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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1015–1028

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Martin Illert

Titel/Untertitel:

Theologie und Kirchenpolitik in der Ökumene

Beobachtungen zu einem spannungsvollen Verhältnis am Beispiel der Dialoge der EKD mit orthodoxen Kirchen


I »Ökumene ist ein leeres Wort«

Im November 1974 besuchten der Moskauer Patriarch Pimen und der Leiter des kirchlichen Außenamtes, Metropolit Nikodim von Leningrad, die Volksrepublik Bulgarien, um an den Feierlichkei-ten zum 50-jährigen Jubiläum der Weihe der Alexander-Newski-Kathedrale in Sofia teilzunehmen.1 Bei dem Treffen der beiden russischen Kirchenvertreter mit dem Heiligen Synod der Bulgarischen Orthodoxen Kirche kam es zu einem Eklat, als der bulgarische Metropolit Iosif von Varna den russischen Gästen vorwarf, die traditionsreiche Theologie und die mystische Spiritualität der russischen Kirche durch eine kirchenpolitisch motivierte Mitarbeit in der Ökumenischen Bewegung zu kompromittieren.2 Zwar entgegnete der russische Außenamtschef Nikodim seinem bulgarischen Kollegen, der Weltrat der Kirchen sei ein »Ort des friedlichen Dialoges der Kirchen auf Augenhöhe« und das Engagement für den Frieden und die soziale Gerechtigkeit sei »ein Anliegen aller Menschen«3, doch gab sich Iosif mit dieser Antwort nicht zufrieden und erklärte auf der Bischofsversammlung am Folgetag entrüstet: »Ökumene ist ein leeres Wort«4.

Zwei Jahrzehnte später tauchten die alten Vorwürfe Metropolit Iosifs in einem gänzlich veränderten politischen Kontext wieder auf. Nach dem Ende der sozialistischen Repression gegen die Kirchen in Osteuropa beklagten sich diesmal die orthodoxen Mitgliedskirchen im Weltrat der Kirchen in ihrer Gesamtheit über eine vermeintliche politische Instrumentalisierung der Ökumene.5 Hatte die Mehrzahl der westlichen Kommentatoren in den 1970er Jahren eine derartige östliche Ökumenekritik noch als Wortmeldung antikommunistischer Dissidenten gelobt, zeichnete man nun die orthodoxen Ökumenegegner der 1990er Jahren als rückwärtsgewandte Nationalisten.6 Mit der Etikettierung der Kritiker als »Reaktionäre« unterschied sich die westliche Mehrheitssicht nur in Nuancen vom Vokabular der einstigen sozialistischen Ge­heimdienste.7 Wo jedoch die Vorgeschichte der politischen Instrumentalisierung der Ökumene durch die sozialistischen Staaten im Kalten Krieg ausblendet wurde, übersah man auch leicht, dass sich die Ökumenekritik der 1990er Jahre zu nicht geringen Teilen als innerkirchlicher Emanzipationsversuch gegen die ehemals privilegierten Theologeneliten richtete, die in sozialistischer Zeit willige Helfer staatlicher Instrumentalisierung gewesen waren.8

Um die Debatte zum Verhältnis von Theologie und Kirchenpolitik in der Ökumene noch klarer fassen zu können, ist es notwendig, auch einen Blick auf die eingangs zitierte Gegenrede Metropolit Nikodims zu werfen. Einerseits folgt der Außenamtschef der russischen Kirche in seiner ambivalenten Replik auf Iosifs Kritik der staatlich vorgegebenen Ideologie, insofern er keine Unterschiede zwischen den Interessen »aller Menschen«, der Politik der sozialistischen Staaten und den »progressiven« Kirchen macht.9 Zu­gleich aber setzt Nikodims Argumentation ein kirchliches Selbstbild voraus, in dem die Kirchen nach einer eigenen politischen Agenda handeln.

Nimmt man dieses Selbstbild ernst, so ist die in den 1940er Jahren entstandene und bis heute in vielen Kreisen lebendige Vorstellung einer »sowjetisch-orthodoxen Kirche«10, die nur der verlängerte Arm der Moskauer Politik sei, mindestens unvollständig.11 In der Vorstellung Nikodims gibt es nicht allein die von Iosif kritisierte staatliche Kirchenpolitik gegenüber den Kirchen, sondern darüber hinaus eine von kirchlicher Seite betriebene und theologisch legitimierte Kirchenpolitik in der Ökumene.12 Ohne dass Nikodim diese von kirchlicher Seite betriebene Kirchenpolitik mit einem solchen Namen bezeichnet, macht seine Wortmeldung Folgendes deutlich: Neben dem Agieren der Kirchen gegenüber der »Politik« kennt der Moskauer Außenamtschef auch die »zwischenkirchliche Kirchenpolitik« des Einwirkens der unterschiedlichen Kirchen aufeinander und über diese hinaus noch eine »innerkirchliche Kirchenpolitik« des kirchenleitenden Umganges mit innerkirchlichen bzw. innerkonfessionellen Debatten.

