des Johannes, dem Hebräerbrief und dem Johannesevangelium untersucht, und in einem weiteren Abschnitt die kultischen Züge der Menschensohn-Rede der Synoptiker herausgearbeitet (inkl. einem längeren Exkurs zur Frage, ob Jesus von einem himmlischen Menschensohn gesprochen haben konnte). Danach folgt die Betrachtung der pneumatisch-visionären Grundlage der Vollmacht Jesu (u. a. Taufgeschichte und Verklärung), die er als Hinweis der Zugehörigkeit des Sohnes zum Haus des Vaters versteht. Die Arbeit schließt mit einer Zu­sammenfassung des Kapitels und den Ergebnissen der Untersuchung. Im zweiseitigen Nachwort des Vf.s aus dem Jahr 2020 wird schließlich die Frage nach der Verbindung zum »mandäischen Baptismus« aufgeworfen. In dieser Kürze hätte man aber besser auf diesen spekulativen Abschluss verzichtet. Der Monographie ist ein Literaturverzeichnis angehängt. Auf Register wurde dagegen verzichtet.
Die Arbeit bietet somit eine thematisch vielschichtige Untersuchung. Ausgehend von der These der himmlischen Zugehörigkeit Jesu werden kühn verschiedene Topoi und Traditionsstränge zu­sam­mengeführt. Der Zugang zum Himmel wird ausgehend vom Tempelkult und damit verbunden mit dem priesterlichen Dienst besprochen. Der Menschensohn als himmlische Gestalt wird mit der Engelwelt kombiniert und dann auf Jesus angewandt: »Jesus ist mit seinem besonderen Engel, dem Menschensohn, verbunden: beider Identität wirkt reziprok.« (453) Diese Engel-Tradition wiederum korreliere mit dem Anspruch der Sohn-Würde. »Als Sohn gehört er in das himmlische Haus des Vaters, hat er Zugang vor das Angesicht des Vaters und nimmt an seiner Herrschaft über die Schöpfung teil.« (436) Durch diese Integration unterschiedlicher Motive liefert diese Arbeit innovative Impulse zur kultischen Deutung Jesu im Kontext des Frühjudentums und beseitigt in der Forschung unnötig kreierte Dichotomien (wie z. B. Kultus und Apokalyptik). Weil sich aber die religions- und traditionsgeschichtlichen Thesen bereits aus den Einsichten der Forschungsgeschichte ableiten lassen, werden am Ende wenig überraschend die engsten Beziehungen der Jesus-Tradition zu kultapokalyptischen Kreisen des Judentums gesehen (454). Die historische Rekonstruktion der einzelnen Motivverschränkungen kann darum hinterfragt werden. Um die Ergebnisse ins gegenwärtige Gespräch einbinden zu kön nen, bedürfen sie zudem einer Aktualisierung. Einerseits bieten neue Quellentexte vertiefte Einblicke in die Thematik der himmlischen Welt, wie die Schriftrollen vom Toten Meer (z. B. Sabbatopferlieder). Andererseits wird auch die himmlische, hohe Christologie inzwischen differenzierter betrachtet (z. B. Ruben Bühner, Hohe Messianologie. Übermenschliche Aspekte eschatologischer Heilsgestalten im Frühjudentum, WUNT II/523, Tübingen 2020). Dennoch wird die kultische Dimension und die Bedeutsamkeit der himmlischen Welt im Frühjudentum gerade von der Qumranforschung bestätigt, weshalb die Arbeit trotz manch gewagter Verbindung auch nach 40 Jahren mit Gewinn gelesen werden kann.