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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1100–1101

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kronenberg, Ulrich

Titel/Untertitel:

Gerechter Frieden – gerechter Krieg? Chancen und Grenzen zweier friedensethischer Denkmodelle.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 369 S. Kart. EUR 88,00. ISBN 9783374061969.

Rezensent:

Matthias Hofmann

Bei dem angezeigten Buch handelt es sich um eine überarbeitete Fassung der Dissertation von Ulrich Kronenberg (*1965) im Fach Systematische Theologie. Sie wurde 2018 mit dem Titel »Zur Kritik der evangelischen Friedensethik – eine Grundlagenreflexion« der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz vorgelegt. Diese Dissertation ist nicht in der Abgeschiedenheit eines rein universitären Kontextes, sondern inmitten pfarramtlicher Praxis entstanden. Hinsichtlich der friedensethischen Thematik kann der Vf. außerdem einen besonderen Erfahrungshintergrund als Militärseelsorger aufweisen. In dieser Funktion nahm er im Jahr 2010 an einem Auslandseinsatz der Deutschen Bundeswehr in Afghanis-tan teil (vgl. 249 f.). Insofern darf man annehmen, dass dem Vf. die Realität des Krieges auf eine drastischere Weise zugänglich wurde als vielen anderen, die sich mit ethischen Theorien zu Krieg und Frieden beschäftigen.
Das positive Grundanliegen des Vf.s in Sachen Friedensethik konzentriert sich in einem Entlastungsmotiv: Ihm »scheint es zweckmäßig statt überzogener und unrealistischer Forderungen, das Machbare und auch christlich Gebotene umzusetzen – im Wissen um die eigene Unzulänglichkeit und Fehlbarkeit, die allem menschlichen Tun nun einmal anhängt.« (61) Dieses Motiv betrifft nicht nur die inhaltliche Gestalt friedensethischer Imperative, sondern auch die entsprechenden Akteure. Das Augenmerk des Vf.s liegt hierbei auf kirchlichen Verlautbarungen zu »Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik«, die nicht durch einschlägige »Sachkompetenz« (167) gedeckt sind. Insgesamt kreist das Buch in allen seinen Teilen um zwei theologische Fragestellungen: Wie steht es um die Friedenspotenz des Menschen und wie steht es um die politische Friedenskompetenz der Kirche?
Das »Denkmodell« des gerechten Krieges behandelt der Vf. nur beiläufig, wobei er zu Recht darauf hinweist, dass der völkerrechtliche Begriff des gerechten Krieges »keinesfalls […] die Rechtfertigung des Krieges« (17) intendiere. Eine eingehende rechtshistorische oder systematische Darlegung dieses Konzepts, welche auch einen sachlichen Zugang zur Rezeption der Lehre vom gerechten Krieg im Art. 16 der Confessio Augustana ermöglichen würde, wird leider nicht geboten. Insofern wird man der Buchbesprechung von Hans-Richard Reuter darin zustimmen können, dass der ur­sprüngliche Titel der Dissertation (s. o.) dem Inhalt des Buches wohl besser entspricht (vgl. ZEE 64 [2020], 155–157).
Seine Kritik der evangelischen Friedensethik adressiert der Vf. an das Programm des gerechten Friedens und führt sie in einer systematisch eher lockeren Anreihung von 14 Kapiteln durch. Allem liegt die Diagnose des Vf.s zugrunde, dass sich die evangelische Friedensethik mit dem Programm des gerechten Friedens auf einem »gefährlichen Gebiet der Vermischung von Staat und Kirche, von Politik und Glauben befindet« (24). Diese Diagnose geht mit dem Einwand einher, dass »der Anspruch der Lehre des gerechten Friedens […] zu hoch gegriffen ist« (46).