In welchem Verhältnis steht aber die Theologie zu diesen unterschiedlichen »Kirchenpolitiken«13? Bei näherer Betrachtung der Episode zwischen Nikodim und Iosif legt sich die Annahme nahe, die Theologie sei in der Ökumene eine eher zu vernachlässigende und keinesfalls selbständige Größe. Scheinbar bleibt der Theologie in der Debatte zwischen Nikodim und Iosif nämlich nur die Wahl, sich entweder für kirchenpolitische Interessen staatlicher Akteure oder für die Kirchenpolitik kirchlicher Akteure in Dienst nehmen zu lassen.14 In diesem Fall wären die Interaktionen unterschiedlicher »Kirchenpolitiken« das eigentliche Thema der Ökumene. Der Umstand, dass es sich bei der Mehrzahl der ökumenischen Dokumente fraglos um dogmatisch-theologisch konnotierte Texte handelt, die sich mit der »Lehre« der Kirchen befassen, würde dann nichts über die tieferen Absichten der ökumenischen Gesprächspartner aussagen. Die Theologie würde unter diesen Umständen im Gegenteil dazu dienen, die kirchenpolitischen Interessen der ökumenischen Dialogpartner zu verschleiern. Tatsächlich schreiben nicht wenige im Umfeld ökumenischer Treffen konstruierte und verbreitete Narrative dem »Politischen« eine solche »nicht-theologische« Schlüsselrolle im ökumenischen Dialog zu und lesen ökumenische Gespräche mit einer entsprechenden Hermeneutik.15

Nun dürfte ein protestantischer Beobachter einwenden, die bisher entfalteten Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und Kirchenpolitik in der Ökumene könnten schon deshalb keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, da in ihnen neben dem spezifischen historischen Kontext der berichteten Episode auch die konfessionelle Identität der beiden Bischöfe nicht hinreichend berücksichtigt werde. Fraglos bestimmt die evangelische Theologie dank ihrer Prägung durch Reformation und Aufklärung ihr Verhältnis zur Kirchenpolitik in der Ökumene in ihrer systematisch-theologischen Selbstbesinnung anders als Nikodim und Iosif dies in unserem Beispiel tun, insofern sich die protestantische Theologie selbst auch in die Rolle der Kritikerin oder des Korrektivs gegenüber einer kirchenpolitischen Instrumentalisierung der Ökumene nicht allein durch staatliche, sondern auch durch kirchliche Akteure be­geben kann. Allerdings ist mit dieser Feststellung noch nicht nachgewiesen, dass eine derartige Sichtweise die ökumenischen Gespräche, an denen der Protestantismus beteiligt ist, auch automatisch prägt. Um in dieser Frage zu validen Aussagen zu gelangen, müssen die ökumenischen Gespräche selbst untersucht werden.

Die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Kirchenpolitik mag mit Blick auf unterschiedliche ökumenische Gesprächsstränge zu differenzierten Antworten führen. Im vorliegenden Beitrag soll ihr exemplarisch am Bespiel der bilateralen theologischen Dialoge der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit den orthodoxen Patriarchaten Moskau, Konstantinopel, Sofia und Bukarest nachgegangen werden.16 Diese Dialoge zeigen protestantische Identitäten aus Ost- und Westdeutschland seit den 1950er Jahren im Gespräch mit der Orthodoxie. Die bilateralen Dialoge bieten sich insbesondere deshalb für eine Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Kirchenpolitik in der Ökumene an, weil sie bereits seit über sechs Jahrzehnten in wechselnden politischen Kontexten stattfanden und dementsprechend auf beiden Seiten den unterschiedlichs-ten kirchenpolitischen Logiken unterworfen waren und sind. Die Untersuchung dieser ökumenischen Gesprächsstränge ergibt einen überraschenden Befund: Konfessions- und auch system-übergreifend weisen die untersuchten Quellen durchgängig vier Grundmuster der Verhältnisbestimmung zwischen Kirchenpolitik und Theologie in der Ökumene auf. Diese Muster sollten im Folgenden als »die reine Theologie«, »die weltanschauliche Loyalitätsbekundung«, »die zivilgesellschaftliche Wortmeldung« und »der kirchliche Milieudiskurs« bezeichnet werden. Dabei sei darauf hingewiesen, dass diese vier Grundformen nicht überall zwingend in ihrer exklusiven Gestalt begegnen. Vielmehr lösen sie in der Folge der Gesprächssequenzen einander ab oder überlagern sich.17 Inwieweit diese Grundmuster auch andere ökumenische Ge­sprächskontexte prägen, müssten anschließende Untersuchungen klären.

II Die »reine Theologie«


Wir beginnen mit einer Beobachtung zur Lexik der Dialogdokumente. Unter den Kommuniqués und den Referaten der bilateralen Dialoge zwischen evangelischen und orthodoxen Kirchen finden wir zahlreiche Texte, deren Lexik ganz oder überwiegend durch den Code der systematisch-theologischen Fachsprache bestimmt wird. Zu diesen Texten gehören sowohl Dokumente, die vor 1989 verfasst wurden, als auch solche, die nach der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa entstanden. Klassische Texte dieser »reinen Theologie« sind etwa das Kommuniqué des ersten Dialoges zwischen dem Moskauer Patriarchat und der EKD aus dem Jahr 1959, die 1988 und 1991 geführten Debatten zwischen der rumänischen Kirche und der EKD zu Theosis und Rechtfertigung oder die zwischen 1978 und 1992 geführten Diskussionen zwischen dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (bzw. nach 1990 der EKD) und der bulgarischen Kirche zu Amt und Sakrament.18

Gestalt und Gehalt solcher Texte erinnern an die Dokumente der ÖRK-Kommission für Glaube und Kirchenverfassung, die Texte der »Lehrgespräche« zwischen Panorthodoxie und lutherischem Weltbund oder auch die Dialoge zwischen der Anglikanischen Kirche und der ROK in den 1950er Jahren.19 Entgegen der pauschalen Verurteilung aller ökumenischen Arbeit der orthodoxen Kirchen in der kommunistischen Zeit durch manche Kritiker der postsozialistischen Zeit ist in den vor 1989 entstandenen Dokumenten dieser systematisch-theologischen Gattung keine Beeinflussung durch die ideologische Propaganda staatlicher Stellen des Sozialismus nachweisbar.20 In der Unterscheidung von Konsens, Konvergenz und Dissens finden sich die Autoren vielmehr in den Rollen konfessioneller Identitäten, die sich einander in einem idealen Sprachraum der »reinen Theologie« schrittweise annähern. Beide Seiten beziehen sich auf einen gemeinsamen textlichen Referenzrahmen, der zwischen biblischer Schrift und patristischer Tradition changiert und den sie jeweils durch die normativen Werke ihrer Tradition erweiterten, um das eigene konfessionelle Profil herauszuarbeiten. Der rumänische Theologe Dumitru Stăniloae hat dieses Vorgehen in seinem Eingangsreferat zur ersten Begegnung zwischen EKD und rumänischer Kirche noch durch einen apophatischen Zugang zur Theologie ergänzen wollen und schlug vor, die apophatische Unschärfe als ein Mittel der ökumenischen Konsensfindung zu verwenden.21

