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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1083–1087

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Türcke, Christoph

Titel/Untertitel:

Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2021. 233 S. Geb. EUR 22,00. ISBN 9783406757297.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Pluckrose, Helen, and James Lindsay: Cynical Theories. How Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender, and Identity – and Why This Harms Everybody. Durham, NC: Pitchstone Publishing 2020. 352 S. Lw. US$ 27,95. ISBN 9781634312028.
Neuhäuser, Christian, u. Christian Seidel [Hgg.]: Kritik des Moralismus. Berlin: Suhrkamp 2020 (aktuelle Aufl. 2021). 490 S. = suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2328. Kart. EUR 28,00. ISBN 9783518299289.


Die Debatten über die Konstruktion von sozialen und individuellen Identitäten, die auf die Zuordnung von persönlicher Herkunft und kulturellen Hervorbringungen abzielen, lassen keinen Bereich unserer aktuellen Kultur unberührt. Sie besitzen eine eigentümliche Dynamik. Primär sind sie an der Verknüpfung von Ursprung und Ausdruck orientiert und suchen nach einer Passgenauigkeit beider, die als normatives Kriterium für berechtigtes Eigensein behauptet wird. Das ist ein zentripetales Verfahren, eben an »Identität« interessiert. Andrerseits bedienen sich diese Versuche unvermeidlich der sprachlichen Argumentation; nur mit diesem Mittel lassen sich Betroffenheiten organisieren, die dann auch in solche gesellschaftlichen Aktionen zu überführen sind, die der »Diversität«, dem Nebeneinander, der jeweiligen »Identitäten« dienen soll. Darin wird eine zentrifugale Bewegung erkennbar. Dabei sorgt die Verquickung von Interesse und Argument für erhebliche Schieflagen in den Debatten. Denn jede Auseinandersetzung wird sogleich dem Muster unterworfen, ob sie den Interessen entspricht oder nicht; weil jedes Argument diesem Kriterium unterworfen wird, wächst die Neigung, auf Analyse zu verzichten und sich gleich in die Hitze des Meinungskampfes zu begeben.
Immerhin gibt es die Gemeinsamkeit, dass der Streit – sofern er sich in den zivilisierten Bahnen von Druckwerken bewegt und auf administrative oder spontan organisierte Angriffe auf und Ausschlüsse von Personen verzichtet – sich sprachlicher Artikulationen bedient, die auf alle Fälle die je eigene »Identität« übergreifen müssen, wenn überhaupt gesprochen wird. Aus dieser Perspektive werden die zu besprechenden Bücher unterschiedlichen Zuschnitts und Gewichts vorgestellt.
Bereits in Christoph Türckes Titel spiegelt sich die Spannung, von der gerade die Rede war. Einerseits gibt das Buch eine Rekonstruktion der Naturverhältnisse, in denen Menschen leben und die nicht zu eliminieren sind; auf der anderen Seite fehlt die Pole-mik gegen die Gender-Bewegung nicht. Der naturphilosophische Grundgedanke ist aristotelischen Ursprungs und völlig einleuchtend: Was immer als »Materie« in Betracht kommt, auf die sich »Form« gestaltend bezieht, kann nicht völlig unbestimmt sein, sondern muss selbst bereits Züge des Geformtseins enthalten, die aufgenommen und verwandelt werden können. Nur dann aber, wenn diese in sich schon bestimmte »Materie« als Herkunft auch der »Form« anerkannt wird – was die Illusion einer Autogenese der Form zerstört –, ist Gestaltung überhaupt möglich. Sprache und Denken zehren von dieser grundlegenden Ausgangssituation. Im ersten Teils des Buches (13–120) führt der Leipziger Philosoph diesen Grundgedanken als eine anregende Kritik der neuzeitlichen Philosophie durch, die es nach seiner Analyse stets mit dem ausgeschlossenen und doch nicht auszuschließenden Anderen als der eigenen Voraussetzung zu tun hat. Dabei führt der Weg, wie man sich leicht denken kann, über Francis