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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1087–1089

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Welsen, Peter

Titel/Untertitel:

Grundriss Schopenhauer. Ein Handbuch zu Leben und Werk.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2021. 424 S. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783787338832.

Rezensent:

Dieter Birnbacher

Seit Längerem befindet sich die Philosophie in einem Prozess der Aufspaltung – auf der einen Seite in einen esoterisch-akademischen Zweig mit immer »kleinteiligeren« und voraussetzungsreicheren Problemstellungen sowie Veröffentlichungsstandards, die sich de­nen der Naturwissenschaften annähern, auf der anderen Seite in einen exoterisch-populärphilosophischen Zweig, der die Jedermannsfragen nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn des Le­bens und dem richtigen Handeln aufgreift und den Dialog nicht nur mit Fachkollegen, sondern mit der breiten Öffentlichkeit sucht.
Schopenhauer gehört in dieser Dichotomie eindeutig zu den Exoterikern, und das dürfte zumindest zu einem Teil das weiter-hin lebhafte Interesse an seiner Philosophie erklären. Schopenhauer hat sich nicht nur mit der für ihn charakteristischen Deutlichkeit von der »Universitätsphilosophie« seiner Zeit abgesetzt, er hat die Popularität auch bewusst gesucht und zumindest posthum gefunden. Die sprachliche Brillanz und die Erfahrungsnähe seiner Schriften haben dafür gesorgt, dass er das Publikum über ein ganzes halbes Jahrhundert in seinen Bann gezogen hat. Dass dieser Bann in einem gewissen Maße bis heute anhält, zeigt sich nicht zuletzt in der zeitlichen Dichte des Erscheinens dreier Werke, die eine Orientierungshilfe für alle sein wollen, die sich näher mit dieser Philosophie befassen wollen: das 2014 in erster und 2017 in er­weiterter Auflage erschienene Schopenhauer-Handbuch des Metzler-Verlags, der Grundriss Schopenhauer des Meiner-Verlag (der gegenwärtig Schopenhauers Werk in einer neuen historisch-kritischen Ausgabe herausbringt) und das bei UTB für den Herbst 2021 angekündigte Schopenhauer-Lexikon. Während es sich beim Handbuch um ein Gemeinschaftswerk (unter der Herausgeberschaft von Daniel Schubbe und Matthias Koßler) von ca. 50 Autoren und beim Lexikon um ein ebensolches (unter der Herausgeberschaft von Daniel Schubbe und Jens Lemanski) von ca. 75 Autoren handelt, geht der Grundriss auf einen alleinigen Verfasser zurück, den seit Langem als Schopenhauer-Experten bekannten Trierer Philosophen Peter Welsen.
W.s Grundriss hat einiges mit dem Handbuch, einiges aber auch mit dem Lexikon gemeinsam. Wie das Handbuch räumt er neben dem Werk sowohl der Biographie als auch der Wirkungsschichte mehr Platz ein, als dies bei Philosophen allgemein üblich ist. In der Tat ist Schopenhauers Philosophie – ähnlich wie die seines Lesers und Bewunderers Nietzsche – aufs Engste mit seinem Leben und seiner Persönlichkeit verwoben, und wohl kein Philosoph hat – wie Nietzsche – eine vergleichbare Wirkung außerhalb der disziplinären Grenzen der Philosophie entfaltet. W. widmet der Biographie nicht mehr als zehn, der Rezeptionsgeschichte nicht mehr als 25 Seiten, aber beide sind in ihrer inhaltlichen Dichte in höchstem Maße informativ. Vor allem die Rezeption im 19. Jh. kommt detailliert zur Sprache. Mit dem Lexikon andererseits hat der Grundriss gemeinsam, dass er in seinem 300-seitigen Hauptteil die einzelnen 140 Stichworte in lexikographischer Ordnung abhandelt, so dass man in diesem Teil wie in einem Lexikon nachschlagen kann. Der Umfang der Einträge ist der jeweiligen Bedeutung des Begriffs für das Verständnis von Schopenhauers Philosophie angepasst. Dabei