Der Anspruch solcher »Lehrgespräche«, kirchliche Identitäten exklusiv auf der Grundlage eines Konsensus über dogmatisch-theologische Fragen zusammenzuführen, mochte in der Tat in sozialistischer Zeit die Dialogpartner vor unerwünschter ideologischer Beeinflussung schützen. Er kollidiert allerdings dort mit der Wirklichkeit, wo die dogmatische Formel sich in Spannung zu der gelebten Praxis befindet, wie ein Beispiel aus den Gesprächen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit der Bulgarischen Orthodoxen Kirche zu den Sakramenten aus den 1980er Jahren verdeutlicht. Auf der Ebene der systematisch-theologischen Diskussion konnten dort zwar die dogmatischen Sichtweisen der orthodoxen und der evangelischen Theologie auf die Sakramente in erhellender Weise entfaltet werden. Zugleich aber sahen sich die bulgarischen Gesprächspartner an keiner Stelle der Gespräche in der Lage, den Umstand zu thematisieren, dass in der Lebenswirklichkeit der Volksrepublik Bulgarien die staatliche Macht durch e ine breit angelegte ideologische Kampagne darauf abzielte, die kirchlichen Sakramente der Trauung und der Taufe komplett durch staatlich verwaltete, kommunistisch-ideologische Surrogate zu ersetzen.22

Der Blick auf den Dialog der EKD mit dem Ökumenischen Patriarchat von 1984 in Kavalla zeigt, dass die Diastase zwischen Frömmigkeitspraxis und »reiner« Theologie nicht ausschließlich unter den Bedingungen der politischen Repression entsteht.23 Als die Vertreter der EKD-Seite dort zum protestantischen Abendmahlsverständnis aus lutherischer Perspektive sprachen, konfrontier-ten die orthodoxen Gesprächspartner, die als Migranten in Westdeutschland die Praxis der Abendmahlsfeiern erlebt hatten, die protestantischen Referierenden mit der von den dargestellten Lehrauffassungen abweichenden Praxis des Umganges mit dem Abendmahl in den lutherischen Gemeinden Westdeutschlands der 1980er Jahre. Diese kritische Beschreibung der Differenz von Le­benspraxis und dogmatischer Definition stieß indes bei den evangelischen Vertretern auf Unverständnis. »Auswüchse« der liturgischen Praxis seien zu unterscheiden von dem lehrhaft bestimmten »Zentrum der Kirche, die er gastweise erlebt« habe, wurde der »junge Theologe«24, der die liturgische Realität den idealen Selbstbildern gegenüberstellen wollte, nicht ohne paternalistischen Unterton ermahnt.

Das Auseinanderklaffen von lehrhaftem Anspruch und alltäglicher Praxis auf beiden Seiten erklärt zu einem nicht geringen Teil die oft beklagte, mangelnde Rezeption der vermeintlichen »Ergebnisse« solcher ausschließlich lehrhaft orientierten Gesprächsstränge der bilateralen Dialoge. Eine Theologie, die ihre eigenen Lebenskontexte nicht thematisieren darf oder will, mag zwar unter den Bedingungen politischer Repression einen Schutzraum vor ideologischer Instrumentalisierung bieten. In der kirchlichen Lebenswirklichkeit gibt ein theologisches Denken, das seine eigenen Re­zeptionsbedingungen ausblendet, jedoch nur unzureichende Orientierung. Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnte das Verständnis der Dialogdokumente als gemeinsamer doxologisch-eschatologischer Visionen der Kirchen bieten.25 Die dialogführenden Theologien würden damit anerkennen, dass sie keine em­-pirischen Beschreibungen der Kirchen und auch keine kir­chenrechtlich verwertbaren Blaupausen für die institutionelle Zusam­menführung der Konfessionen liefern, sondern – jenseits einer imaginierten »Machbarkeit« von Ökumene – endzeitliche Visio-nen der idealen, allein aus Gnade geschaffenen Einheit der Kirche zeichnen.

III Weltanschauliche Loyalitätsbekundungen


Den eingangs betrachteten Dokumenten der »reinen Theologie«, deren Lexik beinahe ausschließlich durch theologische Fachter-mini bestimmt wird, stehen solche Dialogdokumente gegenüber, deren Lexik durch das fast vollständige Fehlen der theologisch-fachsprachlichen Konnotationen und eine hohe Frequenz weltanschaulich-politisch konnotierter Begriffe bestimmt wird. Zu diesen Texten gehören Segmente der Kommuniqués und manche Reden der Delegationsleiter in der Begegnung zwischen der EKD und dem Moskauer Patriarchat sowohl vor als auch nach der politischen Wende 1989/1991. Ein Musterbeispiel für diese Textgattung ist die Eröffnungsrede des Metropoliten Nikodim zur dritten Dialogbegegnung zwischen der EKD und der ROK in Höchst 1967, in der die Reformation und die Oktoberrevolution in ein analoges Verhältnis gesetzt werden.26 Allerdings ist die weltanschauliche Loyalitätsbekundung nicht ausschließlich an das System des Sozialismus gebunden und damit keineswegs auf die Epoche vor 1989 beschränkt, wie noch zu zeigen sein wird.

