Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1048–1050

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Min, Yoo Hong

Titel/Untertitel:

Die Grundschrift des Ezechielbuches und ihre Botschaft.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XVII, 396 S. = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 81. Kart. EUR 104,00. ISBN 9783161538582.

Rezensent:

Thilo Alexander Rudnig

Mit der Arbeit legt Yoo Hong Min, seit 2014 adjunct professor an einer methodistischen Hochschule in Korea, die Druckfassung seiner Dissertation vor, die von Christa Schäfer-Lichtenberger betreut wurde und an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel entstanden ist. Dem Vf. geht es darum, die erste planvoll komponierte Fassung (»Grundschrift«) des Ezechielbuches zu rekonstruieren, deren Aussagen in ihrem historischen Kontext zu interpretieren und damit deren Theologie zu erheben. Dabei kommt er zu folgenden Ergebnissen: Der Mindestumfang dieser Grundschrift sei mit Ez 1,1–3,15; 3,16a.22–5,17; 8–11; 14,1–11; 20,1–26.30–44; 24,15–24; 12,1–16; 33,21 f.; 37,1–14; 40–42; 43,1–12.13–17; 44,1–3; 46,19–24; 47,1–12 zu bestimmen, und als ihr Ziel ergebe sich, »die geistige Krise der JHWH-Religion zu bewältigen, die durch den Zusammenbruch Judas und die Exilierung der führenden Gruppen ausgelöst wurde« (355). Dabei werde sie ganz deutlich von ihrem babylonischen Hintergrund geprägt. Adressaten der Grundschrift seien nicht nur die babylonische Gola, sondern »ganz Israel, das in der Diaspora lebte« (358).
Mit der Annahme einer Grundschrift knüpft der Vf. bewusst an Thesen von Thomas Krüger, Jörg Garscha, Karl-Friedrich Pohlmann und Karin Schöpflin an, die von der Existenz eines älteren Prophetenbuches ausgehen. Dabei rechnen Pohlmann und Garscha anders als der Vf. damit, dass die babylonische Situierung und Orientierung von Ez erst durch die spätere golaorientierte Redaktion eines auf das Land Palästina ausgerichteten vorliegenden Buches eingetragen worden ist. Das vom Vf. avisierte Wachstumsmodell von Ez hat den Ausgleich recht disparater Thesen zur Buchentstehung als Ziel. Konkret soll eine Brücke von der »prophetischen Aktivität Ezechiels« (9), bis zur »Buchkomposition« (9) von ganz Ez geschlagen werden. Der Vf. überlegt, »wie eine durchdachte einheitliche Buchgestalt aufgrund der prophetischen Überlieferung entstanden sein kann und welche Motivation diese markante literarische Aktivität veranlasste.« (9) Gerade weil der Vf. mit sehr produktiven Wachstumsprozessen rechnet, die zur Entstehung des gesamten Ezechielbuches, aber auch schon der Grundschrift ge­führt haben, hätte er hier die Überlegungen zum sogenannten buchspezifischen Redaktionsmodell von Odil Hannes Steck fruchtbar machen können, der leider nicht im Literaturverzeichnis be­gegnet.
Bei der Ausarbeitung seiner Thesen geht der Vf. wie folgt vor. Nach der Einleitung (Kapitel 1; 1–18) wertet er in einer forschungsgeschichtlichen Betrachtung (Kapitel 2; 19–50) nicht nur die vorliegenden Wachstumsmodelle zu Ez für seinen eigenen Ansatz aus, sondern sammelt auch Beobachtungen, die das babylonische Exil als historischen Hintergrund des Buches plausibel machen sollen.
Dazu verweist er einerseits kurz auf Berührungen mit Jer, P und H sowie späteren Texten, andererseits geht er auf Akkadismen und Aramaismen ein. Speziell sieht er mit Avi Hurvitz das Hebräische des Ezechielbuches als charakteristische und in seiner Datierung festliegende Übergangsvarietät vom Early Biblical Hebrew zum Late Biblical Hebrew (39 f.49 f.). Hier muss ein kurzer Verweis auf die Vielzahl von Untersuchungen genügen, die die fundamentalen methodischen Probleme dieses sogenannte lingusitic dating von Texten aufgezeigt haben (vgl. exemplarisch Ian Young/Robert Rezetko/Martin Ehrensvärd, Linguistic Dating of Biblical Texts, Vol. 1: An Introduction to Approaches and Problems; Vol. 2: A Survey of Scholarship, A New Synthesis and a Comprehensive Bibliography, London/Oakville 2008, oder neuerdings Thilo Alexander Rudnig, Philologie und Literarkritik. Welcher methodische Gewinn liegt im linguistic dating?, in: Reinhard Müller/Urmas Nõmmik/Juha Pakkala [Hgg.], Fortgeschriebenes Gotteswort. Studien zu Geschichte, Theologie und Auslegung des Alten Testaments, FS Christoph Levin, Tübingen 2020, 485–495). Es folgen die großen Analyseteile der Arbeit.
Kapitel 3 (51–132) ist der genauen Untersuchung der Struktur von »Textkomplexen« gewidmet, die aus der Zusammenstellung einzelner prophetischer Textüberlieferungen unter einem gemeinsamen Thema entstanden sind.
