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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1093–1095

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bretherton, Luke

Titel/Untertitel:

Christ and the Common Life. Political Theology and the Case for Democracy.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2019. VII, 522 S. Geb. US$ 49,00. ISBN 9780802876409.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Der aus England stammende und gegenwärtig als Robert E. Cushman Distinguished Professor of Moral and Political Theology in den USA an der Duke University lehrende Luke Bretherton legt einen eigenständigen Entwurf vor, der eine Reihe bereits veröffentlichter Beiträge recht gelungen miteinander verknüpft und die vorläufige Summe seines politisch-theologischen Denkens präsentiert. Der Fokus seiner thematisch weitgespannten Studien liegt dabei auf der nordatlantischen Welt, vor allem Europa und Nordamerika, nimmt aus dieser Perspektive aber immer wieder auch den afrikanischen Kontinent in den Blick (vgl. 5).
B. beginnt damit, dass er seine Intention offenlegt: Dieses Buch soll eine Einführung in die historische und zeitgenössische theologische Reflexion über den Sinn und Zweck der Politik bieten und zugleich eine vertiefende Darlegung offerieren, warum sich Christenmenschen für die Demokratie als lebenswichtiges Mittel für ein gedeihliches Zusammenleben einsetzen sollten (vgl. 1).
B. widmet seine Ausführungen zur »Politischen Theologie« einem spätestens seit dessen Ingebrauchnahme durch Carl Schmitt höchst kontroversen Begriff, der vielen durch die Instrumentalisierung von Theologie, Kirche und Gottesdienst zur Durchsetzung einer vorgefertigten politischen Agenda desavouiert erscheint. B. versteht unter Politischer Theologie »an interpretive art of discovering faithful, hopeful, and loving judgments about how to act together in response to shared problems« (6). Diese ars deliberandi biete Hilfestellung zur politischen Urteilsbildung, wobei B. konzediert, dass sie kein Gelingen garantiere und von einer Fülle von Faktoren abhänge – »including character, imagination, what is desired, the quality of practical reasoning, and the comprehension of the good being sought and the context of its realization« (ebd.). Mit der tugendethischen Grundierung (erkennbar u. a. an der Anleihe bei den klassischen theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe) ist für ihn die Verwurzelung im formativen Kontext von Gebet und Gottesdienst essentiell.
Eine Grundprämisse des Buches besagt, dass sich das Reden von Gott und von Politik koemergent verhalten und wechselseitig be­dingen (vgl. 2). Carl Schmitts berühmte These, wonach es sich bei allen politischen Begriffen um säkularisierte theologische Begriffe handelt, kann von B. wahlweise mit Oliver O’Donovan auf den Kopf gestellt werden, der eine politische Vorgeschichte nahezu aller heilgeschichtlichen Begriffe (wie Rechtfertigung, Frieden, Reich Gottes etc.) in Anschlag gebracht hat. B. zieht daraus die Konsequenz: »Conversely, participation in ecclesial practices enabled new kinds of moral and political judgment to be made, generating new understandings of what it means for humans to flourish as inherently social animals« (3).
Nach der knappen Einleitung (1–15) folgt ein magistrales Eröffnungskapitel (16–48), das den beiden Grundlegungsfragen nachgeht: »Was ist Politische Theologie? Was ist Politik?« Politik tritt dabei keineswegs reduktionistisch als Kunst der Staatsführung oder dergleichen, sondern als fortwährender Verhandlungsprozess des common life zwischen durchaus unterschiedlichen und kei-neswegs gleichgesinnten Menschen diversitätsbewusst in Erscheinung.
Der Teil 1 (51–198) liefert Fallstudien politischer Theologie, die das Bemühen widerspiegeln, sich deren Gegenstandsbereich jenseits eines fixen Kanons zu erarbeiten. B. wendet sich hier be­stimmten säkularen kulturell-politischen Traditionssträngen wie dem Humanitarianism (kritisiert als eine Art noblesse oblige, die die Ursachen von Ungerechtigkeit und Armut ausklammert) und Black Power zu sowie religiös-politischen Strömungen mit distinktem konfessionellen Hintergrund wie der Pfingstbewegung, der katholischen Soziallehre und dem Anglikanismus. Die Auswahl dieser Studien zeigt sowohl B.s eigenen religiösen Hintergrund als Anglikaner und Pfingstler (vgl. 122) sowie den durch eine tiefgreifende politische Polarisierung und Erosion gekennzeichneten nordamerikanischen Kontext seines Wirkens.
