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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1042–1044

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Feldman, Liane M.

Titel/Untertitel:

The Story of Sacrifice. Ritual and Narrative in the Priestly Source.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XIII, 245 S. = Forschungen zum Alten Testament, 141. Lw. EUR 104,00. ISBN 9783161596360.

Rezensent:

Thomas Hieke

Die Bibel ist Weltliteratur, keine Frage – aber gilt das auch für die Opfervorschriften in Levitikus 1–10? Sind die Ritualvorschriften im dritten Buch Mose literarische Texte, haben sie überhaupt diesen Anspruch, Literatur zu sein? Während die meisten Menschen diese Frage verneinen würden, sind Liane M. Feldman und ich uns einig, dass auch diese meist (vor allem im Christentum) vernachlässigten Teile der Bibel Literatur sind.
F. widmet diesem Thema ihre Dissertation an der University of Chicago (advisor: Jeffrey Stackert) und legt sie in FAT 141 in überarbeiteter Form vor. Ihr Vorhaben beschreibt sie in der Einleitung (chapter 1): »This book addresses the question of the literary value of the supposedly nonliterary sacrificial texts« (4). Ihr Ausgangspunkt ist die Betrachtung der »priesterlichen Schicht« des Pentateuch als »independent literary composition that begins with the creation of the world in Gen 1 and continues through the death of Moses in Deut 34« (5). Anstelle des geläufigen Siglums »P« verwendet sie die Bezeichnung »Priestly Narrative«, da dieser Textbestand etwa je zur Hälfte aus Ritualvorschriften und Erzählungen bestehe. Dabei will F. die literarische Funktion der Ritualvorschriften herausarbeiten und die Beziehungen zwischen »Ritual« und »Er­zählung« analysieren. Nach einer Skizze der Forschungsgeschichte und dem Einschwenken auf den »post-Milgrom turn« der Untersuchung der priesterlichen Literatur diskutiert sie die hermeneutisch wichtige Frage, was es bedeutet, dass die Ritualvorschriften nur in einer in eine Erzählung eingebetteten literarischen Form vorliegen. Insofern böten die Ritualvorschriften der Tora kein his-torisch zuverlässiges Fenster in die damalige Welt; sie würden eben nicht schildern, was genau da am Tempel ablief. Zunächst einmal, so hält F. mit Recht fest, konstruieren Texte ihre eigene Textwelt (F.: »story world«, 14) und sind nur innerhalb dieser Konstruktion schlüssig verstehbar. Daraus kann nicht sofort und 1:1 eine historische Wahrheit oder eine zuverlässige Transkription eines ablaufenden Rituals abgeleitet werden. Daher ist diese außersprachliche Realität auch nicht das Erkenntnisinteresse von F.s Studie, vielmehr betrachtet sie die Texte, die Rituale beschreiben, als Literatur. Insofern ist das hauptsächliche Methodeninventar das der narratologischen Analyse, erst in zweiter Linie kommt Ritualtheorie zum Einsatz (15–16). Dabei knüpft sie vor allem an Naphtali Meshels Buch The Grammar of Sacrifice (Oxford 2014) an. F. liest den Text »Priestly Narrative« als eine literarische Erzählung (25: »a narrative history«), die selbst bei den Opferweisungen von Lev 1–7 darauf abzielt, dass im Kopf der Leserschaft eine gedankliche Vorstellungswelt entsteht, bei der das eben errichtete Zeltheiligtum – F. setzt bewusst bei Ex 40 ein – in dynamischer Weise bespielt wird.
Zunächst betrachtet F. die Kapitel Ex 40 bis Lev 7 (chapter 2), in denen nur zwei Erzählfiguren (characters) aktiv vorkommen: JHWH und Mose – jedoch wird darin die Leserschaft so involviert, dass sie selbst zu einem active character wird. Von der Einrichtung des Kultes an sei die Gemeinde der Israeliten präsent und zentral: Die Leserschaft sei bei Moses Privataudienz vor JHWH ständig mit dabei (66). Die Ritualvorschriften seien ein unverzichtbarer Bestandteil der sich entwickelnden Geschichte der Beziehung zwischen JHWH und den Israeliten. Dieser Sichtweise kann ich viel abgewinnen, und ich sehe hierin meine Interpretation der Opfer als »Kommunikation mit dem Heiligen/mit Gott« als bestätigt an.