Die Textkomplexe teilen sich in die beiden Makrogattungen »Visionsbericht« und »prophetische Rede«. Die prophetischen Reden (z. B. 12,21–25; 14,2–5; 33,23–29), deren individuellen Aufbau und Sprachform der Vf. untersucht, verfolgen eine aus zwei Redeteilen bestehende Struktur: An eine kurze Rede JHWHs an Ezechiel (Einführung) schließen sich mehrere Sprüche JHWHs an unterschiedliche Adressaten an (Entfaltung). Dieses Muster sei sicher auch im Jer- und Sach-Buch zu greifen (83). Einige prophetische Reden (z. B. 12,1–16; 24,15–24 oder 43,7–48,35) wurden durch narrative Elemente zu einer Erzählung umgestaltet, »dramatisiert«. Den Reden liege die originale Verkündigung des Propheten Ezechiel zugrunde, der nicht nur mündlich gewirkt, sondern »seine theologischen Gedanken schriftlich niedergelegt« habe (80).
Im Anschluss (Kapitel 4; 133–208) weist der Vf. nach, wie durch Situations- und Zeitangaben sowie durch die buchübergreifenden Motive vom Weg der Herrlichkeit JHWHs und von der Gefangenschaft, dem Verstummen und dem Wächteramt Ezechiels eine planvolle Gesamtkomposition geschaffen wird. Sowohl für die Situationsangaben (1,1; 3,15; 8,1.24b.25; 14,1; 20,1) als auch für sämtliche Zeitangaben wird redaktioneller Charakter auf unterschiedlichen Stufen veranschlagt. Auch die Motivkomplexe seien Ergebnisse kompositorischer und redaktioneller Eingriffe in den Text. Das folgende fünfte Kapitel (209–272) ist vor allem der Rekonstruktion der Grundschrift gewidmet. Dieser habe eine Sammlung von Visionsberichten, konkret der visionären Anteile von 1,1–3,15; 8–11; 37,1–14; 40–48, vorgelegen. In diese Sammlung werde eine Reihe von prophetischen Reden eingetragen und durch Dramatisierung umgearbeitet, bevor 12,1–16; 24,15–24 hinzukommen und weitere Redeteile durch die in Kapitel 4 untersuchten Strukturelemente integriert werden. Die Grundschrift stehe der Geschichtserzählung von P nahe und sei literarisch als »prophetische Geschichtserzählung« zu charakterisieren. Die Schüler Ezechiels, vermutlich ehemalige Priester, hätten sie in der Mitte der Exilszeit am Exilsort ausgearbeitet. Kapitel 6 (273–354) erhebt die theologische Kontur der Grundschrift, vor allem ihrer Geschichtsvorstellung (279–317) und ihrer Tempelkonzeption (317–344). Die Grundschrift übe Kritik am Staatskult der Königszeit und an der Heilssicherheit vorexilischer Tempeltheologie. Ihre Geschichtsvorstellung sei vor allem aus Ez 20 zu erheben, das an die Exodus- und Landnahmetradition anknüpft. Geschichte werde als Erziehung zum Gottesgehorsam gedeutet und die Erfüllung der Landverheißung in die heilvolle Zukunft gelegt. Ein Schlussteil (Kapitel 7; 355–362) sichert die Arbeitsergebnisse. Literaturverzeichnis (363–375) sowie Stellen-, Autoren und Sachregister (377–396) schließen die Untersuchung ab. Das Werk ist in gut lesbarem Stil geschrieben; ein nachvollziehbarer Aufbau und regelmäßige Fazits helfen wesentlich bei seiner Erschließung. Auch der Anmerkungsapparat und die Registerteile tragen zur Benutzbarkeit des Buches und zum schnellen Zugriff auf seine Inhalte bei.
Die Untersuchung strebt einen Kompromiss zwischen verschiedenen Wachstumsmodellen zu Ez an. Einerseits werden redaktionskritisch orientierte Modelle (Garscha, Pohlmann) fruchtbar gemacht, andererseits steht ähnlich wie beim Modell Walter Zimmerlis noch die Suche nach originalem Prophetenwort im Hintergrund. Dem Vf. gelingt es, erhebliche Textmengen zu bewältigen, was dazu führt, dass einige Analysen sehr flächig geraten. Die Ideen zum Wachstum des Buches hätten durch noch eingehendere literargeschichtliche Untersuchungen der Texte begründet werden können, die zum besseren Verständnis komplexer Einheiten beigetragen hätten. Wo der Vf. literarische Analysen vornimmt, tendiert er zu thetischem Vorgehen wie z. B. bei Ez 24,15–24 (103–108) oder 37,1–14 (113–116). Der zentrale Ez 20 sperrt sich insofern der Gesamtthese, als hier die für die Entstehung der Grundschrift entscheidenden Ereignisse von 597 und 587 v. Chr. keine Erwähnung finden und (abgesehen von den rahmenden V. 1–3.30 f.) die babylonische Gola keine Rolle spielt. Nicht nur in seiner Anknüpfung an die Exodus- und Landnahmetraditon, sondern auch in seiner Reflexion über Zorn und Zornesrücknahme Gottes erweist sich Ez 20 als weitausgreifender Text, der gegen den Vf. in eine Spätphas e alttestamentlicher Traditionsbildung zu datieren ist. Gleichwohl macht der zu attestierende literarische und theologische Gedankenreichtum das Werk des Vf.s zu einem beachtenswerten Beitrag.