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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1195-1196

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bell, Lonnie D.

Titel/Untertitel:

The Early Textual Transmission of John. Stability and Fluidity in its Second and Third Century Greek Manuscripts.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. 268 S. = New Testament Tools, Studies and Documents, 54. Geb. EUR 110,00. ISBN 9789004360754.

Rezensent:

Jörg Frey

Es ist eine in der neutestamentlichen Wissenschaft verbreitete Auffassung, dass der Text der neutestamentlichen Schriften in der Frühzeit – vor dem 4. Jh. – frei, instabil oder gar nachlässig überliefert worden sei. Die Vertreter dieser Sichtweise reichen von F. J. A. Hort bis zu Helmut Koester, William Petersen und David Parker. Die vorliegende Studie, eine bei dem 2019 verstorbenen Larry Hurtado in Edinburgh angefertigte Dissertation, unterzieht diese Auffassung einer detaillierten Überprüfung. Gegenstand dieser Überprüfung ist der Text des Johannesevangeliums, für das von allen neutestamentlichen Texten die größte Zahl früher Handschriften erhalten ist. Es geht Lonnie D. Bell um die Frage, in welchem Maße in der Frühzeit der Textüberlieferung des Johannesevangeliums textliche Stabilität oder textliche Fluidität anzunehmen ist.
B. zieht für seine Studie die in das 2. oder 3. Jh. zu datierenden Papyri, d. h. die umfangreicheren Papyri P45, P66 und P75, sowie die nur in kleineren Fragmenten erhaltenen Papyri P5, P22, P28, P39, P52, P90, P106, P107, P108, P109, P119, P121 sowie das noch ins 3. Jh. zu datierende Majuskel-Pergamentblatt 0162 heran. Den vermutlich späteren Papyrus P80 lässt er beiseite. Dabei fungieren die großen Papyri, vor allem P66 und P75, als frühe Vergleichsgrößen, die mit den kleineren Papyrusfragmenten Überlappungen aufweisen, so dass mit ihrer Hilfe der Text der kleineren Papyrusfragmente hinsichtlich des Grades ihrer Abweichung und damit der Variabilität des Textes untersucht werden kann.
In seiner Einführung erläutert B. zunächst seine Fragestellung auf dem Hintergrund der älteren und neueren Textforschung, präsentiert sein methodisches Vorgehen und bietet spezielle Überlegungen zu den üblicherweise als Repräsentanten eines »freien Textes« eingeordneten Papyri P45, P66 und P75. Für jeden einzelnen der kleinen Papyri wird zunächst bestimmt, welche Varianteneinheiten darin enthalten sind, dann werden die hier belegten Varianten und ggf. Singulärlesarten aufgelistet und zunächst nach »inneren Gründen« der Textkritik reflektiert und kommentiert. So können die »unwahrscheinlichen«, d. h. eher auf einer Veränderung des Ausgangstextes beruhenden Lesarten dementsprechend eingestuft werden, ob die in ihnen vorliegende Veränderung als intentional (Harmonisierung, sprachliche Verbesserung etc.) oder als nichtintentional (Verschreibung, aberratio oculorum etc.) anzusehen ist. Aus dem Verhältnis dieser Kategorien lassen sich erste Folgerungen im Blick auf die Sorgfalt der Überlieferung ziehen.
In einem zweiten Schritt wird dann jeder der kleinen Papyri mit dem Text der anderen frühen Handschriften bis zum 7. Jh. verglichen, und die Übereinstimmungen und Nicht-Übereinstimmungen in den Varianten werden quantitativ ausgewertet, so dass sich auch diachron ein Wert zur Bestimmung von der Kontinuität oder Fluidität der Textüberlieferung ergibt.
Alle behandelten Papyri werden sorgfältig und im Blick auf die neueste Fachdiskussion eingeführt. Dabei ist B. frei von den im Fachdiskurs oft auffälligen Tendenzen einer generellen Früh- oder Spätdatierung. Selbst eine Ansetzung von P52 ins frühe 3. Jh. lässt er offen, wenngleich er eine Ansetzung in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s für wahrscheinlicher hält (38). Es geht B. auch nicht um den »ursprünglichsten« Text des Johannesevangeliums, vielmehr bleibt in seiner Untersuchung des Grades von Fluidität und Stabilität die Frage nach dem wahrscheinlichsten Ausgangstext ausgeklammert. Die Ergebnisse werden letztlich durch die (nach »inneren« Gründen der Textkritik reflektierte) Einschätzung hinsichtlich der In­tentionalität oder Nicht-Intentionalität der entstandenen Vari­anten sowie die diachron verglichenen Zahlenverhältnisse von Übereinstimmung und Nicht-Übereinstimmung der Varianten erreicht.
Das Ergebnis der Studie ist deutlich und auch nicht überraschend. Die Sichtweise einer in der Frühzeit »wilden«, unsorgfältigen oder völlig fluiden Textüberlieferung lässt sich angesichts der Zeugen des Johannesevangeliums aus dem 2. und 3. Jh. nicht bestätigen. Auch die frühe Textüberlieferung ist – trotz gelegentlicher Singulärlesarten und der Tendenz einzelner Schreiber zu sprachlichen oder sachlichen »Verbesserungen« – im Ganzen keineswegs frei oder wild, sondern durchaus als »konservativ« einzustufen.
Die Studie ist einerseits ein willkommener Beitrag zur Untersuchung der johanneischen Textzeugen und andererseits ein methodisch sehr reflektierter und am Material solide begründeter Beitrag zur neutestamentlichen Textkritik, die zeigt, wie viele verbreitete Urteile in diesem Bereich auf vorschnellen Vermutungen beruhen und durch eingehende Berücksichtigung des in den letzten Jahren stetig angewachsenen Materials korrigiert werden können.