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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1097–1099

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Knoepffler, Nikolaus

Titel/Untertitel:

Den Hippokratischen Eid neu denken. Medizinethik für die Praxis.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Karl Alber 2021. 379 S. = Angewandte Ethik Medizin, 5. Kart. EUR 19,00. ISBN 9783495491799.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Der Titel ist Programm. Die vorliegende Darstellung klassischer und aktueller Fragen der Medizinethik informiert nicht nur über die verschiedenen ethischen Traditionen, Konzeptionen und Positionen, welche die Debatten bestimmen. Nikolaus Knoepffler präsentiert auch eine eigenständige Konzeption von Medizinethik, die sich ausdrücklich in die hippokratische Tradition stellt, deren teils unbeachteten Potentiale für heutige Medizinethik ebenso wie ihre Defizite herausgearbeitet werden. Das Buch ist die Frucht langjähriger Forschungs- und Lehrtätigkeit. K., Theologe und Philosoph, der auch in Staatswissenschaft promoviert wurde, leitet nicht nur den Bereich Ethik in den Wissenschaften und das Ethikzentrum der Universität Jena, sondern ist auch für die Medizinethikausbildung in der dortigen medizinischen Fakultät verantwortlich. Das Buch ist verständlich geschrieben und auch als Lehrbuch geeignet. Es wird dem Anspruch, Medizinethik für die Praxis zu bieten, nicht nur durch zahlreiche Fallbeispiele, sondern auch durch die Erklärung von ethischen und medizinischen Fachbegriffen gerecht. Ein Anhang (342–357) bietet die wichtigsten Ethikkodexe vom Hippokratischen Eid (griechisch-deutsch) über das Genfer Ärztegelöbnis bis zur Helsinki-Deklaration. Erfreulicherweise enthält er auch den ICN-Kodex für Pflegende, ist es doch wichtig, schon im Medizinstudium ein Verständnis für die Verbindungen zwischen Me-dizin und Pflege wie auch für die Eigenständigkeit Letzterer zu vermitteln. Die Unterschiede, Schnitt- oder Nahstellen zwischen Medizin- und Pflegeethik sowie die Entwicklung der Pflege von einer Hilfstätigkeit der Medizin zur eigenständigen und inzwischen zunehmend akademisierten Profession finden im vorliegenden Buch allerdings keine besondere Beachtung.
Ein gutes Drittel des Werkes befasst sich mit den theoretischen und anthropologischen Grundlagen heutiger Medizinethik. Ausgehend von einem konkreten Fallbeispiel informiert das erste Kapitel (23–96) über die wichtigsten medizinethischen Ansätze, deren Pluralität zu den besonderen Herausforderungen der ethischen Urteilsbildung auch im klinischen Alltag gehört. K. unterteilt das Feld in Medizinethik in hippokratische Tradition, religiöse und naturrechtlich inspirierte Medizinethiken, utilitaristischen Konzeptionen sowie die international einflussreiche Prinzipienethik von Tom L. Beauchamp und James F. Childress. Wertvoll ist K.s Hinweis, dass die Sorge des Arztes für seinen eigenen Lebensunterhalt in der hippokratischen Tradition ein ethisch legitimes Interesse ist, das in späteren Ethikkodexen zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Dabei käme es für heutige Medizinethik und Ethik im Gesundheitswesen darauf an, berechtigte Eigeninteressen der verschiedenen Akteure und Professionen in einer umfassenden Gerechtigkeitstheorie zu berücksichtigen (309), statt einem heroischen Altruismus das Wort zu reden und falsche Alternativen zwischen Ethik und Ökonomie aufzustellen.
Seinen eigenen Ansatz bezeichnet K. als Integrative Medizinethik (62–80). Sie schließt zum einen an die hippokratische Tradi-tion an, die um Überlegungen zur Selbstbestimmung des Patienten und zur Gerechtigkeit im Gesundheitswesen erweitert wird. Zum anderen versteht sie sich als Weiterentwicklung von Beauchamps und Childress’ Prinziplismus. Ihre vier Prinzipien (Autonomie, Nichtschadens-, Benefizienz- und Gerechtigkeitsprinzip) werden um das Prinzip der Menschenwürde erweitert. Genauer gesagt fungiert dieses bei K. als Letztprinzip (62), aus dem die übrigen Prinzipien abgeleitet werden. Hierin unterscheidet sich K.s Konzept grundlegend von Beauchamp und Childress. Ausgangspunkt der Integrativen Medizinethik ist ein Verständnis von »Menschenwürde als Fundament von Rechten, nicht von Pflichten, als Ermächtigung die eigene Lebensgeschichte zu schreiben« (63, im Orig. kursiv). K. grenzt sich nicht nur vom Utilitarismus, sondern auch von religiösen bzw. naturrechtlichen