Die Form dieser hier als »weltanschauliche Loyalitätsbekundungen« bezeichneten Texte erinnert an Proklamationen, wie sie die christliche Friedenskonferenz und weitere von der Seite des politischen »Ostblocks« geführte Gespräche verabschiedeten.27 Die intendierte Leser- und Hörerschaft solcher Loyalitätsbekundungen ist weniger das Gegenüber im Dialog als vielmehr eine externe Hörer- und Lesergruppe. Bis 1989 richtet sich die Loyalitätsbekundung an die politischen Machthaber der sozialistischen Staaten. Nach 1989 sind die Bekundungen vor allem an die innerkirchlichen Kritiker der Dialoge auf beiden Seiten adressiert. Die weltanschaulichen Loyalitätsbekundungen stellen in mehrfacher Hinsicht das Gegenmodell zu den Texten der »reinen Theologie« dar. Sie skizzieren keinen konfessionellen Referenzrahmen mittels dogmatischer Terminologie, sondern einen weltanschaulichen Referenzrahmen mittels politisch-ideologischer Terminologie. Sie zielen nicht auf die innerkirchliche Expertencommunity der systematischen Theologen und Dogmatiker, sondern befriedigen die Loyalitätsansprüche externer, d. h. am Dialog nicht beteiligter Akteure. Im Unter schied zu den systematisch-theologischen Texten, die die Nähe der Kirchen zueinander durch deren lehrhafte Gemeinsamkeiten und Differenzen zu bestimmen suchen, besteht die Funktion der weltanschaulichen Loyalitätsbekundungen folglich darin, den Dialogen ein ideologisches »Framing« zu geben, um sich in der Begegnung mit dem als »ideologischer Gegner« ausgemachten Ge­genüber nicht zu kompromittieren.28

Es ist bemerkenswert, dass die Gattung dieser Dialogtexte nicht mit dem Ende des Kalten Krieges verschwindet. Zwar wurde das weltanschauliche »Framing«, das die Vertreter der Russischen Or­thodoxen Kirche den entsprechenden Texten vor der politischen Wende von 1989 gaben, nach der politischen Wende obsolet, doch finden wir in den nach 1989 verfassten Dokumenten ein neues ideologisches »Framing«. Während in den Dialogen der EKD mit dem Ökumenischen Patriarchat sowie dem Patriarchat Bukarest seit den 1990er Jahren gemeinsame Statements zur verbindlichen Geltung der Menschenrechte in die Kommuniqués eingearbeitet wurden,29 ersetzte man im Dialog zwischen der evangelischen und der russischen Kirche die vor 1989 unilateral von der russischen Seite erhobenen Proklamationen nach dem Ende des Kalten Krieges durch unterschiedliche politische Loyalitätsbekundungen beider Seiten. Einerseits forderte die evangelische Seite nun im Sinne einer Entwicklungspartnerschaft von der russischen Seite ein alternativloses »Bekenntnis« zu den Menschenrechten, zu denen sie sich auch selbst bekannte. Andererseits trat das Moskauer Patriarchat in Ab­kehr von der alten Polit-Rhetorik des Sozialismus nun als Verteidigerin der »traditionellen Werte« auf, denen man ebenfalls absolute Geltung zusprach.30

Diese neuen Formen des alten Phänomens der weltanschaulichen Loyalitätsbekundung verdanken sich zu einem wesentlichen Teil der nach der politischen Wende erhobenen innerkirchlichen Kritik an einer politisch instrumentalisierten Ökumene vor 1989.31 Um sich nicht in die Reihe der nach der politischen Wende kritisierten Delegationen der Vergangenheit zu stellen, die beispielsweise offensichtliche Menschenrechtsverletzungen wissentlich verschwiegen hatten,32 achteten insbesondere die Delegationsleiter fortan besonders darauf, sich gegenüber den Kritikern der alten Dialoge nicht zu kompromittieren. Die neue – fraglos auch kompensatorische – »Offenheit« entging und entgeht allerdings an solchen Stellen nicht immer der Gefahr einer kirchenpolitischen In­strumentalisierung des theologischen Dialoges, insofern das Dialogsetting dazu verwendet wird, über die Köpfe des Gegenübers im Dialog hinweg besänftigende Signale an die Ökumenekritiker aus den eigenen Reihen zu senden.33

IV Zivilgesellschaftliche Wortmeldungen


Sowohl der Ansatz der »reinen« Theologie als auch die Variante der weltanschaulichen Loyalitätsbekundung imaginieren die Dialoge als Gespräche zwischen ökumenischen Partnern »auf Augenhöhe«.34 Die ungleichen Ressourcen bei den theologischen Ausbildungsstätten und der kirchlichen Finanzkraft, die unterschiedlichen Möglichkeiten der Präsenz in der Öffentlichkeit und diakonischen Wirkungsmöglichkeiten der beiden Seiten sind zwar in ihren mittelbaren Auswirkungen auf das Gespräch be­kannt, werden jedoch in den bislang betrachteten Dialogsegmenten nicht zum Gegenstand des Gespräches gemacht. Erst der 1969 begonnene Dialog zwischen der EKD und dem Ökumenischen Patriarchat nahm diese Thematik in den Blick. Die ungleichen Ausgangsbedingungen beider Gesprächspartner waren auch deshalb nicht auszublenden, weil beide sich im Gegensatz zu den anderen bisher betrachteten Dialogen auf das kirchliche Wirken an ein und demselben Ort, nämlich in der Diaspora von West- und später von Gesamtdeutschland Bezug nahmen.35

