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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1108–1110

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wehrmann-Kutsche, Anne

Titel/Untertitel:

Vergewisserung und Irritation. Evangelische Frauenarbeit heute.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 275 S. Kart. EUR 68,00. ISBN 9783374066001.

Rezensent:

Sonja Keller

Die in kirchlichen Frauenwerken getätigte Frauenarbeit steht ebenso wie weitere in den Landeskirchen und Kirchenkreisen organisierte Dienste und Werte auf dem Prüfstand kirchlicher Konzentrations- und Reorganisationsprozesse. Angesichts dieser Entwicklung, die in diversen kirchlichen Arbeitsfeldern eine intensive Selbstverständigung evoziert, entfaltet Anne Wehrmann-Kutsche in ihrer 2019 an der Ruhr-Universität Bochum eingereichten Dissertationsschrift die Perspektiven von haupt- und ehrenamtlich engagierten Frauen in der kirchlichen Frauenarbeit in der Nordkirche. Die vergleichsweise schmale Bibliographie dokumentiert, dass dieses Feld kirchlicher Arbeit im Kontext akademischer Theologie schon lange wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit ge­nießt. Die Vfn. weiß um dieses Desiderat und fragt unverstellt nach Bedeutung und Perspektive der kirchlichen Frauenarbeit und konzentriert ihre Untersuchung auf die Ziele der Frauenarbeit sowie die Herausforderungen und damit auch die Entwicklungschancen derselben.
Der Titel »Vergewisserung und Irritation« der in fünf Kapitel gegliederten Untersuchung verweist auf die entfaltete Bedeutung der Frauenarbeit, die frauenspezifische Räume der Vergewisserung hervorbringt und von ungewissen Zukunftsaussichten irritiert wird. Im Anschluss an die Darlegung der Forschungsfrage und die Konzeption der Studie schildert die Vfn. im zweiten Kapitel, wie aus den norddeutschen Frauenhilfen in der Evangelischen Kirche im Rahmen der Nordkirchenfusion das Frauenwerk der Nordkirche hervorgegangen ist. Die Skizze der Entwicklung der diakonisch orientierten Frauenhilfe hin zu »frauenpolitischen Bildungseinrichtungen mit emanzipatorischem Anspruch« (47) zeigt auf, dass die Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Strukturen und Lebensumstände dafür gesorgt hat, dass sich die kirchliche Frauenarbeit immer wieder erneuern konnte – eine Eigenschaft, die die Vfn. für entscheidend für das Gelingen der Weiterentwicklung der kirchlichen Frauenarbeit hält. Im dritten Kapitel führt die Vfn. in die angewandten Methoden der Empirischen Sozialforschung ein: Auf der Grundlage von 14 teilstrukturierten Leitfadeninterviews mit haupt- und ehrenamtlich engagierten Gestalterinnen und Verantwortlichen der Frauenarbeit zwischen 34 und 69 Jahren schafft die Vfn. einen Zugang zu den Perspektiven dieser Expertinnen im Frauenwerk der Nordkirche auf die Bedeutung und Zukunft der kirchlichen Frauenarbeit. Beim Theoretischen Sampling und der Auswertung wird eine maximale Varianz der Ergebnisse verfolgt. Das vierte Kapitel umfasst die Analyse der Daten, wobei die Darstellung von zwei maximal kontrastierenden Interviews im Mittelpunkt steht.
Die Einblicke in die Gespräche mit den beiden Frauen aus Ost und West lassen unterschiedliche Beschreibungen des Zwecks und des Auftrags der kirchlichen Frauenarbeit erkennen, die offenbar mit der Sozialisation, feministischen und theologischen Selbstverständnissen und dem Erleben der homosozialen Räume in der Frauenarbeit, die als schützend und auch als beengend beschrieben werden, verbunden sind. Diese Befunde werden mit weiteren Interviews verglichen, so dass eine ganze Reihe unterschiedlicher Sichtweisen greifbar wird. Die Darstellung der Aussagen anhand von Direktzitaten, Paraphrasen und Zusammenfassungen macht die Lektüre der Analyse an verschiedenen Stellen langatmig. Es sind allerdings gerade auch die facettenreichen Beobachtungen am Material, die die Vielfalt der Wahrnehmungen des Frauenwerks der Nordkirche und seiner Entwicklungsbedingungen und -chancen kenntlich machen. Im abschließenden fünften Kapitel bündelt die Vfn. die Erkenntnisse und würdigt das Frauenwerk als Ort der Besinnung für Frauen und führt aus, dass der Reformdruck und der Bedeutungsgewinn der Perspektiven der Genderforschung sehr grundsätzliche Anfragen an die kirchliche Frauenarbeit mit sich bringen.
Besonders leistungsfähig ist die Untersuchung, die die Suchbewegungen der Interviewten hinsichtlich einer zukunftsfähigen Profilierung des Frauenwerks in den Mittelpunkt stellt, wenn sie die komplexen interferierenden Veränderungen auffächert, die in vielfältiger Weise die Frauenarbeit in der Kirche hinsichtlich Status und Bedeutung verunsichern: Dazu gehört neben dem Kampf um geringer werdende finanzielle Ressourcen und dem Druck zur Plausibilisierung der Tätigkeit das Desinteresse jün-gerer Frauen an der Frauenarbeit. Darüber hinaus lässt sich ein kirchlicher Wandel von der Zielgruppenarbeit hin zur Themenorientierung beobachten, der für die kirchlich organisierte Frauenarbeit besonders einschneidend ist, da die Frauenfrage gesamtgesellschaftlich derzeit teilweise einer Auseinandersetzung mit der Genderperspektive weicht, die eine Infragestellung der beste henden kirchlichen Frauenarbeit mit sich bringt, sofern dort Frauen vielfach unter sich bleiben und dabei spezifische weibliche Selbstverständnisse pflegen bzw. reifizieren. Für die Einordung verschiedener Interviewpassagen wären einige spezifischere Informationen zu Inhalt und Umfang der kirchlichen Frauenarbeit hilfreich gewesen.
Die Dissertation gewährt wertvolle Einblicke in die Akteursperspektiven kirchlich engagierter Frauen und würdigt ein kirchliches Handlungsfeld, in dem relevante Aspekte kirchlicher Strukturveränderungen deutlich zum Vorschein kommen, wozu das Verhältnis zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen, unterschiedliche Interessen und Ansprüche an kirchliche Arbeit, die derzeit öffentlich diskutierte Neuvermessung des Kollektivbegriffs »Frau« und die gemeindliche Funktion von übergemeindlichen Einrichtungen sowie der Generationenkonflikt gehören. Dass sich die Studie mit der Frauenarbeit in der Nordkirche auseinandersetzt, kann als Glücksfall bezeichnet werden, zumal damit auch ein komplizierter Fusionsprozess aufgegriffen und Einblicke in die durchaus auch unterschiedlichen Selbstverständnisse der Expertinnen in Ost und West gewonnen werden.