Medizinethiken ab, welche unterstellen, dass der Mensch Pflichten gegen sich selbst im Sinne der Pflicht zur Selbsterhaltung habe. Darin unterscheidet sich nach Ansicht K.s auch das Menschenwürdeverständnis des deutschen Grundgesetzes von religiösen Ethiken wie von der Ethik Kants, während zwischen Integrativer Medizinethik, Grundgesetz und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eine grundlegende Übereinstimmung be­stehe. Dementsprechend vertritt K. eine liberale Position in der Frage des assistierten Suizids – sich dabei ausdrücklich vom Hippokratischen Eid absetzend (340) – und hält auch seine ablehnende Haltung zur Tötung auf Verlangen ein wenig in der Schwebe (214 f.).
Allerdings wären die Geschichte des Grundgesetzes und die Entwicklung der Judikatur des BVerfG ein eigenes Thema. Dass beispielsweise zwischen dem BVerfG-Urteil 2020 zum assistierten Suizid mit seinem Verständnis von Menschenwürde und auto-nomer Selbstbestimmung auf der einen und Kants wie auch einer christlichen Auffassung von Autonomie und Menschenwürde auf der anderen Seite eine Differenz besteht, trifft zu. Strittig ist aber, ob diese Differenz schon immer bestanden hat oder erst in der neueren Auslegungsgeschichte des Grundgesetzes und der entsprechenden Rechtsprechung aufgebrochen ist. Bedauerlicherweise fällt auch der Abschnitt zu religiösen und naturrechtlichen Ethiken (47–52) arg kurz aus und hat, was das Christentum betrifft, eine katholische Schlagseite. Außerdem wird zwischen religiösen und theologisch-wissenschaftlichen Ethiken nicht ausreichend un- un­terschieden. Theologische Me­dizinethiker kommen fast gar nicht vor.
Die der Integrativen Medizinethik zugrunde liegende Anthropologie (115–121) ist von Leibniz und Whitehead inspiriert (118 f.). Sie versteht den Menschen nicht als Substanz, sondern als »ein Ereignis, das Gesamt seiner Erfahrungen, seiner Geschichte«, wobei sich der Blick auf »das einmalig Besondere und Einzigartige des konkreten Individuums« (118) richtet. Konkret bedeutet dies, dass die Existenz eines neuen menschlichen Individuums mit der Ausbildung erster Gehirnstrukturen und dem intrauterinen Beginn der Beziehung zur Mutter beginnt und mit dem Ganzhirntod endet, wobei K. freilich auch schon den Teilhirntod, sofern das Bewusstsein irreversibel erloschen ist, für ein hinreichendes Todeskriterium hält.
An Einzelthemen behandelt K. das Problem der Triage, die em­bryonale Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik, Leihmutterschaft und Abtreibung, sodann postmortale Organent-nahme und Sterbehilfe, die Bedeutung vom Vertrauen in Behandlungsbeziehungen, Aufklärungspflicht und Selbstbestimmung des Patienten, Probleme der wunscherfüllenden Medizin und der Digitalisierung, Ethik medizinischer Forschung, Genome Editing und Enhancement sowie das weite Feld von Gerechtigkeitsfragen im Gesundheitswesen, und zwar auch im globalen Maßstab. Be­rechtigterweise plädiert K. für einen realistischen Gesundheits-begriff anstelle der utopisch klingenden Maximaldefinition der WHO. Sein Ausgangspunkt bei einem Begriff von Krankheit als medizinisch definierter und messbarer Dysfunktionalität (283 f.) ist allerdings unterkomplex. Verschiedene bio-psychosoziale Mo­delle von Krankheit und Gesundheit, die im Buch nicht zur Sprache kommen, sind an dieser Stelle weiterführend.
Im Kontext des Sterbehilfethemas fällt auf, dass es kein Kapitel zur Palliativmedizin gibt, auch nicht zur Geriatrie und Gerontologie, obwohl doch gerade medizinethische Fragen und die Probleme des steigenden Pflegebedarfs im höheren Lebensalter gesellschaftlich und gesundheitspolitisch besonders drängend sind. Auch Fragen von Gendermedizin, Sozialmedizin und Public Health hätten an manchen Stellen eine eingehendere Behandlung verdient. Positiv fällt auf, wie sehr K. das Gerechtigkeitsprinzip starkmacht und auch die ordnungsethische Dimension medizinethischer Fragen betont (z. B. 156.210.294.325.336 u. ö.). Ein eigenes Thema wäre freilich noch die mittlere Ebene der Organisationsethik, die von K. wohl implizit angesprochen wird, ohne jedoch Begriff und Konzeptionen von Organisationethik zu diskutieren.
Mit seinem Konzept einer vom Prinzip der Menschenwürde ausgehenden Integrativen Medizinethik liefert K. einen eigenständigen Beitrag, der die Diskussion über die Grundlagen heutiger Medizinethik belebt. Wer auf diesem Feld tätig ist, sollte das Buch unbedingt zur Kenntnis nehmen.