In Aufnahme des seit dem Ende der 1950er Jahre in Deutschland begonnenen Integrations- und Entwicklungsdiskurses propagierte der 1969 gestartete Dialog mit dem Ökumenischen Patriarchat als erster Gesprächsstrang deshalb seit den 1970er Jahren eine Vision der Integration. Während die systematisch-theologischen Beiträge dieses Dialoges weithin dem Muster der »Lehrgespräche« folgten und dadurch – wie oben bereits dargestellt – der Anfrage nach ihrem Verhältnis zur kirchlichen Realität ausgesetzt waren, rekrutierte sich der Trägerkreis »Integrations«-Wortmeldungen aus den kirchlichen Werken und speziell der Diakonie. Die von dieser Gruppe im Dialog eingebrachten Texte möchten wir hier als »zivilgesellschaftliche Wortmeldungen« bezeichnen. Die entsprechenden Dokumente orientierten sich in ihrer Form und ihrem Gehalt nicht selten an den Dokumenten der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK).36

Anders als im Fall der ideologischen Loyalitätserklärung verstehen sich die Sprecher der zivilgesellschaftlichen Wortmeldungen als Citoyens, die – nicht selten in kritischer Distanz zu bestimmten politischen Tendenzen – die Eigeninteressen der Kirchen im politischen Diskurs und deren Beitrag für das Ganze der Gesellschaft zur Sprache bringen und den Integrationsprozess der Migrationskirchen fördern wollen, wie die entsprechenden Passagen der Kommuniqués zu Migration und Integration zwischen der EKD und dem Ökumenischen Patriarchat belegen. Durch diese Form der »zivilgesellschaftlichen« Wortmeldung im Dialoggeschehen zwischen Orthodoxie und EKD erhielt im Gespräch mit Konstantinopel die orthodoxe Diaspora eine Stimme. Während die Patriarchate Moskau, Sofia und Bukarest die Diaspora vor 1989 oftmals mit der Figur des politischen Dissidenten in Verbindung brachten und das Gespräch deshalb von den Sitzen ihrer Patriarchate in den Heimatländern aus organisierten, profilierte sich das ökumenische Patriarchat nun durch die Dialoggespräche als Stimme der Gesamtorthodoxie und Akteur der Zivilgesellschaft in Deutschland.37

Nach der politischen Wende von 1989 wurde dieses Paradigma auch in den übrigen Orthodoxiedialogen der EKD erprobt. Als übergreifendes Thema markierte man – erneut in Anlehnung an Impulse der KEK – die Rolle der Kirchen im zusammenwachsenden Europa.38 Ein synoptischer Vergleich der unterschiedlichen Dialoge lässt dezidiert unterschiedliche Akzente erkennen und macht die jeweiligen politischen Rahmenbedingungen etwa der rumänischen Kirche und des Moskauer Patriarchats hinsichtlich der Europathematik deutlich.39 Durchgehend sind jedoch alle zivilgesellschaftlichen Statements der Dialoge eingebettet in das scheinbar universal akzeptierte Narrativ einer »weitgehenden«, »zunehmenden« oder auch »unumkehrbaren« Säkularisierung.40

Untersucht man die Lexik der entsprechenden Dokumente, so ist diese – im Gegensatz zu den weltanschaulichen Loyalitätsbekundungen – eher unspezifisch und vermag so ein bewusst breit gefasstes Spektrum sowohl religiöser als auch politischer Assoziationen abzudecken.41 Die zivilgesellschaftliche Wortmeldung lässt sich deshalb auch gut mit einem holistischen Ansatz der Theologie vereinbaren, wie ihn beispielsweise die ökologisch-eucharistischen Statements des »grünen« Patriarchen Bartholomaios I. entfalten.42 In Anlehnung an derartige Erklärungen konnten die Dialogkommissionen vielfach gemeinsame Aussagen zu einer christlich be­gründeten Ökologie oder zum Thema »Europa« erarbeiten. Diese Unschärfe solcher Erklärungen steht zuweilen allerdings in einem Spannungsverhältnis zur Funktion einer zivilgesellschaftlichen Wortmeldung, die im Wettstreit der Meinungen dezidiert Position bezieht, indem sie für eine spezifische Position und damit auch gegen andere Positionen eintritt.

V Kirchliche Milieudiskurse


Eine Überprüfung, inwieweit die zivilgesellschaftlichen Wortmeldungen der Dialogpartner tatsächlich über den engen Kreis der Milieus der Kirchen hinaus Gehör in der Zivilgesellschaft finden, ist empirisch kaum leistbar. In jedem Fall wird aber die Absicht der Delegationen deutlich, auf eine intendierte Leserschaft der Dialogdokumente abzuzielen, die über den kirchliche Binnenraum beider Konfessionen hinausreicht. Im Fall der Dialoge des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit dem Moskauer Patriarchat können wir eine alternative Ausrichtung des Dialoges entdecken, insofern dieser nach dem Wunsch seiner kirchenamtlichen Planer primär auf eine kirchliche Binnenrezeption zielte.43

Ihren Ansatz verfolgte die BEK-Seite im Dialog aus mehreren Gründen. Zum einen wollte sie sich vom stark systematisch-theologischen Ansatz vieler »rein-theologischer« EKD-Referate im westdeutschen Moskau-Dialog durch die Einbeziehung der kirchlichen Lebenswirklichkeit abgrenzen. Zugleich wollte man die an­gestrebte staatliche Instrumentalisierung des Dialoges für eine explizite Loyalitätsbekundung des Kirchenbundes gegenüber der DDR zu deren 25. Jahrestag verhindern.44 Vor allem aber wurde der Ansatz, selbst Themen aus Staat und Gesellschaft primär als innere Diskussionsfelder zu markieren, dem Fehlen einer Zivilgesellschaft in der DDR gerecht. Als Ersatz für den nicht vorhandenen zivilgesellschaftlichen Raum, in dem die Kirche als einer unter mehreren Akteuren hätte auftreten können, diente der kirchliche Raum.45

