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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

541 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Asmuth, Christoph

Titel/Untertitel:

Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800-1806.

Verlag:

Stuttgart: Frommann 1999. 411 S. 8 = Spekulation und Erfahrung, II: Untersuchungen, 41. Lw. DM 118,-. ISBN 3-7728-1900-1.

Rezensent:

Günther Keil

"Der Grund der Evidenz, deren sich das Denken bewußt ist, liegt im Vollzug des Denkens selbst. ... Das Denken läßt sich nicht denken, ohne zu denken. Darum kann es keine Darstellung des Denkens oder des Wissens geben, sondern nur eine Darstellung, die zugleich Genese ist. Eine Darstellung oder Beschreibung des Absoluten ... ist für Fichte nicht möglich, ..." (360). So etwa lässt sich beim Vf. Fichtes methodischer Grundgedanke formulieren. Alles Gegebene - Subjekt wie Objekt, Reales und Ideales, Idealismus und Realismus, ja selbst der Begriff des Absoluten als eines Begriffes - müssen noch transzendiert werden. Nur indem das Denken selbst gedacht und kritisch denkend wiederum in seiner Genese hervorgebracht wird, kann sich das Denken (das absolute Ich) selbst vollenden. Deshalb bedarf es immer des "Begreifens des Unbegreiflichen" (Titel), eines Unbegreiflichen, dessen Begriff immer neu in der denkenden Tathandlung sich genetisch kreiert, um doch immer neu, am Begriff scheiternd, ins Unbegreifbare zu führen. So etwa dürfte in der Tat Fichtes grundlegende Philosophie sein, die freilich nicht ganz einfach nachzuvollziehen ist. Der Vf. hat die Grundphilosophie Fichtes zwischen 1800 und 1806 ausgezeichnet nachbeschrieben und dargestellt. Hier liegt das große Verdienst der vorliegenden Arbeit (einer Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum 1995).

Merkwürdig ist demgegenüber, dass auf wenigen Seiten (z. B. 14-16, 360-361, 375-377) und dann viel zu kurz, um durchschlagend oder auch nur voll verständlich zu werden, Fichte in Andeutungen kritisiert wird, die tief unter Fichte ansetzen.

Zum Beispiel: Fichte soll eine "geschlossene Theorie" (377) haben; aber Fichte hat als Letztes überhaupt keinen Begriff und damit keine objektive Theorie und erst gar nicht eine geschlossene vorgetragen, sondern nur die immer noch über alles Objektiv-Subjektive noch hinausfragende und im "Begreifen des Unbegreiflichen" mündende und nie zum Ende kommende Tat des Denkens (siehe auch unsere eingangs zitierten Sätze). Es ist dem Rez. nicht möglich zu verstehen, wie ein so durchdrungenes Denken Fichtes in wenigen Sätzen all das vergessen kann, um etwa Fichte "hierarchische Verspannungen" (377) vorzuwerfen. Doch lassen wir diese wenigen Seiten, die sich wie eine salvatorische Klausel, eine Verbeugung vor dem Geist der "Frankfurter kritischen Theorie" lesen, auf sich beruhen, denn die Arbeit als Ganze ist sehr gut.

Zunächst wendet sich der Vf. Fichtes Popularschrift "Die Anweisung zum seeligen Leben" zu. Dabei wird im 1. Kapitel (25-65) über die Popularphilosophie Fichtes und die Popularphilosophie zur Zeit Fichtes grundsätzlich nachgedacht, um im 2. Kapitel (67-121) die "Anweisung zum seligen Leben" inhaltlich nachzuzeichnen. In der Tat stellt Fichtes Anweisung darauf ab, "in der Liebe das Begreifen des Unbegreiflichen zu transzendieren" (116), um hier wenigstens inhaltlich einen entscheidenden Satz zu zitieren. Das 3. Kapitel (123-152) beschäftigt sich mit Fichtes Christentum. Theologisch interessant sind die Konsequenzen, die der Vf. für Fichtes Christentum zieht und die im Grunde der theologische Liberalismus des 19. Jh.s nach Fichte immer wieder gezogen hat. (Aber dass Fichte keine Satisfaktionslehre habe, heißt allerdings keineswegs, dass er nicht um Sünde im Sinne eines "unseligen, nichtigen Lebens" wisse, was im Sinne des Vf.s nachzutragen wäre.) Dann folgt die Beschäftigung mit dem zweiten Vortrag der "Wissenschaftslehre" von 1804. Das 4. Kapitel ist überschrieben "Was ist Wissenschaftslehre?" (153-192). Hier wird geklärt, was Fichte unter Wissenschaftslehre versteht.