Bacon und Descartes, Kant und Fichte, Hegel und Husserl bis zum Konstruktivismus des 20. Jh.s. Insbesondere Foucault und Derrida treten als Spätankömmlinge dieser Tradition in den Blick, die sich deren impliziten Widersprüchen nicht entziehen können, gerade indem sie sich von ihr absetzen wollen. Der zweite Teil (121–223) nimmt dann die Rezeption und Umdeutung dieser philosophischen Gedankenlinie im Gender-Diskurs in den Blick. Dabei gewinnt eine naturphilosophische Pointe des ersten Teils besonderes Gewicht, nämlich die Organisa-tion der Zweigeschlechtlichkeit in der Naturgeschichte der Organismen. Sie ist das unerwartbare Resultat einer natürlichen Evolution vom Einzeller zum fortpflanzungsfähigen Organismus. Aber nicht nur das: Die in diesem Modell der Differenzverarbeitung und Konti nuitätsstiftung enthaltene Dynamik ist die Grundlage auch der sprachlich-kulturellen Verständigungsmöglichkeiten. Alle dekonstruktiven Umdeutungsversuche dieser naturgeschichtlichen Voraussetzung müssen daher scheitern, wenn sie diese Grundlage, die sie de facto für ihre eigene Argumentation benutzen, leugnen wollen. Auf dieser Linie werden dann die verschiedenen Phantasien der Selbstkonstruktion kritisiert, die T. nicht ohne Grund wie säkularisierte Schöpfungsmythen vorkommen.
Im zweiten Teil überwuchern manchmal sehr spekulative Hypothesen historischer Genese der Gegenwart die strenge Analyse. Gern hätte man gewusst, warum es gerade die Sexualität ist, die in den Fokus von Identitätskonstruktionen rückt. Auch würde man dem nur angedeuteten Gedanken von der zugleich individualitätsstiftenden wie individualitätsverhindernden Rolle des Kapitalismus noch mehr Aufmerksamkeit zugewandt wünschen. Da zeigt sich, dass die Analyse des Zusammenhangs von einleuchtenden naturphilosophischen Grundannahmen und gegenwärtigen Erscheinungsformen der Identitätsdiskurse noch vertrackter ist, als man meinen kann. Doch als ein philosophisch durchaus weit ausholender Einstieg in die kritische Debatte über Identität liest man T.s Buch mit Gewinn.
Bei dem Band von Helen Pluckrose und James Lindsay, dessen deutsche Übersetzung für September 2021 bei C. H. Beck angekündigt ist, überwiegt der polemische Ton das durchaus vorhandene, aber enger gefasste analytische Interesse. Das mag dem polemogenen angloamerikanischen Universitätskontext geschuldet sein und spricht sich bereits auf dem Buchumschlag aus, wenn dort der Titel »Critical Theories« im Korrekturmodus durchgestrichen und in »Cynical Theories« verwandelt wird. Man kann in diesem Vorgang die These des Buches erkennen: Zynische Theorien sind, gemäß dem Doppelsinn von »Zynismus«, solche, die sich ganz auf sich selbst beziehen und sich darum um das Andere nicht scheren; das behauptete Interesse an Alterität wird der Konstruktion der eigenen Identität geopfert. Die später im Buch einzeln durchmusterten Konzepte auf verschiedenen Gebieten der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften nehmen dabei tatsächliche gesellschaftliche Probleme auf, verlagern deren Diskussion und Bearbeitung aber in den Binnenraum des Diskurses Gleichgesinnter und verfehlen so die Aufgabe der Wissenschaft, sich um eine Zuordnung von Besonderem und Allgemeinem zu kümmern. Ironischerweise fußt dieser intellektuelle Verfahrenstyp auf der French Theory vor allem Foucaults und Derridas, die ihrerseits Motive Heideggers und Nietzsches abwandelten; man erkennt daran den Importcharakter gerade derjenigen Konstellationen, unter denen sich derzeit der Dominanzanspruch anglophoner Theory artikuliert. Die Selbstbezeichnung Critical Theory hat mit der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz dagegen rein gar nichts zu tun, ist sie doch kritisch nur gegenüber anderen, nicht, wie bei Adorno und Horkheimer, zuerst gegen sich selbst.