Die Lexik mancher Texte dieses Dialoges spiegelt die Überschneidung divergierender kirchenpolitischer Interessenlagen und Aussageabsichten wider. So wollte Wolfgang Ullmann in seinem Eröffnungsreferat der ersten Begegnung einerseits die staatlich erwünschte eindeutige Loyalitätsbekundung gegenüber der DDR vermeiden, andererseits aber das im Sinne des BEK-Selbstverständnisses angemessene Signal der »kritischen Solidarität« gegenüber den staatlichen Stellen geben. In seinem Referat griff er auf Schlagworte der Theologie Barths zurück und verband diese geschichtsphilosophischen Reflexionen auf die kirchenpolitische Situation der 1970er Jahre. Durch diesen eigenwilligen Ansatz hob sich Ullmann zwar von der »rein« systematisch-theologisch konnotierten Lexik und ebenso von den staatlicherseits erwarteten ideologischen Phraseologie der Loyalitätserklärung ab, die ge­schichtsphiloso-phische Aufladung seiner Ausführungen konterkarierte jedoch zu­gleich die – kirchenintern geforderte – praktisch-theologische Verwertbarkeit seines Dialogbeitrags.46 Im Rückblick kritisierte der russische Theologe Vladimir Ivanov die komplexe Codierung vieler Referate in diesem Dialog als kirchenpolitisch motivierte »Zweideutigkeiten«.47

Einen alternativen Weg des Umgangs mit der besonderen Re­zeptionssituation wählte das BEK-Delegationsmitglied Günter Jacob. Im Gegensatz zu Ullmanns philosophisch-theologischer Mischterminologie griff Jacobs Referat im ersten Dialog auf die politischen-theologische Sprache der Apokalyptik zurück und verweigerte brüsk die »Akklamation zu den ideologischen Prinzipien der Gesellschaft«.48 Gleich den Märtyrern der Alten Kirche forderte Jacob »in einer bestimmten Situation« auch ein »aus dem Glauben begründetes Nein«, welches »die anderen« entweder »respektieren« oder »verdammen«49 könnten. Indem Jacob die Kirche in diesen Worten als Gegenwelt beschrieb und die Alterität der ihr gegenübergestellten »Gesellschaft« beschwor, definierte er die Theologie als einen Gegenentwurf zur staatlich gelenkten Kirchenpolitik. Anders als Ullmann verzichtete Jacob auf philosophisch-theologisch konnotierte Stichworte, die einen Raum des Konsensus mit möglichen kirchenexternen »Mitlesern« und somit eine Vision eines »kirchenpolitischen« Engagements der Kirche in der Gesellschaft hätten eröffnen können. Ebenfalls im Gegensatz zu seinem Vorredner wertete Jacob damit den kirchlichen Milieudiskurs zu einem Privileg des christlichen Bekenners auf.

Fraglos sind die Dialoge des BEK mit dem Moskauer Patriarchat nicht die einzigen Gespräche, die als »Milieudiskurse« bezeichnet werden können. In einem weiter gefassten Sinne müssten nämlich auch solche zivilgesellschaftlichen Wortmeldungen, die zwar vorgeben, sich an die gesamte Gesellschaft zu wenden, tatsächlich aber nur einen binnenkirchlichen Rezipientenkreis erreichen, als Beiträge zu Milieudiskursen beschrieben werden. Indes bleibt festzuhalten, dass der BEK-Dialog mit dem Moskauer Patriarchat das einzige Gespräch sein dürfte, das bereits von seinen Planern als kirchlicher Milieudiskurs entworfen und von Dialogmitgliedern wie Günter Jacob auch bewusst als ein solches Gespräch verstanden wurde.50

VI Ein Koordinatensystem des ökumenischen Sprechens


Die vier dargestellten Idealtypen der Zuordnung von Theologie und Kirchenpolitik in der Ökumene lassen sich in ein Koordinatensystem einordnen, das aus einer vertikalen und einer horizontalen Achse besteht. Die vertikale Achse soll den Verdichtungsgrad der theologisch-fachsprachlichen Codierung der Dialogdokumente bezeichnen und reicht von einer exklusiv systematisch-theologischen Semantik an ihrem oberen Ende über die Mischung von theologischer und politischer Semantik in ihrer Mitte bis zum unteren Ende einer exklusiv politisch-ideologisch konnotierten Semantik. Die horizontale Achse soll die Gruppenidentität be­schreiben und reicht von einer exklusiven kirchlich-konfessionellen Identität an ihrem rechten äußeren Ende über eine partiell-inklusive konfessionsverbindende Identität in ihrer Mitte bis zu einer inklusiven »Menschheitsidentität« an ihrem linken äußeren Ende.

Ordnen wir die vier Modelle in das Koordinatensystem ein, so gehören die Dialogdokumente der »reinen« Theologie an das obere Ende der vertikalen Achse der fachtheologischen Codierung. Auf der horizontalen Achse gehören sie an das rechte, exklusive Ende der konfessionellen Identität. Als Trägerkreis dieses Dialogmodells lässt sich vor allem die akademische systematische Theologie ausmachen.

Als das Gegenmodell zur »reinen« Theologie gehört die Loyalitätsbekundung an das untere Ende der fachsprachlich konnotierten Achse, da an die Stelle der exklusiv theologischen Semantik dort das entgegengesetzte Extrem der exklusiv politisch-weltanschaulichen Semantik tritt. In ihrem universalen Geltungsanspruch und in ihrer an ein dialog-externes Gegenüber gerichteten Kommunikationsfunktion gehören sowohl die vor 1989 geäußerten sozialistischen Loyalitätserklärungen als auch die nach 1989 geäußerten Erklärungen zu den Menschenrechten an das linke äußere Ende der horizontalen Achse, da beide Modelle das Paradigma der universalen Menschheitsidee zugrunde legen. Trägerkreis der Loyalitätsbekundung ist der leitende kirchliche Amtsträger, dessen Aufgabe zu Beginn oder am Schluss der Gespräche im »Framing« des Dialoges besteht, um dessen »kirchenpolitische« Akzeptanz im doppelten Sinne der Akzeptanz durch das politisch-gesellschaftliche Umfeld und der Akzeptanz innerhalb der »innerkirchlichen Kirchenpolitik« zu gewährleisten.

