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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

549–552

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wabel, Thomas

Titel/Untertitel:

Sprache als Grenze in Luthers theologischer Hermeneutik und Wittgensteins Sprachphilosophie.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. XVIII, 434 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 92. Lw. DM 228,-. ISBN 3-11-015863-9.

Rezensent:

Regine Munz

Die 1996 an der Universität Heidelberg angenommene Dissertation über die Sprachphilosophie Wittgensteins und die theologische Hermeneutik Luthers beschäftigt sich mit der Schwierigkeit, die hermeneutischen Grundlagen des Kommunikationszusammenhangs zu bedenken, welcher die Möglichkeit dieser Reflexion erst bedingt. Die umfangreiche Studie will Wittgensteins Philosophie als methodische Brille verwenden, um bestimmte Pointen in Luthers Theologie besser erkennen zu können. Statt eines simplen Vergleiches wird als Ziel des Unternehmens angegeben, eine sachliche Analogie strukturell vergleichbarer Argumentationsweisen zwischen den beiden Denkern herauszuarbeiten, um danach die Bedingung der Möglichkeit umreißen zu können, Kriterien für eine theologische Auslegung der Bibel zu gewinnen.

Doch erstmal tun sich gewaltige Unterschiede bei beiden Denkern auf: Philosophierte Wittgenstein vordergründig voraussetzungslos (genauer: er stand jeder Lehre - und dazu gehört auch die Theologie - prinzipiell ablehnend gegenüber), schrieb Luther von einer dezidiert christologischen und auf den Eigensinn der Bibel bedachten Warte aus. "So, wie sich bei Wittgenstein die Sprache als Grenze der menschlichen Erkenntnis über Sprechen und Verstehen erweist, ist hier [bei Luther] zu erwarten, daß die Schrift der Reflexion über ihre angemessene Auslegung immer schon vorausliegt" (147). Überdies nimmt Wabel an, dass "der Offenheit von Wittgensteins methodischen Kriterien sprachphilosophischer Grundlagenreflexion in der Schriftauslegung eine innere Unabgeschlossenheit der inhaltlichen Kriterien schriftgemäßer Exegese entspricht" (147). Die so bestimmte strukturelle Analogie entbindet den Vf. davon, das Problem der unterschiedlichen historischen Kontexte beider Denker und ihrer Texte eingehend zu untersuchen. Der Vf. räumt allerdings ein, dass Augustin eine Brücke bilden könnte, um Gemeinsamkeiten zwischen Luther und Wittgenstein herauszudestillieren, da bekanntlich die "Philosophischen Untersuchungen" mit einem Zitat aus den "Confessiones" beginnen.

