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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1169-1172

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Tyrell, Eva

Titel/Untertitel:

Strategies of Persuasion in Herodotus’Histories and Genesis – Kings. Evoking Reality in Ancient Narratives of a Past.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2020. X, 302 S. = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 195. Geb. EUR 116,00. ISBN 9789004427976.

Rezensent:

Michael Pietsch

Die Studie stellt die überarbeitete Fassung von Eva Tyrells Promotionsschrift dar, die im Rahmen eines internationalen Kooperationsprogramms zwischen den Universitäten in Bern und Tel Aviv erstellt und von René Bloch, Ernst Axel Knauf (beide Bern) und Jonathan Price betreut worden ist. Ausgehend von dem Konzept einer »intentionalen Geschichtsschreibung« (H.-J. Gehrke) fragt die Vfn. nach den rhetorischen Mitteln, mit denen Herodot und die Verfasser des »Enneateuch« (Gen bis 2Kön) ihre Adressaten von der Plausibilität und Zuverlässigkeit ihrer jeweiligen Geschichtserzählung bzw. -interpretation zu überzeugen versuchen. Zu diesem Zweck zieht die Vfn. vor allem narratologische Analyseverfahren heran, während historische oder archäologische Fragen nur am Rande behandelt werden.
Die klar strukturierte und gut lesbare Untersuchung ist in drei Hauptteile gegliedert, von denen der erste die Wahl des Unter-suchungsgegenstandes und das methodische Design der Arbeit erläutert (»Part 1: Premises and Concepts«, 1–56). Beide Werke, Herodots Historien und der »Enneateuch«, gehören zu den frühes-ten literarischen Geschichtserzählungen der mediterranen Welt und entstammen dem soziologischen Milieu der gebildeten Eliten (literati) der Perserzeit. Trotz kultureller Differenzen, unter denen die Unterscheidung von Autoren- (Herodot) und Traditionsliteratur (Gen bis 2Kön) besonders zu beachten ist, können in beiden vergleichbare Strategien beobachtet werden, mit denen die Verfasser ihre eigene Geschichtsinterpretation im kritischen »Gespräch« mit ihren Adressaten darlegen. Dabei ermöglicht ein komparatistischer Ansatz, wie ihn die Vfn. unternimmt, kulturspezifische und kulturübergreifende Stilmittel der Geschichtsschreibung zu un­terscheiden, ohne diese von vornherein einer generalisierenden Ge­schichtstheorie unterzuordnen. Dies eröffnet nicht zuletzt einen unbefangenen Blick auf die Eigenart der biblischen Historiographie.
Hier setzt sich die Vfn. vor allem mit den Einwänden von E. Blum auseinander, der die biblische Traditionsliteratur aufgrund ihrer »Anonymität« strikt von Historiographie unterscheiden will. Dagegen kann mit Recht eingewandt werden, dass auch im Werk Herodots unterschiedliche Sprecherperspektiven nebeneinander begegnen, die verschiedene Interessen verfolgen, und dass die Polyphonie biblischer Erzählliteratur ihrerseits einen kritischen Diskurs abbildet, in dem diverse rhetorische Überzeugungsmittel eingesetzt werden.
Statt einer Definition von »Geschichtsschreibung« legt die Vfn. ihrer Untersuchung das Konzept »historischer Erzählungen« zu­grunde, als deren Merkmal nach J. Rüsen eine Verknüpfung der Zeitebenen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gelten kann, die den Adressaten ein identitätsbildendes Orientierungswissen vermitteln will. Zwar greift die Vfn. auf Rüsens Theorie universaler Plausibilitäten in historischen Erzählungen zurück, versteht diese jedoch nicht als allgemeine Gesetzmäßigkeiten historischen Denkens, sondern lediglich als heuristisches Modell, um die konkreten rhetorischen Überzeugungsstrategien in beiden Erzählwerken präziser zu beschreiben. An die Stelle einer allgemein gültigen Geschichtstheorie setzt sie im Anschluss an die Literaturwissenschaftlerin M.