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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

537 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Lutherjahrbuch. Organ der internationalen Lutherforschung. Im Auftrag der Luther-Gesellschaft hrsg. von H. Junghans. 65. Jahrgang 1998.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 268 S. 8. Geb. DM 72,-. ISBN 3-525-87430-8.

Rezensent:

Ernst Koch

Der Jahrgang enthält neben einer Quellenedition (4) drei Beiträge zur Erforschung des Werks Martin Luthers (1-3) und zwei Beiträge zur Geschichte der Reformations- und Lutherforschung (5-6). An seiner Spitze stehen Nachrufe auf Oskar Bartel (zum 25. Todestag) (Janusz Narzyn’ski), Lennart Pinomaa (Simon Peura) und Erwin Mühlhaupt (Hans-Ludwig Slupina), die ihrerseits Auskunft über die Geschichte der Erforschung der Reformation geben.

1. Berndt Hamms Aufsatz "Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers" versteht sich insofern als Beitrag zur Bußgeschichte, als er auf die Wende aufmerksam macht, die die Bußtheologie des 12. Jh.s mit der Betonung der Liebe zu Gott als Motiv zu Umkehr und Sinnesänderung unter Zurücktreten der faktischen Bußleistung als Genugtun bei Bernhard von Clairvaux und Abaelard genommen hat. Das Ergebnis dieser Wende wurde im Spätmittelalter nur teilweise durchgehalten, so dass im Ockhamismus "ein moralischer Optimismus" zu beobachten ist, "der eigentlich nicht mehr plausibel machen kann, wozu der Mensch noch einer inneren Gnadenwirkung Gottes bedarf" (33 f.) und den Widerstand der Augustinereremiten hervorrief, der auch von Johannes von Staupitz mitgetragen wurde. Die Untersuchung des Übergangs von der Position dieses Lehrers Luthers zur zentralen Stellung des rechtfertigenden Glaubens in der Reformation als "ein Stück theologischer Mikrohistorie mit weltgeschichtlichen Konsequenzen" (35) erbringt, dass dieser Prozess einerseits an die Wirkung der Augustinrenaissance des 12. Jh.s erinnert, andererseits durch die Durchbrechung der Fragestellung nach der "genugsamen" Buße zur Ersetzung der Rolle der aktiven Gottesliebe durch den Glaubensbegriff führt, "der in der scholastischen Theologie die affektschwächste und frömmigkeitsfernste Dimension des Christseins bezeichnet" (42 f.). Für die gegenwärtige Debatte um die epochale Rolle der Reformation bedeutet Hamms Untersuchung ein weiteres Plädoyer für den historischen Einfluss der Erkenntnis Luthers auf den Gang der Geschichte.

2. Eugenio Andreatta ("Aristoteles als literarische Quelle Martin Luthers") macht darauf aufmerksam, dass Luther den antiken Philosophen aus Erinnerung zitiert und ihn als Quelle für moralische Leitsätze nutzt. Was Luther in der Erinnerung einkommt, "ist gekennzeichnet nur durch ein gemeinsames Element, nämlich durch das Nicht-Philosophische. Man kann deshalb von einem literarisch-gnomischen Gebrauch des Aristoteles bei Luther reden, der mit einer Kritik am Philosophen Aristoteles ohne Überschneidung einhergeht" (52).

3. Stefano Leoni führt in seinem Beitrag "Trinitarische und christologische Ontologie bei Luther. Wesen als Bewegung in Luthers Weihnachtspredigt von 1514" Ansätze von Tuomo Mannermaa kritisch weiter, indem er darlegt, dass Luther die aristotelische Ontologie strukturell aufnimmt, sie aber dadurch zerbricht, dass er das Verständnis der Beziehung von Sein und Werden umkehrt, damit auch Augustins Gottesverständnis als Für-sich-Sein Gottes verlässt und von der Christologie her, dem Für-uns-Sein Gottes, verwandelt. Damit wandelt sich auch die Anthropologie. "Im Glauben verliert ... der Mensch ganz sein Wesen als Immanenz und erhält ein neues Wesen als Existenz" (78). Existenz wird so zum "spezifisch theologischen bzw. christologischen Seinsbegriff" (81). Daraus folgt: "Die tiefste Theologie ist für Luther nicht die Trinitätstheologie als Kenntnis der inneren Natur Gottes, sondern die Christologie als Erfahrung der Liebe Gottes für uns" (84). Mag auch die Alternative in dieser Formulierung Leonis noch einer Präzisierung bedürfen, so ist doch die Relevanz seiner Ergebnisse überzeugend.

4. Andreas Flegel und Helmar Junghans edieren drei unbekannte Briefe Martin Luthers und Philipp Melanchthons aus dem Jahr 1532 zu einer Ehesache in Eilenburg aus einer Eilenburger handschriftlichen Überlieferung mit ausführlicher Einleitung und Kommentar.

5. Helmar Junghans ("Plädoyer für ,Wildwuchs der Reformation’ als Methapher") erinnert in Auseinandersetzung mit Berndt Hamm, Bernd Moeller und Dorothea Wendebourg an den ursprünglichen Sinn der von Franz Lau eingeführten Metapher als "Lebendigekeit und Vielfalt der reformatorischen Bewegung", als deren Gegensatz er die "planmäßige Organisierung einer Kirchenänderung" verstand (103).

6. In einer umfangreichen Rezension (109-177) sichtet Helmar Junghans das "Luthergedenken" 1996, indem er seinen Ertrag dem "Lutherjahr" 1983 gegenüberstellt. Im Blick auf das interdisziplinäre Interesse am Werk Luthers, das sich auch in der heranwachsenden Generation zeigt, sieht er den starken Impuls des Jahres 1983 fortwirken und erwartet, "dass Luthers Werk auch im nächsten Jahrhundert Menschen dienen wird, Lebensorientierung zu finden sowie Gottes Anrede und Verheißung in der Heiligen Schrift zu vernehmen" (177).

Vergleichsweise gering dem Umfang nach - sechs besprochene Titel - stellt sich in diesem Jahrgang der Rezenstionsteil dar. Die Lutherbibliographie (1587 Einzeltitel) bleibt ein nützliches und unentbehrliches Arbeitsinstrument.