Wird die philosophische Vorgeschichte unter dem Stichwort »Postmoderne« mit den Namen Foucault, Derrida und Lyotard nur reichlich summarisch in Erinnerung gerufen (21–43) – hier liegt keinesfalls die Stärke des Buches –, so ist die Geschichte der Critical Theory in ihren verschiedenen thematischen Entfaltungen überaus anschaulich dargestellt; gerade für diejenigen, die mit den intellektuellen Moden in den USA nicht durchweg vertraut sind. Die entscheidende Wendung ist die vom bloß philosophischen zum ap-plied postmodernism (46), die die French Theory zu einem Hebel sozialer Veränderung machen will. Dabei schließt an eine subver-siv-ironische Aneignung des Diskurs-Diskurses, der sich lieber un­verbindlich gibt als binär zu argumentieren, nach der Selbst-destruktion des Postkolonialismus mit seiner Diffusion des Wahrheitsbegriffs (67–88) die harte Variante des konstruktiven Identitätsaufbaus an, wie er in der Queer-Bewegung (89–110) seinen An­­fang nimmt und dann für die Transformation der verschiedenen Feminismen in die konstruktivistische Gender-Lehre sorgt (135–157).
Für die Geschichte dieser angewandten Theory (die ob ihrer identitären Logik im ganzen Buch immer wie ein Eigenname großgeschrieben wird) bildet die intersectionality, die von Kimberlé Crenshaws Mapping the Minds (1991) ausgeht und die critical race theory variiert (111–134, besonders 123–127), eine bedeutsame Zäsur. Denn mit dieser Wendung wird der singuläre Bezug auf eine einzige Erscheinungsweise der Identitätsbildung verlassen; es kommen alle möglichen Modifikationen der humanen Existenz als Einfallstor für Benachteiligung und Diskriminierung in Betracht. Damit aber vervielfältigt sich das Feld möglicher Identitätskonstruktionen ins Unendliche, geraten doch auch Überlagerungen und Überschneidungen solcher intersections ins Spiel. Daraus resultiert der Weg in die Pluralisierung der Identitäten, deren unendliche Steigerung nur darum erstrebenswert erscheinen kann, weil man am Ende das Erreichen der Individualität erhofft – was aber bereits aus grundbegrifflichen Einsichten ausgeschlossen ist: Auch die umfassend erkannte und markierte Fremdbestimmung führt nicht zur Selbstbestimmung. Dieser Logik unterliegt konsequenterweise die infinite Pluralisierung der Gender-Ansätze, die über die eher schlichten Versuche der disability studies (159–180) hinausgeht.
Die anschließende dritte Phase der Durchsetzung der Critical Theory verdankt sich – angesichts der offenkundigen begrifflichen Schwäche all dieser Versuche – nicht ihrer rationalen Überlegenheit, sondern einer institutionellen Förderung in Gestalt des – universitätsinternen – Social Justice Scholarship (181–211). Denn – über die Gründe ist noch zu reden – es hat sich in den USA auf breiter Front eine Unterstützung der Theory ergeben, die inzwischen dafür gesorgt hat, dass alles, was ihr – vorerst in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften – widerspricht, abgelehnt und ausgegrenzt wird. Infolge des Kurzschlusses von Argument und Person sind davon aber nicht nur theoretische Konzepte, sondern auch individuelle Lebensgeschichten betroffen. Nicht ohne Grund lautet daher die Behauptung that Social Theorists have created a new religion (210; für eilige Leser empfiehlt sich das Summary 207–211).