-L. Ryan das aus der analytischen Philosophie übernommene Konzept einer Pluralität »möglicher Welten« (Pos-sible Worlds Theory), die nebeneinander bestehen und einander überlappen können. In dieser Weise würden die »erzählte Welt« und die Erfahrungswelt der Leser aufeinander bezogen, um Letzteren Anknüpfungs- und Identifikationspotentiale zu bieten und die Plausibilität der Darstellung zu erhöhen. Welche rhetorischen Mittel (kognitive und emotional-voluntative, vgl. Aristoteles) zu diesem Zweck eingesetzt werden, ist der Gegenstand der narratolo-gischen Analyse, die sich auf die beiden Aspekte des »(impliziten) Erzählers« und der Referenz auf materielle Objekte oder Artefakte fokussiert, denen eine besondere Funktion für die Erzeugung von Authentizität in der »erzählten Welt« eignet.
Der zweite Hauptteil (»Part 2: Fundamentals of Narrative Structure in Herodotus’ Histories and Genesis – Kings«, 57–135) widmet sich dem intradiegetischen Erzähler als der wichtigsten Instanz für die Vermittlung der »erzählten Welt« an die Adressaten. Seine Autorität ist die unhintergehbare Voraussetzung, damit das Publikum die Glaubwürdigkeit des Berichteten anerkennen und sich mit der »erzählten Welt« identifizieren kann. Dabei verfolgen Herodot auf der einen und das biblische Narrativ in Gen bis 2Kön auf der anderen Seite gänzlich entgegengesetzte rhetorische Strategien. Bei Herodot dominiert eine biographische Erzählerfigur (»dramatized narrator«), deren historischer Ort für die Adressaten klar markiert ist. Der Erzähler empfiehlt sich selbst als ein vertrauenswürdiger Mediator der Vergangenheit, indem er etwa auf seine epistemologischen Prinzipien (Nachforschungen, eigene Urteilsfähigkeit) oder seine Augenzeugenschaft verweisen kann. Die Autorität der Erzählung beruht dabei ganz auf der Autorität des Erzählers, der sie präsentiert (die Vfn. spricht hier vom »teller-mode«). Ganz anders in Gen bis 2Kön: Hier bleibt der Erzähler anonym und nimmt eine distanzierte Stellung ein. Die Darstellung der Vergangenheit besitzt mimetische Funktion. Sie begegnet den Adressaten unmittelbar, ohne dass sie durch eine Erzählerfigur interpretiert würde (die Vfn. nennt dies den »viewer-mode«). Diese narratologische Strategie bezieht die Leserschaft als wichtige Instanz der Sinnproduktion mit ein, insofern der Erzähler selbst auf eine explizite Interpretation des Berichteten weithin verzichtet (eine Ausnahme bilden vor allem die metatextuellen Erzählerkommentare in den Königsbüchern).
Die Verknüpfung zwischen den verschiedenen Zeitebenen der »erzählten Welt« (»story-world«) und der Welt der Adressaten (»discourse-world«) wird in beiden Werken vom Erzähler auf verschiedene Art und Weise hergestellt. Ist die zeitliche Distanz zwischen dem Erzähler und der von ihm präsentierten Vergangenheit bei Herodot durch das biographische »Erzähler-Ich« durchgängig markiert, so tritt diese im »Enneateuch« nur gelegentlich hervor und unterbricht die Unmittelbarkeit der Leserschaft zur »erzählten Welt«. Sie äußert sich vor allem in kurzen formelhaften Wendungen (z. B. »bis auf diesen Tag«) oder in einem Wechsel der Nomenklatur (z. B. bei der Bezeichnung von Orten oder Bräuchen), die dazu dienen sollen, den Adressaten die Identifikation mit dem Berichteten zu erleichtern. Der Wechsel zwischen diegetischen und diskursiven Abschnitten, der bei Herodot regelmäßig begegnet, um Objekte oder Relationen der »erzählten Welt« mit der Welt der Adressaten zu korrelieren und sie auf diese Weise für sie zugänglich zu machen (»accessibility«), ist im biblischen Narrativ hingegen selten. Diskursive Elemente werden stattdessen häufig in eine diegetische Form gekleidet und als unterschiedliche Perspektiven auf einen Sachverhalt nach- und nebeneinander gestellt (z. B. als unterschiedliche Standpunkte in der Figurenrede).