Anhand von Lev 8,1–36; 9,1–24 und 10,1–7 behandelt F. im dritten Kapitel die Frage nach der Flexibilität des Rituals: Kann eine Figur der Textwelt (character) die Instruktionen JHWHs verändern? Während Mose und Aaron das können, scheitern Nadab und Abihu in tödlicher Weise, weil sie anders als Mose und Aaron nicht mit Zweck, Funktion und Systematik des von JHWH eingesetzten Kults vertraut gewesen seien und die essentielle Rolle des Volkes ignoriert hätten. Anders als in Ex 40–Lev 7 sei ab Lev 8 das Volk (und damit die angesprochene Leserschaft) in der Erzählung präsent und übernehme seine aktive Rolle im Kult. Zugleich hebt F. mit Recht hervor, dass die Komplexität der Einrichtung und Entwicklung der Rituale die Idee der Präsenz Gottes inmitten des Volkes als durchaus schwierige Vorstellung erweisen (108).
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den Aktivitäten am »achten Tag« der Inauguration des Zeltes der Begegnung und der Frage nach den chronologischen Abweichungen innerhalb der »Priestly Narrative«. Anhand der Zeitangaben in Num 1,1 und 7,1 zeigt F., dass der Erzähler sowohl Simultanität als auch Prolepse beim Erzählen der Einrichtung des Zeltes der Begegnung verwende und keine lineare Abfolge der Ereignisse präsentiere. Dabei werden rhetorische Ziele verfolgt: die Etablierung der Israeliten als essentielle Partner JHWHs und die Behandlung der wichtigen Fragen von Zugang, Privilegien, Ausschluss und Reintegration in die Kultgemeinde. »Innen« (Zelt) und »außen« (Lager) seien dabei zentrale Kategorien; wesentliche Aufgabe der Priester sei die Aufrechterhaltung der ordnenden Grenzen (Lev 10,10–11). Dabei werde nicht (ab)gewertet: unrein sei nicht schlechter als rein, heilig nicht besser als profan, vielmehr komme es auf die Ordnung und den jeweils von JHWH zugewiesenen Platz an.
Im fünften Kapitel untersucht F. die konzeptuelle Kohärenz der »Priestly Narrative«, vor allem anhand der JHWH-Reden in Lev 16 und 17: Beide Levitikus-Kapitel ringen um die Auswirkungen der intentional begangenen Sünden auf das Heiligtum und JHWH, deren Beseitigung und die Rolle des Tierblutes als Reinigungsmittel. Dabei komme auch der Raum außerhalb des Heiligtums und des Lagers als essentiell in den Blick, um die Sünden effektiv von JHWH fernzuhalten. Schließlich sieht F. enge Bezüge zu Gen 9 und damit eine dritte Form von Erschaffung der/einer Welt: Während die Welt in Gen 1 erschaffen und in Gen 9 erneuert werde, habe JHWH dazugelernt und mit Lev 16–17 etwas geschaffen, was F. treffend einen »fail-safe mechanism that ensures Yahweh’s continued presence among the Israelites« (28) nennt.
Dieses wichtige Buch öffnet in überzeugender Weise den Blick dafür, dass die Ritualvorschriften Teil einer Erzählung seien und somit keine Transkriptionen realen Kults, sondern retardierende Elemente, die die rituelle Welt um die Charaktere der Erzählung herum erschaffen. Sowohl die narrativen als auch die rituellen Texte, die freilich je unterschiedliche Formen und Funktionen haben, tragen in untrennbarer Weise dazu bei, die Geschichte der Israeliten, ihres Gottes und seines außergewöhnlichen Heiligtums zu erzählen. Letzteres sei das Gravitationszentrum der »Priestly Narrative«, um das sich alles drehe. Auf diese Weise etabliere JHWH seine Nähe inmitten der Israeliten und verändere ihren Alltag vollständig. Insofern betreffe diese »priesterliche« Literatur nicht nur die Sondergruppe der Priester, sondern das gesamte Volk. Im Zentrum stehe JHWH und wie das Volk zu JHWH in Beziehung treten könne – und dieser Weg sei das Opfer. Insofern geht es um »the story of sacrifice« – was im Deutschen nicht mit »Geschichte des Opfers« wiederzugeben ist, denn es geht gerade nicht um die Rekonstruktion historischer Gegebenheiten, sondern um die »Erzählung einer Beziehung«, die durch die Vorstellung von Opfern an einem imaginierten Heiligtum in Form eines literarischen Textes konstituiert wird – und an dieser Erzählung hat die Leserschaft aktiven Anteil, insofern sie die Vorgänge gedanklich nachvollziehen kann und soll. Diese für die antike Literatur enorm wichtige Sichtweise zu erschließen, ist das Verdienst von F.s Studie.