Wegen der großen sprachphilosophischen Bedeutung Fichtes seien folgende Sätze zitiert: "Diese Konzeption der Sprache in ihrer Bedeutung für die Philosophie oder die Wissenschaftslehre beruht auf Fichtes Erkenntnis, daß Sprache sowohl Sprach-Macht als auch Sprach-Ohnmacht involviert. Beide Momente- Macht und Ohnmacht - führt Fichte bis zu ihren Extrempunkten: Sprachschöpfung und Schweigen. Beides jedoch sind Modi philosophischen Sprechens." (161).

Das 5. Kapitel (193-253) "Propädeutik und Wissenschaftslehre" und das 6. Kapitel (255-315) "Phänomenologie" arbeiten dann diese "Wissenschaftslehre" aus. Immer neue Disjunktionen ergeben sich, die wieder nach der gemeinsamen Voraussetzung fragen und die Vernunft immer höher treiben dem höchsten Absoluten entgegen, das sich selbst seinem eigenen Begriff entzieht, weil es jenseits aller Objekte und Subjekte steht. Wieder mögen zwei Zitate das Fazit Fichtes andeuten: "Dort ist das Ich reine Lebendigkeit" (310). "So ist das Absolute Licht, Sein, Ich, Gewißheit oder Gott" (310). Das Absolute, das alles lebendig und unendlich in sich einschließt, ist also Gott. (Nebenbei: Der Vf. leugnet eine Entwicklung des Ich-Begriffes innerhalb Fichtes, 308-309). Das 7. Kapitel ist der "Auseinandersetzung zwischen Schelling und Fichte (1801-1806)" gewidmet (317-370).

Es handelt sich dabei um Schellings "Darstellung meines Systems" und Fichtes Replik, um Schellings "Philosophie und Religion" und Fichtes Replik und um Schellings "Darstellung des wahren Verhältnisses" (Kritik an Fichtes "Anweisung"). Der Vf. konstatiert zunächst (neben anderem): "Fichtes Auseinandersetzung mit Schellings Philosophie und Religion ist geprägt von Fehlverständnissen und Mißdeutungen" (358), und wir fügen hinzu: Nicht nur hinsichtlich dieser einen Schrift Schellings. Zwei Zitate mögen wieder die unterschiedlichen Standpunkte und Ausgangspositionen charakterisieren: "Schelling setzt das Absolute als absolute Identität an den Anfang seines Systems." Er "fordert deshalb zur Erkenntnis des Absoluten eine unmittelbar anschauende Erkenntnis ..." (367). "Fichtes Konzeption unterscheidet sich ... darin, daß er den Ausgangspunkt in die Differenz setzt ... Es ist für ihn vielmehr das Denken selbst, das in einer Bewegung in sich selbst, sich selbst zugleich faßt und verliert, sich von seinem Gegenstand, der reinen absoluten Identität, unterscheidet und zugleich nicht unterscheidet." (369)

Damit ist ein Buch entstanden, das sich mit Fichte, mit einem der größten, scharfsinnigsten, auch theologisch interessantesten, freilich auch nur sehr schwer zu verstehenden und immer wieder missverstandenen Philosophen, beschäftigt. Es denkt im Wesentlichen Fichte gut nach und bereitet damit den schwierigen, aber lohnenden Gedanken Fichtes den Boden. Das ist das zweifellose Verdienst des Vf.s. Möge diese Arbeit viele kompetente Leser finden.