Kapitel 1 thematisiert die Stellung der Friedensethik in der evangelischen Theologie und Kirche seit 1945. Als Abkehr von der Lehre vom gerechten Krieg stehe das Konzept des gerechten Friedens für einen Paradigmenwechsel, der in der EKD-Denkschrift Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen von 2007 kulminierte. Die Entwicklung und das inhaltliche Profil der »Lehre« des gerechten Friedens wird in Kapitel 2 vor allem anhand einschlägiger Voten Wolfgang Hubers zwischen 1971 und 2008 skizziert. Kapitel 3 beschreibt die Aneignung des Konzepts auf landeskirchlicher Ebene in der badischen und hannoverschen Landeskirche sowie in der Nordkirche. Sofern die ersten drei Kapitel der Darstellung des Untersuchungsgegenstandes dienen sollen, bleibt das vorgestellte Profil des Konzepts »Gerechter Frieden« eher unscharf und einiger Präzisierungen fähig. Neben Huber benennt der Vf. noch einige weitere Protagonisten dieses Konzepts (vgl. 25, Anm. 57), lässt de-ren Beiträge aber im Prinzip unberücksichtigt. Das Konzept des gerechten Friedens beurteilt der Vf. summarisch als »Radikalpazifismus« (56). Kapitel 4 referiert kritische Stellungnahmen zum Programm des gerechten Friedens von Martin Honecker, Ulrich Körtner und Michael Haspel. Mit »Darstellung des eigenen Lösungs-ansatzes« wird zwar erst das 10. Kapitel überschrieben, doch im Grunde genommen stellt der Vf. ab Kapitel 5 seine eigene Position dar, die im 10. Kapitel noch einmal gebündelt wird.
Als Gegenentwurf zum kritisierten Radikalpazifismus plädiert der Vf. für eine (ebenso) »radikale [!] theologische Besinnung […] auf das eigene theologische Erbe der Reformation« (180). Entsprechend gestaltet der Vf. seine Darlegungen als schroffe Gegensätze: Dem vermeintlich illusorischen Konzept des gerechten Friedens liege eine theologisch illegitime Vermischung von immanentem und eschatologischem Frieden zugrunde (Kapitel 5). Die zu optimis-tisch beurteilte Friedensfähigkeit des Menschen verleite im Zeichen der Machbarkeit zu neuer Werkgerechtigkeit und missachte die Problematik der Erbsünde (Kapitel 6 u. 8). Und gegen einen friedensethischen Aktionismus der Kirche wird die lutherische Zwei-Reiche-Lehre in Stellung gebracht, welche die »Zuständig-keiten« im Reich zur Rechten und zur Linken »klar regelt« (152) und in deren Licht der Noachitische Bund (Gen 9,1–7) als heilsgeschichtliche Ordnung im Reich zur Linken gedeutet wird (Kapitel 7 u. 9).
Die übrigen Kapitel (Kapitel 11: Bonhoeffer als missverstandener Pazifist, Kapitel 12: Friedensethik als modernes »Massa und Meriba« [Ex 17,1–7], Kapitel 13: »Jahwe der rechte Kriegsmann« [Ex 15,3] und Kapitel 14: Das neue Hören und Handeln) illustrieren in modifizierter Form die bereits vorgetragenen Argumente. Den »entscheidenden Friedensdienst« der Kirche sieht der Vf. im »Ruf zur Versöhnung mit Gott« (345) – also jenseits von gerechtem Krieg und gerechtem Frieden (vgl. 270).
In wissenschaftlicher Hinsicht wirkt die Dissertation auf den Rezensenten in einigen Punkten verwunderlich. Dies betrifft zunächst den Argumentationsstil, der es im Zeichen des reformatorischen sola scriptura für hinreichend hält, seine Thesen zuweilen mit bloßem Verweis auf ganze Listen von Bibelstellen und Kon-kordanzbefunden zu begründen. Hier wären hermeneutische Vermittlungsreflexionen wünschenswert, die auch der Historizität biblischer Texte Rechnung tragen. Zweitens verwundert die im­mer wieder artikulierte Distanzierung von einer interdisziplinären Arbeitsweise der Theologie, die im Interesse am genuin Theologischen die Interdisziplinarität als Motor für »Ideologisierung und Moralisierung der Friedensdebatte« (215) brandmarkt. Schließlich verwundert, dass die der Friedensethik gewidmete Arbeit kaum eigene ethische Reflexionen anstellt, sondern sich darauf zurückzieht, durch dogmatische Rückbesinnungen das Wesentliche getan zu haben (vgl. 343). Der Vf. meint an einer Stelle, es sei »unausweichlich, eine dogmatische Entscheidung zu treffen, um [!] ethisch richtig handeln zu können« (116). Insofern kann man im Sinne des Vf.s den ursprünglichen Titel der Arbeit näher bestimmen als »dogmatische Grundlagenreflexion«. Damit ist aber für das systematisch-theologische Grundverhältnis von Dogmatik und Ethik eine Entscheidung getroffen, deren Gründe der Vf. leider unerörtert lässt.