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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1074–1075

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Bey, Henning, u. Meinrad Walter

Titel/Untertitel:

Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium.

Verlag:

Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft in Zusammenarb. m. d. Carus Verlag 2020. 182 S. m. Audio-CD = Wort//Werk//Wirkung. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783438048417 (Dt. Bibelgesellschaft); 9783899484168 (Carus).

Rezensent:

Michael Graf Münster

In der 2020 neu begründeten Reihe des Carus-Verlages und der Deutschen Bibelgesellschaft »Wort//Werk//Wirkung« ist dies das dritte Buch über ein in der Klassik-Szene erstrangig prominentes Oratorium. Vorangegangen waren Bücher über Beethovens Missa solemnis und Bachs Matthäuspassion. Als Herausgeber und Stammautor fungiert der Freiburger katholische Theologe und Musikwissenschaftler Meinrad Walter. Jeweils beigelegt ist eine CD im (daten- und klangreduzierten) mp3-Format, die Aufführungen der Werke unter Leitung von Frieder Bernius oder im Falle des Weihnachtsoratoriums von Hans-Christoph Rademann enthält: Interpretationen ohne Extreme, mit vorzüglichen Ensembles. Persönliche Bemerkungen der Dirigenten zu Werk und Aufführung sind im Buch enthalten.
Leitperspektive der Reihe »Wort//Werk//Wirkung« ist die er­strebte Präsenz der biblischen Tradition im Kulturleben. Heißt hier: in abendfüllenden Werken für Soli, Chor und Orchester musikalisch zugänglich gemacht und ausgelegt. Deshalb findet sich zuerst eine Einführung des Mitautors Henning Bey, Chefdramaturg der Internationalen Bachakademie Stuttgart, zu Bachs Situation in Leipzig nach 1730, der Zeit, in der das Weihnachtsoratorium entstand. Bey schildert sodann die liturgisch-kalendarische Ausnahmesituation 1734/35, die ein geschlossenes, opernnahes Oratorium aus sechs Kirchenkantaten ermöglichte, und Bachs Technik der Organisation bildhafter Szenen, in denen sich der Evangelistenbericht in Arien und Choräle hinein entfaltet.
Den inhaltlichen Schwerpunkt des Buches bildet das Kapitel »Vom Evangelium zum Oratorium«. Walter nennt es eine biblisch-poetische Erschließung unter der Leitfrage »Auf welchen Wegen des Verstehens kommen wir den weihnachtlichen Bibelversen und Choralstrophen sowie Picanders (des Librettisten Bachs, M. M.) lyrischer Barockdichtung näher?« Er stellt zunächst die Autoren des Librettos (Matthäus und Lukas, Luther als Bibelübersetzer und Lieddichter, die weiteren Lieddichter Paul Gerhardt, Johann Rist, Gerhard Weißel, Johann Franck und Georg Werner sowie Picander) vor. Dann referiert er die Weihnachtsgeschichten des Lukas- und Matthäusevangeliums und Picanders Umgliederung dieses Stoffes aus der Evangelien-Leseordnung von sechs Gottesdiensten in eine Szenenfolge für ein aus sechs Kantaten bestehendes Oratorium. Walter zeigt, dass Bach mitnichten einfach Arbeit sparte, als er w esentliche Teile des Weihnachtsoratoriums aus drei kurz zuvor entstandenen Gratulationskantaten für das sächsische Königs-/Fürstenhaus übernahm, und wirft die Frage auf, ob die Zweitnutzung (Musikwissenschaftler sprechen von Parodieverfahren) dieser Huldigungsmusiken nicht von vornherein geplant war.
Anschließend stellt Walter die sechs Teile des Weihnachtsoratoriums eingehend als jeweils von einer Polarität zweier Themen geprägte Szenenfolge dar. Am Beispiel von Teil I des Werkes: Ma-jestät in Niedrigkeit ist die Themenpolarität. Szenisch wird der Evangelienbericht aufgeteilt: die adventliche Erwartung, nicht explizit Teil des Evangelienberichts, wird entfaltet im Dreischritt eines betrachtenden Rezitativs (»Nun wird mein liebster Bräutigam«), einer aneignenden Arie (»Bereite dich Zion«) und eines Chorals (»Wie soll ich dich empfangen«). Die zweite Szene ab »Und sie gebar ihren ersten Sohn« stellt das Vere Deus – Vere homo dar: in Luthers Liedstrophe »Er ist auf Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm« mit dem eingefügten Rezitativ »Wer will die Liebe recht erhöhn?« und der folgenden Bass-Trompeten-Arie »Großer Herr, o starker König […] o wie wenig achtest du der Erden Pracht«. Der Schlusschoral dann vereint Majestät und Niedrigkeit, indem das Jesuskind unter dem Klang von Trompeten und Pauken besungen wird.
Von Bey zusammengestellte illustrative Berichte, Erinnerungen, Analysen und Kommentare von Komponisten (z. B. Brahms und Wolf) und Interpreten (u. a. Koopman, Harnoncourt, Gar-diner), Bachforschern (u. a. Axmacher, Geck), Theologen (u. a. Schweitzer, Sölle) und Schriftstellern (u. a. Nietzsche, Härtling) geben einen Eindruck von der kaum überblickbar vielfältigen Wirkungsgeschichte von Bachs Weihnachtsoratorium.
Das Buch löst den Anspruch der Reihe ein, die Bibel als Kulturgut zu erschließen und zu plausibilisieren. Es leitet die Aufmerksamkeit von Musikfreunden, Chorsängern, auch Theologen, auf die Literatur und Dichtung, die Bachs Musik ausgelöst hat und ohne die diese nicht existiert. Es informiert gründlich und anschaulich. Das docere ist auf delectare und movere hin ausgerichtet. Das Buch liegt dem Auge angenehm in der Hand und der Layout-Bezug auf die beigelegte CD erleichtert den Zugang zu den Stücken. Inhaltlich ist es vor allem in den von Meinrad Walter geschriebenen Teilen weithin dessen 2006 als Bärenreiter-Taschenbuch erschienener Werkeinführung gleich.