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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1193-1195

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Zapff, Burkard M.

Titel/Untertitel:

Micha. Red.: R. Klein.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 269 S. = Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 89,00. ISBN 9783170254381.

Rezensent:

Rainer Kessler

Mit Burkard Zapff hat sich ein Forscher der Kommentierung des Michabuches im IEKAT angenommen, der seit fast einem Vierteljahrhundert intensiv zu Micha, zum Zwölfprophetenbuch sowie zur Prophetie insgesamt gearbeitet hat. Die dadurch erworbene enorme Textkenntnis spürt man dem Kommentar auf jeder Seite ab. Wie sehr Z. die Forschung dabei vorangetrieben und früher von ihm vertretene Positionen, die eher dem damaligen Konsens entnommen waren, revidiert und weiterentwickelt hat, zeigt ein Vergleich zwischen seiner 1997 veröffentlichten Habilitationsschrift »R edaktionsgeschichtliche Studien zum Michabuch im Kontext des Dodekapropheton« und der jetzt vorliegenden Kommentierung.
Was die Michaschrift selbst angeht, sieht Z. drei Stufen der Entstehung. Stufe 1 bilde das Städtegedicht Mi 1,8.10–16*; neben ihm gingen einige sozialkritische Worte, besonders in den Kapiteln 2 und 3, auf den namengebenden Propheten des 8. Jh.s zurück, die aber allesamt im heutigen Kontext stark bearbeitet vorliegen. Stufe 2 bildete die eigentliche produktive Phase. Erst auf dieser Stufe entsteht nach Z. die Michaschrift, und zwar von Anfang an im Kontext eines ebenfalls in Entstehung begriffenen Mehrprophetenbuches. Zu dieser ältesten Michaschrift gehören – hier weicht Z. stark von einem breiten Konsens vor allem der deutschsprachigen Forschung ab – nicht nur die Kapitel 1–3*, sondern auch der Text von der Völkerwallfahrt zum Zion, der Vers 4,14 in einer ursprünglichen Form sowie 5,9b–13 und schließlich wesentliche Elemente aus Kapitel 6. Dieses ursprüngliche Michabuch, das erst nach der Katastrophe von 586 v. Chr. entstanden sei, stehe von Anfang an im Kontext anderer prophetischer Bücher. Es setze insbesondere die Lektüre von Hosea und Amos voraus, stelle Micha aber auch in das Licht Jesajas (indem etwa 4,1–3.4 aus Jes 2 entnommen worden sei). Die dritte und letzte Stufe, die eine weitere umfassende Fortschreibung darstellt, beziehe zuletzt die Michaschrift auf die sie umgebende Jona- und Nahumschrift.
Der Charme von Z.s Rekonstruktion gegenüber anderen Darstellungen liegt darin, dass er mit weit weniger Stufen auskommt als die meisten. Der Preis dafür aber ist hoch. Denn die drei Stufen, die Z. findet, liegen jeweils rund 200 Jahre auseinander. Wenn es im Städtegedicht von Mi 1 und in Mi 2 und 3 einen »Kernbestand der sich wohl auf die Verkündigung des historischen Propheten Micha im letzten Drittel des 8. Jh. v. Chr. zurückführen lässt« (63), gibt, wie soll man sich vorstellen, dass diese Texte, die ausdrücklich noch keine »Michaschrift« bildeten, mindestens 200 Jahre tradiert wurden, um dann frühestens nach den Ereignissen von 586 v. Chr. zu einer Michaschrift zu werden, die zudem noch ein werdendes Mehrprophetenbuch voraussetzt? Leider gibt der Kommentar darauf keine Antwort.
Z. glänzt darin, wie er auf Bezüge zwischen den einzelnen Texten innerhalb der Michaschrift hinweist. Die Beschreibung dieser internen Verflechtungen stellt die Geschlossenheit des Michatextes vor Augen, wenn man seine Endgestalt betrachtet (ohne dass Z., wie gesehen, die Entstehungsgeschichte außer Acht ließe). In deren Darstellung liegt eine große Stärke des Kommentars. Dass für den hinter den Texten erkennbaren Micha des 8. Jh.s nicht viel übrigbleibt, haben wir gesehen. Dankenswerterweise legt Z. das Kriterium offen, nach dem er dabei vorgeht: »Nur für die Texte, die nicht in einer Beziehung zu Hosea, Amos und Jesaja stehen und überdies kein exilisches oder nachexilisches Kolorit zeigen, wird erwogen, inwieweit sie möglicherweise dem Propheten des 8. Jh. v. Chr. zugeschrieben werden können« (17). Dieses Kriterium erinnert fatal an die ältere Jesusforschung, der zufolge von Jesus nur stammen könne, was nicht in einer Beziehung zum Judentum und zum Hellenismus stehe und überdies kein nachösterliches Kolorit zeige. Z. rechnet nicht mit der Möglichkeit eines prophetischen oder Schreibermilieus, in dem Texte entstanden und tradiert wurden, die sich gegenseitig beeinflusst haben. Micha ist durchweg der nehmende Teil, und deshalb kann nach dem genannten Kriterium für ihn nicht viel übrigbleiben.
