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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

543 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lienkamp, Christoph

Titel/Untertitel:

Messianische Ursprungsdialektik. Die Bedeutung Walter Benjamins für Theologie und Religionsphilosophie.

Verlag:

Frankfurt/M.: IKO 1998. VII, 250 S. 8 = Wissenschaftliche Schriftenreihe: Denktraditionen im Dialog: Studien zur Befreiung und Interkulturalität. Kart. DM 38,-. ISBN 3-88939-446-9.

Rezensent:

Günther Mensching

Das Denken Walter Benjamins scheint darauf angelegt, dass gänzlich verschiedene Gehalte aus ihm herausgelesen werden. Wurde er lange ungebrochen der Kritischen Theorie zugerechnet, so reklamierte ihn eine sich radikal gebärdende literarisch-marxistische Gruppe für eine "materialistische Kunsttheorie", eine Mode, die bald den postmodernen Fortschrittsskeptikern Platz machte, welche Benjamin als Autorität für ihre eigenen kunstvoll wirren Rätselreden ausbeuteten. Seit kurzem ist Benjamin von den christlichen Theologen entdeckt. So erschienen in den letzten Jahren mehrere teils katholische, teils evangelische Veröffentlichungen, in denen Benjamin mit einigem Geschick geradezu als genuiner Theologe dargestellt wird.

In diese Reihe gehört auch das Buch von L., eine Dissertation, mit welcher der Autor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg promovierte. Die Arbeit stellt sich die Aufgabe, aus den vielen Bildern und Metaphern der Benjaminschen Werke die "Defizite" (4) zu beheben, die nach Ansicht des Vf.s in der heutigen Theologie und Religionsphilosophie bestehen. So will er deren Mangel an lebensweltlicher und ästhetischer Erfahrung und dem fehlenden Bezug zur sozialen Wirklichkeit durch eine Aufarbeitung von Benjamins dialektischen Theorien begegnen.

Um diesem Vorhaben gerecht zu werden, untersucht er das Benjaminsche uvre, indem er sieben Paare gegensätzlicher Begriffe in dialektischer Konstellation darstellt. (Spur und Aura, Allegorie und Symbol, Schockrezeption und Kontemplation, Trauerspiel und Tragödie, Fortschritt und ewige Wiederkehr des Gleichen, Erlebnis und Erfahrung, Traum und Wachen). In diesen materialen Teilen seiner Arbeit gelingt dem Vf., zuweilen sehr subtil die mit den traditionellen Begriffen von Philosophie und Theologie kaum zu fassenden Intentionen Benjamins nachzuzeichnen. In der Spannung der genannten Begriffe sei deren messianisches Potential enthalten. In der kaum bestimmbaren Aura eines Kunstwerks, in der Rätselsprache der Allegorie, in den Schocks, die von Gedichten Baudelaires ausgehen, könne der Betrachter es entbinden. Der Vf. macht deutlich, dass Benjamin in seinen ganz verschiedenartigen Arbeiten immer wieder das messianische Motiv anklingen lässt. Allerdings wird der Stellenwert dieses Messianismus im Denken von Benjamin nicht erklärt. Sonst wäre nämlich der positive theologische Nutzeffekt fraglich, denn Benjamin hat nicht einmal in seinen frühen Werken einen affirmativen Theismus vertreten. Dass es Gott in Benjamins Texten eigentlich nicht gibt, macht eben seine Vereinnahmung durch eine der abendländischen Religionen zu einem riskanten Unternehmen. Der Messias ist nämlich eine Denkfigur, welche die fortwährende Katastrophe der profanen Geschichte kontrastiert, ohne dass sie den Schluss auf die Transzendenz zuließe.

Eines der wichtigsten Motive Benjamins war die "rettende Kritik", die "Rettung der unterdrückten Vergangenheit im Eingedenken". Der Vf. widmet dieser Thematik im fünften, dem Fortschritt gewidmeten Kapitel eine eingehende Untersuchung (105-166). Neben der auch von anderen Autoren erörterten Kritik des historistischen Fortschrittsbegriffs geht der Vf. auf die Apokatastasislehre besonders ein. In ihr zeigt sich die theologische Relevanz Benjaminscher Reflexionen. Dass die Menschheit ihrer Idee nicht entspricht, wenn sie nur die Totalität der jeweils lebenden Individuen umfassen soll, hat die rettende Zuwendung zur Vergangenheit zur Folge. Der profanen Fortschrittsidee wird entgegnet, dass das Streben nach unendlicher Verbesserung die jetzt Lebenden und die Toten den künftigen Generationen aufopfert, da nur diese das Ziel genießen sollen. Nur wenn die Toten daran teilhätten, sei die Erlösung ihrer Idee gemäß. Dieses unter empirischen historischen Bedingungen nicht erfüllbare Theologumenon arbeitet der Vf. freilich ebenso nur aus den Quellen heraus, ohne seine eigene theologische Intention damit zu verbinden. Hier hätte es sich angeboten, die aktuelle Relevanz des Benjaminschen Theorems zu reflektieren.

Dies ist denn auch ein Mangel des sonst passagenweise instruktiven Buches. Was den Vf. zu seinem Thema geführt hat, wird nämlich nicht klar. Im Gegenteil, er hält sich mit einer Stellungnahme fast vollkommen zurück. So erfährt man nicht, wieweit die von ihm referierten Gedanken verbindlich und ob sie überhaupt wahr seien. Er präsentiert sie wie ein Paläontologe seine fossilen Funde. Bei solcher Neutralität gelingt es auch nicht, einsichtig zu machen, wie mit Benjamin die am Anfang diagnostizierten Defizite in Theologie und Religionsphilosophie ausgeglichen werden sollen. Das Endkapitel, das hierüber Auskunft geben sollte, besteht im Grunde nur in einem Resümee der vorangehenden Teile.

Zudem ist der Eindruck, den das Buch auf weniger instruierte Leser machen könnte, zu korrigieren: Benjamin ist trotz der eindeutigen Herkunft vieler seiner Begriffe kein theologischer Autor. Er kokettiert nicht mit einer religiösen Rettung der unheilvollen Welt wie manche seiner Zeitgenossen, vielmehr gilt die Rettung der Vergangenheit, die sich in den Formen der Religion geistig objektiviert hat. Die Gegenwart hat diese vergangene Welt im "Eingedenken" in sich aufzunehmen, denn nur in solcher Aufhebung kann sie ihrer selbst bewusst werden. Nur wenn man sich dieser verwickelten Gedankenarchitektur bei Benjamin versichert, kann man ihm gerecht werden. Indem der Vf. allerdings den politischen, d. h. den in einer eigentümlichen Weise marxistischen Benjamin fast ganz vernachlässigt, wird er dessen Anspruch auch theologisch nicht gerecht.