werden teilweise Inhalte aufgegriffen, die W. in einer anfänglichen 40-seitigen, »systematischer Abriß« genannten Kurzdarstellung des Werks dargestellt hat, zum größeren Teil jedoch darüber hinausgehende Erläuterungen geboten, zumeist unter Zitierung von Schlüsselpassagen, in denen Schopenhauer mit der ihm eigenen Wortmächtigkeit zu Worte kommt und Lust auf das Original macht. Alle Lemmata sind formal wie inhaltlich ausgewogen: Der Leser wird ins Bild gesetzt: knapp, prägnant, zugleich unter Einbeziehung einer Vielfalt von Perspektiven. Auch sonst ist dieses Werk ausgesprochen leserfreundlich. Der Text ist sehr gut lesbar, verzichtet weitgehend auf Fachterminologie und zitiert Schopenhauers Werke durchweg nach der für die meisten Leser zugänglichen Zürcher Ausgabe.
W. erweist sich in diesem Werk als einfühlsamer Hermeneutiker. Er versteht die einzelnen Momente der Philosophie Schopenhauers aus ihrem inneren (mit Schopenhauer gesprochen »organischen«) Zusammenhang heraus und sieht über viele der kleineren und größeren Widersprüche dieser Philosophie großzügig hinweg. Manche Unstimmigkeiten und Ambivalenzen fordern ihn aber dennoch gelegentlich als Kritiker heraus, wobei die wichtigste dieser Ambivalenzen das Schwanken dieser Philosophie zwischen einem an Kant anknüpfenden transzendentalen Idealismus und einem dem Materialismus nahekommenden Naturalismus ist. Nach dem Ersteren ist der Wille »Ding an sich« und die Natur »Vorstellung«; nach dem Letzteren ist die Natur die schlechthin primäre Realität und der Wille ein naturalistisch-evolutionär zu erklärender Lebensdrang. Interessanterweise ist W.s Umgangsweise mit dieser Ambivalenz stellenweise ihrerseits ambivalent: Ihren Kulminationspunkt, das auf Zeller zurückgehende sogenannte »Ge­hirnparadox«, nach dem das Gehirn nicht zugleich der transzendentale Erzeuger der Natur und als biologisches Organ Teil der so erzeugten Natur sein kann, deutet er einerseits als Missverständnis (29), bezweifelt aber an anderer Stelle (41 FN) dennoch, ob das tran szendentale Verständnis der raumzeitlichen Erscheinungswelt, das Schopenhauers für sich reklamiert, mit seiner materialistischen Anthropologie vereinbar ist. Auch an der Selbstgewissheit, mit der Schopenhauer manche seiner Philosopheme als Wahrheiten be­hauptet, etwa im Zusammenhang mit seiner Überzeugung von der Möglichkeit einer Fortdauer nach dem Tod trotz Verlust von Be­wusstsein, Individualität und Zeitlichkeit (231 FN), kann der Hermeneutiker W. nicht umhin Anstoß zu nehmen, vor allem angesichts von Schopenhauers Betonung der Relativität und Vorläufigkeit aller Metaphysik.
Zumindest einige der Ambivalenzen und Widersprüche, die Schopenhauers Philosophie anzukreiden sind, dürften sich auflösen, wenn man Schopenhauers Philosophie, wie es W. vorschlägt (56), ihrerseits als »hermeneutisch«, als Ausdruck einer durch Enttäuschungserfahrungen und Erlösungssehnsucht geprägten Sicht auf die Welt deutet. Entgegen Schopenhauers überwiegendem Selbstverständnis wäre diese Philosophie dann allerdings eher als begriffsförmiger Ausdruck eines persönlichen Weltschmerzes zu verstehen denn als ein wie immer geartetes mit den Philosophien von Kant und Hegel konkurrierendes System.
Kritisch ist anzumerken, dass die Anordnung der Stichwörter im Lexikonteil des Buchs übersichtlicher gestaltet hätte werden können. So findet man etwa das Lemma »metaphysisches Bedürfnis« unter dem Buchstaben B eingeordnet, nicht bei dem Lemma Metaphysik (wobei es ein eigenes Lemma »Bedürfnis« nicht gibt), während andererseits das Lemma »reines Subjekt des Erkennens« unter R zu finden ist, der »kategorische Imperativ« unter »Imperativ« und das »bessere« Bewußtsein hinter »Bewußtsein«.