Was aber wäre nun zu tun, um sich diesem Komplex entgegenzustellen? Hier versagt das Buch gründlich, indem es eine Idee des liberalism zu verfechten versucht. Erstens ist diese Idee ihrerseits – und das kann man nachvollziehen – zu tief verwickelt in die Dominanzkämpfe an amerikanischen (und britischen) Universitäten, als dass man auf ihrer Grundlage eine analytisch souveräne Perspektive einnehmen könnte; die Klage über die Verdrängung der eigenen Position schränkt die Blickweite ein (213–235). Die seinerzeit aufsehenerregende Aktion von Pluckrose, Lindsay et al. 2018, poststrukturalistisch orientierte Zeitschriften mit Nonsens-Artikeln aufs Glatteis zu führen, entspricht diesem Habitus. Zweitens bewegt sich die praktische Kritik ganz auf der Ebene der Universitäten, also im kulturell-diskursiven Bereich. Gegen die unterstellte Religionsförmigkeit der Theory wird ein zahnloser Säkularismus aufgeboten (237–269); auch an anderem Ort hat sich der Mitverfasser Lindsay in Angelegenheiten der Religion als inkompetent erwiesen (Every-body is wrong about God, 2015). Hier hilft das Buch nicht weiter. Es gibt, gerade in seiner Betroffenheit und Verletztheit, einen gu­ten Eindruck von der in den USA etablierten Diskursmacht der Diskurs-Diskurse, die sich trotz flagranter Selbstwidersprüche zu er­halten vermag.
Doch woran kann das liegen? Zwei Gesichtspunkte kommen in Betracht. Erstens und aus subjektiver Perspektive scheinen dieje-nigen, die solcher Theory anhängen oder sich von ihr einvernehmen lassen, nach dem Ausdruck eines anerkannten individuellen Selbstseins zu suchen, das tief im eigenen Empfinden wurzelt. Das zeigt sich elementar darin, dass sie reden und schreiben, also sich als Einzelne mitzuteilen suchen. Ob dieser Wunsch nach Authentizität jemals zu erfüllen ist bzw. ob und in welchem Maße man sich zu ihm ins Verhältnis setzen muss, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Doch bekräftigt jede erfahrene Nichtanerkennung die un­stillbare Utopie eines solchen Wunsches. Auf der anderen, objektiven Seite muss man sich fragen, warum diese Art von Ansprüchen so weitgehend anerkannt wird. Das hat vermutlich seinen stärksten Grund darin, dass die Verpflichtung zur Anerkennung allgemein empfunden wird, dass die gesellschaftliche Nichtverwirklichung von Anerkennung aber als Schuld gedeutet wird. Es wäre zu untersuchen, ob und inwiefern Gesellschaften, die nicht von der aus dem Christentum stammenden Schuldkultur geprägt sind, für solche Regungen empfänglich sind. Diese Beobachtung führt zuletzt auf die historische Frage, welche gesellschaftlichen Bestimmungskräfte sich im Hintergrund der in diesem Buch dokumentierten Theoriekämpfe verschwiegen durchsetzen. Denn sowohl die Konstruktionsphantasien der Theory als auch die vermeintlich ideologiefreie Zurückhaltung des liberalism vertragen sich problemlos mit der entindividualisierenden Individualisierung des digitialen Kapitalismus.