Anders als die beiden ersten Modelle, die jeweils Außenpositionen innerhalb des Koordinatensystems einnehmen, besetzen das dritte und das vierte Modell Mittelfelder innerhalb unseres Koordinatensystems. So liegt der zivilgesellschaftliche Ansatz im Mittelbereich der theologisch konnotierten Achse, insofern er theologische und politische Terminologie verbindet und sie aufeinander bezieht. Die zivilgesellschaftliche Wortmeldung gehört auch in den Mittelbereich der Identitätsachse, insofern es ihr um die Integration der partikularen Identität »Orthodoxe Kirchen« und um eine Wortmeldung der spezifischen Gruppe »Kirchen« innerhalb einer Gesamtheit der deutschen Zivilgesellschaft geht. Als frühen Trägerkreis dieses heute weit verbreiteten Ansatzes im deutschen Kontext können wir vielfach die kirchlichen Werke benennen.51 Als Rezeptionsraum solcher Texte im bilateralen Dialog wird die Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik, zuweilen auch die Zivilgesellschaft der Europäischen Union gedacht.

Das Modell des Milieudiskurses ist eine introvertierte Spiegelung des zivilgesellschaftlichen Ansatzes. In seiner Verbindung von theologischer und philosophischer bzw. theologischer und politischer Mischbegriffe liegt es ebenfalls im Mittelfeld der vertikalen Achse der exklusiv theologisch-fachsprachlichen Codierung und im Mittelfeld der sich zwischen Inklusion und Exklusion erstreckenden Achse. Im Gegensatz zum zivilgesellschaftlichen Ansatz rechnet der milieuzentrierte Ansatz allerdings nicht mit einer breiteren gesellschaftlichen Rezeption, sondern beschränkt sich auf den kirchlichen Raum, der einer mikrokosmischen Gegenwelt gleicht. Stellt man Anspruch und Wirklichkeit des dritten Modells nebeneinander, so können allerdings auch vermeintlich »zivilgesellschaftliche« Äußerungen unter bestimmten negativen Rezeptionsbedingungen auf die Rezeption innerhalb des kirchlichen Milieus begrenzt bleiben.

Die beschriebenen vier Idealtypen sind unterschiedliche Strategien des ökumenischen Sprechens im Spannungsfeld von Politik und Theologie. Während sich die »reine« Theologie der politischen Instrumentalisierung um den Preis des Verzichtes auf die kritische Reflexion ihrer eigenen soziokulturellen Rahmenbedingungen verweigert, betont das Gegenmodell der weltanschaulichen Loyalitätserklärung die Zugehörigkeit zu den eigenen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Während das Konzept der zivilgesellschaftlichen Wortmeldung eine allgemeingesellschaftliche Relevanz der eigenen Belange voraussetzt, beansprucht das Gegenmodell der Variante des Milieudiskurses diese Relevanz nur für den kirchlichen Raum, den es allerdings in einer kompensatorischen Wendung auch als Gegenwelt deuten kann.

VII Fazit


Was bedeutet dieser Befund für unsere Frage nach einer Theologie, die sich eine kritische Reserve gegenüber den eingangs beschriebenen »Kirchenpolitiken« in der Ökumene bewahrt? Wir schlagen vor, die vier am Beispiel der bilateralen Dialoge erarbeiteten ökumenischen Sprachformen nicht in eine wertende Hierarchie zu bringen, sondern sie als unterschiedliche Weisen kirchlicher Identitätsbeschreibungen nach ihren Möglichkeiten und Grenzen zu befragen.

Unter dieser Voraussetzung gewährt der Ansatz der »reinen« Theologie die Möglichkeit einer genuin systematisch-theologischen Selbstbeschreibung. Wo dieses Modell jedoch den Anspruch auf kirchenrechtliche Rezeption erhebt und sich nicht allein als doxologische Zukunftsvision von Kirche, sondern womöglich auch als kirchenrechtlich verbindlicher Schritt im interkonfessionellen Dialog verstehen will, darf es die Frage nach seinen eigenen soziologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht ausblenden.

Die weltanschauliche Loyalitätsbekundung muss berücksichtigen, dass sie keinen Beitrag zur Verständigung der sich begegnenden Identitäten leistet, der über eine pointierte und möglicherweise auch konfrontative Beschreibung des Selbstverständnisses einer Seite hinausgeht. Da der intendierte Hörer der Loyalitätsbekundung nicht primär das Gegenüber ist, sondern sich die Bekundungen an eine im Dialog offiziell nicht vertretene Instanz aus den eigenen gesellschaftlichen und kirchlichen Kontexten richten, müssen die Sprechenden auch um die Gefahr der Instrumentalisierung des theologischen Dialoges durch diese Sprachform wissen.

Die zivilgesellschaftliche Wortmeldung kann eine emanzipatorische Stoßrichtung haben, wie wir am Beispiel des integrationsorientierten Dialoges zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und der EKD gezeigt haben. Wo die zivilgesellschaftliche Wortmeldung konkrete politische Anliegen theologisch begründet, könnte sie im Idealfall einen kirchlichen Beitrag zu gesellschaftlichen und politischen Diskursen leisten. Bleibt sie jedoch unspezifisch, läuft sie Gefahr, zu einem Instrument des institutionellen Selbstbetrugs zu werden, insofern sie eine über den kirchlichen Bereich hinausgehende Öffentlichkeit anzusprechen vorgibt, tatsächlich aber nur ein binnenkirchliches Milieu bedient.