Das wirkt sich besonders da aus, wo Z. die Verflechtungen der Michaschrift mit anderen prophetischen Schriften – insbesondere denen von Hosea, Amos und Jesaja, daneben auch Jeremia und auf der 3. Stufe Jona und Nahum – betrachtet. Wie bei den innermichanischen Verknüpfungen ist zunächst festzuhalten und zu un­terstreichen, dass die von Z. mitgeteilten Beobachtungen einen gewaltigen Reichtum darstellen. Seine lange Beschäftigung mit den einschlägigen Texten führt ihn zu Erkenntnissen, die immer wieder überraschen. Der Kommentar ist hier eine schier unerschöpfliche Quelle.
Man darf Z. auch nicht unterstellen, dass er die Bezüge zwischen den Texten nicht differenziert sieht. Zumindest legen das seine Formulierungen nahe. Das wiederholte »synchron gelesen« (z. B. 36.37.193) rekurriert auf die Leseperspektive. Das gilt auch für die Formulierung, eine bestimmte Phrase bei Micha »erinnere an« eine entsprechende bei Amos (z. B. 49). Die Rede von »Beziehungen« (z. B. 67.81) oder »Bezugnahmen« (z. B. 212) lässt deren Interpretation offen. Daneben stehen Texte, wo Z. von einem Bezug spricht, der »beabsichtigt zu sein« scheint (45), oder gar von »schriftgelehrten Bezügen« (z. B. 73.104). An manchen Stellen formuliert er klar, ein bestimmter Michatext habe die Kenntnis anderer Texte als Voraussetzung oder notwendigen Wissenshintergrund (z. B. 40.43). Aufs Ganze gesehen dominiert der Eindruck, dass bei aller Vorsicht in den Formulierungen von Z. letztlich doch in allen wesentlichen Punkten der Michatext von anderen Texten abhängig und von ihnen beeinflusst ist. Ganz deutlich wird das in Aussagen, wonach »Micha als Zeitgenosse und Begleiter Jesajas stilisiert« werde (82), seine Auseinandersetzung mit den Propheten (2,6–11) »nach dem Vorbild« bei Amos (7,10–17) und Jesaja (28,7–15) »gestaltet« sei (93) oder Micha schlicht zum »Amos des Südreiches« werde (z. B. 129.221). Mit dieser Deutung muss man Z. auch nichts unterstellen, denn zwei seiner Aufsätze tragen die Titel »Wie Micha zu Jesaja wurde« und »Ist Micha der Amos des Südreiches?«
Nun sind die Bezüge zwischen Micha und anderen Prophetenschriften gar nicht zu leugnen, und man muss auch überhaupt nicht bestreiten, dass in etlichen Fällen Micha der nehmende Teil ist. Aber ist er das immer, wie Z. suggeriert? Ich nenne nur einige Beispiele, wo Fragezeichen angebracht sind. Dass die Phrase »denn eine böse Zeit ist es« in Mi 2,3 »ein schriftgelehrter Bezug auf Am 5,13b« sei (mit einschränkendem »möglicherweise«) (73) überrascht, gilt Am 5,13 doch den meisten als sehr später Kommentar in Amos 5. Dass es sich bei Michas Auseinandersetzung mit den Falschpropheten (2,6–11; 3,5–8) »um eine Stilisierung handelt, die die Gestalt des (literarischen) Micha an die des Jeremia heranrückt« (114), kann man sicher auch umgekehrt sehen; in Georg Fischers Jeremiakommentar (HThKAT) ist es in der Regel so, dass sich der Jeremiaautor an der übrigen prophetischen Literatur bedient. Bei der in einem Nebensatz untergebrachten Bemerkung, »der Völkerwallfahrtstext in Mi 4,1–3« sei »aus dem Jesajabuch übernommen« (138), hätte man sich doch eine Auseinandersetzung mit denjenigen Positionen ge­wünscht, die den Michatext für den älteren halten. Als letztes Beispiel sei Z.s Kommentar zu dem Satz »ich habe dich hinaufgehen lassen vom Land Ägypten« in Mi 6,4 angeführt. Die Wendung steht in der Tat ähnlich in Am 2,10; 3,1 und 9,7. Aber der Schluss, dass dies »auf eine literarische Abhängigkeit [deutet]«, kommt doch recht schnell, zumal Z. gleich im folgenden Satz feststellt, dass es sich hier »um formelhafte Sprache« handle (198).
Es bleiben also Fragezeichen an dem Drei-Stufen-Modell mit seiner großen Skepsis gegenüber einer frühen Form einer Michaschrift und die Anfragen an die Deutung der zahlreichen Bezüge zwischen Micha und den Schriften anderer Propheten. Dennoch stellt Z.s Rekonstruktion der Entstehung des Michabuches eine anregende Herausforderung dar und bleibt sein Aufweis intertextueller Bezüge auch unabhängig von ihrer Deutung ein unermesslicher Schatz, den man bei der weiteren Arbeit an Micha nicht ungenutzt lassen sollte.