Diese Befunde erübrigen aber nicht, sich um eine zivilisierte Re­gelung der gegenseitigen Ansprüche auf den in Lebensformen enthaltenen Verpflichtungscharakter, also um Moralität, zu bemühen, sowohl was deren innere Normativität angeht als auch was deren äußeres Geltungsbedürfnis betrifft. Dazu kann man dem Band von Christian Neuhäuser und Christian Seidel, der hier aus unserer gegenwärtigen Perspektive betrachtet wird, sechs aufschlussreiche Hinweise entnehmen:
Die erste Erinnerung besteht darin, dass moralische Urteile unerlässlich sind; das ist die Necessität von Moral. Denn jedes humane Handeln bewegt sich in der Differenz von vorliegendem Sein und noch nicht realisiertem Sollen. Das gilt grundsätzlich anthropologisch, aber auch in jeder möglichen soziologischen Em­pirie, sofern sich soziale Gruppierungen nicht nur durch vergangene Geschichte konstituieren, sondern eine gemeinsame verbindliche Handlungsstrategie inkorporiert haben müssen, die sich in der Artikulation von moralischen Normen äußert. Die Anwendung dieser Normen unterliegt nun aber zwei bestimmten Modi des Gebrauchs von moralischen Urteilen. Der eine Modus ist ihre Aggressivität. Denn einen anderen mit einem moralischen Urteil zu be- und womöglich zu verurteilen, betrifft ja nicht nur die mangelnde Verwirklichung gutgemeinten Handelns, sondern bezieht sich auf die Urteils- und Handlungskompetenz des Subjekts selbst, die potentiell in Frage gestellt wird. Den anderen Modus kann man die Fallibilität des moralischen Urteils nennen. Denn wer so urteilt, kann sich natürlich auch irren – bereits in der Erfassung des zu beurteilenden Sachverhalts. Überdies muss jeder Urteilende in Rechnung stellen, dass das für andere geltend gemachte Urteil auch ihn selbst betrifft; dass auch er zu denen gehört, die der Norm irgendwann einmal nicht folgen. Es ist aus diesen beiden modalen Gesichtspunkten ratsam, mit der kommunikativen Anwendung von moralischen Urteilen, so unerlässlich sie sind, bedacht umzugehen, um nicht im »Moralismus« zu enden. (So im Anschluss an Monika Betzler, Moralismus und die Tugend der Aufgeschlossenheit, 106–133.) Als vierter Gesichtspunkt, den man diesem klugen und differenzierten Buch entnehmen kann, kommt die Pluralität der Gemeinschaftsbildungen in Betracht. Da man mit einer lebensweltlichen Vielfalt von Gruppenzugehörigkeiten und Handlungskontexten rechnen muss – niemand lebt in der modernen Gesellschaft in nur einem einzigen Herkunfts-, Handlungs- und Verpflichtungszusammenhang –, erweist eine stabilisierende Moral ihre verbindende Kraft zunächst im Innenbereich eines sozialen Gefüges. Das Korrelat zu dieser Pluralität ist die Partikularität der Reichweite moralischen Urteilens. Nur dann, wenn man für alle sozialen Gebilde eine einzige, universale Moral geltend machen könnte, wären unmittelbare moralische Urteile von unbegrenzter Reichweite möglich. Über diese verfügt aber niemand – weil es eine auf diese Weise integrierte Gesamtgesellschaft nicht gibt. Genau das ist als eine Wurzel des »Moralismus« auszumachen, dass partikular generierte und insoweit funktionstüchtige moralische Verpflichtungen auf unmittelbare Weise universal geltend gemacht werden sollen. Daraus folgt nun aber, sechstens, dass das Verhältnis von verschiedenen Lebensformen, die sich ausgebildet haben, nicht nach dem Muster der Moral, sondern im Modus einer selbstexplikativen Deliberation vorzunehmen sind. Dabei ist nichts weiter vorauszusetzen als die Reflexion von Handlungsgründen auf die handelnden Personen hin, die sich in moralisch sensiblen Kontexten bewegen. Die faktische Zersplitterung von Kohärenzansprüchen ist dabei stets vorausgesetzt, ja die Bedingung dafür, überhaupt so vorzugehen. Wir kommen damit auf den schlichten Sachverhalt zurück, dass auch jede Identitätskonstruktion sich als solche artikuliert, also auf Zustimmung und innere Verpflichtungsübernahme aus ist – was sich elementar im Gebrauch der Sprache als dem Modus der Erschlossenheit der gemeinsamen Welt zeigt. (Dies im Anschluss an Eva Buddeberg, Wer kritisiert wen im Namen der Moral?, 183–205.)
Dass dieser Band überdies gute Erörterungen zu Phänomenen des »Moralismus« bietet, dafür Momente aus der Philosophiegeschichte (Kant, Nietzsche) aufnimmt und daraus folgend praktisch-moralische Diskurse (u. a. Migration, Massenmedien) analysiert, sei wenigstens zum Schluss angemerkt.