Im Teil 2 (»Sustaining a Common Life«; 201–288) wendet sich B. verschiedenen Korrosionsarten des common life zu, und zwar mit dem Interesse, eine nachhaltige Unterstützung des durch Un­gleichheit, ein scharfes soziales Gefälle und andere grand challenges in Mitleidenschaft gezogenen gemeinschaftlichen Lebens zu liefern; wohlgemerkt jenseits des Klassenkampfes und seiner Rhetorik sowie eines grobschlächtigen Säkularismus, der von Säkularität zu unterscheiden ist. Säkularität sei anders als Säkularismus ein wertzuschätzendes vorletztes Gut, »which enables a plurality of forms of life to emerge«, und liefere »a time within which to form a common life with others and thereby learn virtues« (256). Gegenmittel zur Korrosionsbeschleunigung bilden dabei u. a. Praktiken der Toleranz (»navigating difference«; 286) und vor allem der Gastfreundschaft gegenüber Fremden, die B. bereits in seinem Erstlingswerk »Hospitality as Holiness: Christian Witness Amid Moral Diversity« (2006) aufgegriffen und entfaltet hatte. Es geht B. bei diesen Praktiken darum, nicht einfach nur das öffentliche Leben zu beeinflussen und Kirche als öffentlichen Player im Raum der Gesellschaft günstig zu positionieren, sondern in einem theologischen Sinne vom Handeln Gottes »in-formiert« zu werden und als veränderte Subjekte an den Diskursen zu Gemeinwohlorientierung, Säkularisierung etc. sowie an der Gemeinschaftsbildung teilzunehmen. Politische Theologie erweist sich durchaus auch als ein spirituelles Projekt.
Der Teil 3 »Forming a Common Life« (291–465) wendet sich am stärksten der konstruktiven konzeptionellen Aufgabe zu, im Be­reich der sozialethischen Themenfelder politische Theologie so zu entfalten, dass sich bestimmte Muster eines gelingenden »common life« abzeichnen. Sie betreffen die Themenfelder Humanität, glo-bale Wirtschaft, Souveränität, Populismus und Demokratiepolitik. B. versteht, um bei seinem eigentlichen Anliegen und summierenden Schlusskapitel (445–465) einzuhaken, unter Demokratie keine mehr oder weniger beliebige Regierungsform, sondern ein umfassendes soziales »Ethos« im wörtlichen Sinne, also als Wohnung, in der man lebt, die das Leben prägt und in der die Formen und Muster eines gelingenden common life generiert werden. Demokratie bildet für B. eine Lebensform, und zwar des gemeinsamen Lebens von ordinary people.
Der vorliegende Band nimmt in anspruchsvoller Weise vielfältige Impulse aus der politischen Theoriebildung auf. Zu den bemerkenswertesten und für deutsche Rezeptionsgepflogenheiten am überraschendsten gehören sicherlich diejenigen des reformierten Juristen und Staatstheoretikers Johannes Althusius (1563–1638). In seiner Vision des symbiotischen Lebens entwirft er ein konsoziales Souveränitätsverständnis, das das Delegieren von Souveränität keiner monistischen Quelle wie der Nation oder dem volonté générale (J.-J. Rousseau), sondern der body politic kleinerer Gemeinschaften zuweist (vgl. 367.390 f.396 f.). Subsidiäre und föderale Strukturen treten mit solchen Konsoziationen in den Blick, die politische Partizipation fordern und fördern. U. a. in B.s Forderung nach einer demokratischen Tugend des Aufeinander-Hörens (listening) manifestiert sich ein durchaus wohltuendes antielitäres Pathos: »In a democracy, wisdom is not seen to rest with the one or the few or even with the many. It is discovered by listening to the whole, so finding it needs everyone’s contribution.« (430) In einem tiefgespalteten Land wie den USA gewinnt dieses Desiderat besondere Dringlichkeit und fast schon konkordanzdemokratische Züge.
Insbesondere der dritte Teil von B.s ambitionierten Ausführungen weist deutlich über das (bereits an sich lobenswerte) Bemühen hinaus, das unübersichtliche politisch-theologische Feld zu vermessen und zu kartografieren, um eine Gesamtschau zu gewinnen. So kann B. mit einer dichten Zusammenfassung seiner Vision eines common life schließen: »a democratized economy, in a confederal polity, with a pluralistic common life politics, undergirded by a moral commitment to generating forms of shared flourishing that are ecologically attuned« (464). B. gelangt zu dieser Vision, indem er in einer Fülle anregender Studien das Feld der Politik auf mehreren sich kreuzenden Pfaden souverän durchschreitet (vgl. 14.29). Eine einzelne linear-genealogische Straße hätte ihn gewiss nicht geradliniger zu diesem Ziel geführt.