Im ersten Teil "Die Überwindung philosophischer Mißverständnisse durch die Besinnung auf die Unhintergehbarkeit der Sprache in Wittgensteins Spätphilosophie" bilden besonders Texte aus Wittgensteins "Spätphilosophie" den Gegenstand der Untersuchung. Deutlich wird, dass der Vf. von einem spannungsgeladenen Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität im Werk Wittgensteins ausgeht. Der Diskontinuität wird allerdings größeres Gewicht beigemessen. Wittgenstein habe, so der Vf., seinen früheren, im "Tractatus logico-philosophicus" profilierten Ansatz zwar nicht radikal abgelehnt, jedoch im "Tractatus" sein eigenes Ziel verfehlt, durch philosophische Erklärungen die Sprachlogik sich selbst erklären zu lassen. Glaubte Wittgenstein im "Tractatus" noch, die Logik der Sprache selbstevident zur indirekten Darstellung gebracht zu haben, so habe er in einem radikalen Neuanfang erkannt, dass das Problem der "übersichtlichen Darstellung" verschiedener Sprachformen "nur durch eine Vielzahl sich jeweils aus konkreten philosophischen Problemen ergebenden Bemerkungen zu erreichen" (41) sei. Anstatt eine Theorie über Verstehen zu entwerfen, beschäftige sich Wittgenstein mit der philosophischen Verstehensvorgängen inhärenten Schwierigkeiten, die u. a. der Neigung geschuldet seien, einen "vorgegebenen Sprachzusammenhang in der Suche nach Vergewisserung über diesen Sprachzusammenhang zu hinterfragen" (23). Indes könne Philosophie nicht von einem Standpunkt außerhalb der Sprache zur Metaphilosophie werden, von dieser Forderung nimmt der Vf. das Schreiben Wittgensteins nicht aus (eine vergleichbare "Innenspannung" diagnostiziert der Vf. auch bei Luthers christologischer Schriftexegese). Er enttarne in seiner sich als unabschliessbarer Klärungsarbeit verstehenden Spätphilosophie die Forderung nach einer letztbegründlichen Erklärung alltagssprachlicher Praxis als aussichtslosen Versuch, die Grenze der Sprache zu übersteigen (102). Daraus folge zum einen die "kritische Stoßrichtung" der Philosophie Wittgensteins: "Das Ziel der Philosophie ist es, eine Mauer dort zu errichten, wo die Sprache ohnehin aufhört" (Wittgenstein, "Big Typoskript"), zum anderen die spezifische Methode[n?] der übersichtlichen Darstellung, sowie der "Grammatischen Bemerkungen", womit Wittgensteins Philosophieren der Forderung nach Selbstbezüglichkeit gerecht werde. Die Inkonsistenzen von Wittgensteins nachtractatischen Aussagen werden dabei vom Vf. nicht thematisiert sondern vielmehr mit Hilfe des Leitmotivs "Unverfügbarkeit der Sprachvoraussetzungen für die philosophische Reflexion" (138) harmonisiert. Dabei werden vom Autor wichtige Arbeiten zur Darstellungsweise und zur Methode Wittgensteins ignoriert (beispielsweise M. Kroß, Klarheit als Selbstzweck. Wittgenstein über Religion, Ethik und Gewißheit, Berlin 1993).

Luthers Reflexion über eine angemessene Auslegung biblischer Texte und seine Ablehnung des Sensus proprius, des in die Schrift hineingetragenen eigenständigen Beitrages des Menschen zum Verständnis des Wortes Gottes, könne, so die Hauptthese der Lutherexegese, durch die methodische Brille Wittgensteins gelesen werden. Im zweiten Teil "Die Überwindung des sensus proprius durch den Aufweis der Unhintergehbarkeit der Christusoffenbarung in Luthers Theologie der Schriftauslegung" soll jene neue, sprachphilosophisch geschärfte Sicht ergeben, "daß die zu ermittelnden Kriterien schriftgemäßer Exegese nicht wiederum den vorgegebenen Zusammenhang biblischen Sprechens von Gott umgreifen und so hinter diesen zurückgehen" (146). Textgrundlage hierfür bilden besonders Luthers Argumentation in der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche um 1520/21: "De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium", "Assertio omnium articulorum" und "Auf das überchristlich und überkünstlich Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort", die aus exegetischen Kontroversen resultierenden Texte "Rationis Latomianae confutatio" (1521), "De servo arbitrio" (1525) und "Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis" (1528) sowie die späten christologischen Disputationen "De sententia: Verbum caro factum est" (1539) und "De divinitate et humanitate Christi" (1540).

Zwei der Bibel selbst entnommene Denkfiguren Luthers sieht der Vf. als entscheidende Kriterien für die Zurückweisung der auslegerische Autonomie dem Text gegenüber und für die Verortung der Auslegungskriterien der Schrift in der Schrift selbst bzw. in ihrem Geist: das Solus Christus (Christus als Mitte der Schrift), welches die Grundlagen einer theologischen Grammatik bildet, sowie die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Der christologische Grundzusammenhang, welcher die Rede von Gott ermöglicht, werde zum Kriterium für die christusgemäße und damit schriftgemäße Rede von Gott. Luthers dergestalt inhaltliche Bestimmung des Auslegungskriteriums sei, so der Vf., ein Mittel, um "die Unabschließbarkeit des Gegenstandes theologischer Rede in dieses Reden selbst hinein zu verlegen" (381). Die sich besonders auf die sprachphilosophische Argumentationsweise fokussierende Lutherexegese des Vf.s bleibt gleichwohl in dem Gegensatzpaar Gesetz und Evangelium befangen. Es wird zwar variantenreich betont, dass die Grenzen verantwortlicher theologischer Rede von Gottes Wort bei Luther präzise durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bestimmt sind, indes bleibt die Reflexion darüber aus, ob nicht dieser Unterscheidung selbst wiederum der Rang einer Metaphernbildung reformatorischer Theologie lutherischer Prägung zukommt, die einer eingehenden Klärung zugeführt werden müsste.