Im dritten und letzten Teil der Untersuchung fragt die Vfn. nach der Funktion, die Artefakte bzw. Relikte für eine überzeugende Darstellung der Vergangenheit besitzen (Part 3: »Varied Functions of Objects as Means of Persuasion«, 137–258). Die Überreste der materiellen Kultur verbinden die »erzählte Welt« mit der Welt der Adressaten und machen jene für diese sichtbar. Sie verleihen der Erzählung ein hohes Maß an Authentizität. Dies betrifft vor allem solche Objekte, die im kollektiven Gedächtnis mit narrativen Sinnzuschreibungen versehen werden (z. B. Ruinen, Gräber, Votivgaben), an die der »Erzähler« anknüpfen (oder die er selbst generieren) kann. In der »erzählten Welt« werden solche Artefakte häufig durch rhetorische Stilmittel besonders markiert (z. B. Erzählerkommentare, Figurenrede).
Interessant ist dabei, dass in beiden Narrationen vor allem im Zusammenhang mit Ereignissen einer fernen Vergangenheit auf die repräsentative Funktion von Altertümern zurückgegriffen wird, die jene in gewisser Weise dem Vergessen entreißen und zugleich die Geschichtsdeutung des Erzählers beglaubigen. Hinzu kommt, dass eine detailliertere Beschreibung der Objekte nur in Ausnahmefällen erfolgt (z. B. das Zelt der Begegnung in Ex 25–30), in der Regel wird nur kurz auf sie verwiesen.
In solchen Fällen, bei denen eine narratologische Markierung der temporalen Kontinuität fehlt, tritt teils das kollektive Gedächtnis, das der diegetische Erzähler mit den Adressaten teilt, teils dessen Autorität selbst (bzw. die formative Kraft der narratio) an die Stelle der beglaubigenden Referenz. Ein Sonderfall liegt mit Blick auf die mosaische Tora vor, insofern hier eine textliche Kontinuität zwischen der »erzählten Welt« und den Adressaten hergestellt wird, obwohl das Objekt selbst, das Schriftstück bzw. die Buchrolle, verloren gegangen ist. In Abschrift liegt es den Adressaten jedoch vor, so dass sie selbst darin lesen können.
Neben ihrer beglaubigenden Funktion kommt den Objekten der materiellen Kultur eine weitere Aufgabe zu: Sie repräsentieren normative Werte oder Sinngebungen, die der »Erzähler« mit ihnen verknüpft, und vermitteln diese an die Adressaten (z. B. die Ruinen von Jericho in Jos 6 als Ausweis der Geschichtsmacht Jhwhs). Auf diese Weise gewinnt die Geschichtsdeutung der Narration selbst historische Glaubwürdigkeit, die sich in den Artefakten visuell manifestiert. Dies trifft sogar für solche Objekte zu, die sich allein der formativen Gewalt der Erzählung verdanken, also einzig in der »erzählten Welt« existieren. Diese »Objekte« besitzen keinen dokumentarischen Charakter, sondern repräsentieren den jeweiligen Geschichtsnarrativ und die symbolischen Ordnungssysteme, die ihm zugrunde liegen, und beglaubigen deren Geltungsanspruch.
Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse (»Conclu-sions«, 259–269), eine hilfreiche Übersicht über ausgewählte Artefakte/Objekte bei Herodot und im »Enneateuch« sowie ein Stellen- und ein Sachregister beschließen die Studie, die ihren besonderen Reiz nicht zuletzt aus der komparatistischen Herangehensweise bezieht und die biblische Erzählung nicht a priori einem historiographischen Modell unterwirft, das ihren eigenen Denkvoraussetzungen fremd ist. Umgekehrt ist es eben dieser erkenntnisleitenden Perspektive geschuldet, dass die Analyse der Einzeltexte oft eher oberflächlich bleibt und vor allem mit Blick auf den »Enneateuch« eine literatur- oder traditionsgeschichtliche Tiefenschärfe in der Regel fehlt. Die Vfn. weiß um diese Begrenzungen, reflektiert sie und entscheidet sich mit guten Gründen für eine alternative Methodologie, die nicht nur ihrer eigenen akademischen Vita, sondern auch dem Interesse an einer interdisziplinären Arbeit an und mit der biblischen Überlieferung verpflichtet ist.