Im Schlussteil versucht der Vf., nach einem vergleichenden Blick auf das hemeneutische Konzept Gadamers die These zu erhärten, dass in "Sprachphilosophie und in philosophischer Hermeneutik Fragestellungen auftreten, die der Überwindung des sensus proprius als einem Grundproblem theologischer Hermeneutik entsprechen" (359). Überdies werden mit Bezug auf Luther und Wittgenstein Kriterien für die Problematisierung dessen, was als schlichtes einfaches oder voraussetzungsfreies Verstehen zu gelten hat, formuliert: "Auch von einer theologischen Hermeneutik ist zu fordern, dass sie auf den Rückgang hinter die durch die Sprache gesetzte Grenze verzichtet" (331). In der Zurückweisung des Versuchs, eigenmächtig hinter einen "vorgängig gestifteten Zusammenhang" (331) zurückzugehen, sieht der Vf. Gemeinsamkeiten zwischen Luther und Wittgenstein. Beide seien sich über die Selbstbezüglichkeit ihres Vorgehens im Klaren, woraus eine "sachlich begründete Zirkularität", welche die innere Widersprüchlichkeit in die Reflexion hineinnimmt, und eine inhaltlich und methodische Unabgeschlossenheit des Vorgehens beider resultiere. Während Luther jedoch die Klarheit des Verständnisses der Leistung des Menschen entzog, verstand Wittgenstein seine Arbeit immer als Klärung und zugleich als Klärung des Sinns dieser Klärungen, womit die Frage nach Sprache und Stil verknüpft ist, mit denen diese Klärungen vorgebracht werden. Hierin liegt die vom Vf. missachtete grundlegende Differenz beider Sprachdenker: Luther hätte seine hermeneutischen Reflexionen wohl kaum als misslungen betrachtet, während Wittgenstein mit dem von ihm methodisch-stilistisch Erreichten nicht zufrieden war, was sich nicht zuletzt darin manifestiert, dass er nach dem "Tractatus" und dem "Wörterbuch für Volksschulen" kein Buch mehr zu Veröffentlichung freigab.

Die teilweise repetitiven Zusammenfassungen und Voranzeigen machen jeweils den Stand und das Ziel des weiteren Vorgehens der Arbeit deutlich. Ihrer wohltuenden Leserfreundlichkeit stehen besonders im Lutherteil der Arbeit schwer zugängliche, hochartifiziell montierte Textpassagen gegenüber, welche zum überwiegenden Teil Auszüge von Originalquellen und Sekundärliteratur zusammentragen. Da generell in der Orginalsprache zitiert wird, unterbrechen die in den Text eingestreuten längeren lateinischen Zitate Luthers den Textfluss unangenehm, zumal sie weniger im Einzelnen paraphrasiert und analysiert, denn metatheoretisch überstiegen werden. Ist diese hermeneutische Erschwernis nun ein präzise plazierter Stolperstein, der - den wittgensteinschen Beulen gleich - erkenntnisfördernd wirken soll? Oder ist das Ziel dieses Unterfangens, die lateinische Sprache als Grenze zu setzen, hinter die eine weniger an reformatorischen denn an modernen Theoriezusammenhängen geschulte akademische Leserschaft nicht hinausschreiten sollte, und somit als eine Verstehensverdunkelung gedacht? Die fachliche Kompetenz, welche sich in der klar ambitionierten Arbeit zeigt, soll indes nicht bestritten werden.