Die milieuzentrierte Rezeption des Dialoges kann dort einen Resonanzraum für die Theologie schaffen, wo dieser aus politischen Gründen öffentliche Präsenz verweigert wird. Wenn die Theologie jedoch kompensatorisch die Kirche als Gegenwelt deutet, so sollte sie beachten, dass dies primär der Selbstbestätigung und weniger der Verständigung mit einem ökumenischen oder politischen Gegenüber dient.

Abstract


Our contribution examines the relationship between theology and church politics in ecumenism using the example of the bi-la-teral dialogues of the Evangelical Church in Germany and the Federation of Evangelical Churches in the GDR with the four Orthodox Patriarchates Moscow, Constantinople, Bucharest and Sofia. The sources examined consistently show four basic patterns of the re-lationship between church politics and theology in ecumenism. These models are: »pure Theology«, which is limited to the systematic description and discussion of doctrine, »the declaration of loyalty«, which expresses the reliability of the speakers to their own political system, »civil society intervention« which calls for a hearing in society, and the »ecclesiastical milieu discourse«, which intends from the outset the limited intra-church-reception of the dialogu e.

Fussnoten:

1) Vgl. Momchil Metodiev, The Ecumenical Activities of the Bulgarian Orthodox Church. Reasons, Motivations, Consequences (Occasional Papers on Religion in Eastern Europe 32), Newberg/Oregon 2012, 1–12.
2) Vgl. die Unterlagen der bulgarischen Staatssicherheit aus dem Archiv des Außenministeriums der Republik Bulgarien, Bestand 10, Verzeichnis 14, Akte 138 (im Folgenden zitiert nach Metodiev, Activities [s. Anm. 1], 11–12).
3) Metodiev, Activities (s. Anm. 1), 11.
4) Ebd., 12.
5) Vgl. Martin Illert, Dialog, Narration, Transformation. Die Dialoge der EKD und des BEK mit orthodoxen Kirchen seit 1959 (BÖR 106), Leipzig 2016, 188.
6) Zur Festschreibung der entsprechenden Orthodoxie-Stereotypen in den westlichen Kommentaren vgl. Irena Zeltner-Pavlovi, Imagining Orthodoxy. Eine postkoloniale Betrachtungsweise des religiös Anderen, in: dies./Martin Illert (Hgg.), Ostkirchen und Reformation 2017. Band 1: Dialog und Hermeneutik, Leipzig 2018, 217–228.
7) Zur Bezeichnung Iosifs als »reaktionär« durch den bulgarischen Geheimdienstbericht vgl. Metodiev, Activities (s. Anm. 1), 11.
8) Vgl. Martin Illert, Die Bulgarische Orthodoxe Kirche und die Große und Heilige Synode, G2W 11 (2016), 14–16.
9) Vgl. Christopher Andrew/Vasili Mitrochin, The Sword and the Shield. The Secret Archive and the History of the KGB, London/New York 1999, 491–492.
10) Hans Asmussen, Rom-Wittenberg-Moskau. Zur großen Kirchenpolitik, Stuttgart 1956, 20; Asmussens Gedanke findet sich bereits bei Joseph Goebbels, Tagebücher 1924–1945, hg. v. Ralph-Georg Reuth, München/Zürich 1999, 2010 (Eintrag zum 4. März 1944).
11) Vgl. Daniela Kalkandzhijeva, The Russian Orthodox Church 1917–1948. From Decline to Resurrection, Abingdon/New York 2015, 1.
12) Vgl. Roland Boer, Sergei and the »divinely appointed« Stalin, Theology and Ecclesiology in Church-State-Relations in the Lead-up to the Cold War, Soc. Sci. Vol. 7/67 (2018), 1–22, der davon ausgeht, dass auch die staatliche Seite in der Sowjetunion von der orthodoxen Theologie geprägt wurde.
13) Zur semantischen Polyvalenz des Begriffs »Kirchenpolitik« vgl. Joachim Mehlhausen, Kirchenpolitik. Erwägungen zu einem undeutlichen Wort, ZThK 85 (1988), 275–302.
14) Von dieser Alternative geht faktisch aus: Heiko Overmeyer, Frieden im Spannungsfeld zwischen Theologie und Politik. Die Friedensthematik in den bilateralen Gesprächen von Arnoldshain und Sagorsk, Frankfurt 2005, 305–307.
15) Zu Form und Funktion dieser Narrative vgl. Illert, Dialog (s. Anm. 5), 16.
16) Ein Verzeichnis der Dialoge und ihrer Dokumentationen sowie eine nach Stichworten geordnete Übersicht der Kommuniqués bietet: Reinhard Thöle/Martin Illert (Hgg.), Wörterbuch zu den bilateralen theologischen Dialogen zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und orthodoxen Kirchen (1959–2013), Leipzig 2013.
17) Wir beabsichtigen keineswegs die Identifikation des jeweiligen Dialoges mit je einem spezifischen Muster, sondern möchten nur einen Hinweis auf prägnante Leitmotive der auffällig unterschiedlichen Verhältnisbestimmung von Theologie und Kirchenpolitik geben. Zugleich sei deutlich unterstrichen, dass wir die Beschreibung der vier Idealtypen von den Sprecherintentionen abhängig gemacht haben. So kann es durchaus vorkommen, dass ein ökumenischer Dialogtext nach der Absicht seiner Autoren als ein Beitrag zu einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion gedacht ist, dass er aber faktisch nur innerhalb eines Milieus rezipiert wird.
18) Vgl. Thöle/Illert, Wörterbuch (s. Anm. 16), 37–39.41–48.52–53 u. ö.
19) Zum LWB-Dialog vgl. Cosmin Pricop, From Espoo to Paphos. The Theol-ogical Dialogue of the Orthodox Churches with the Lutheran World Federation, Bucarest 2013; zum anglikanisch-russischen Dialog vgl. H. M. Waddams (Hg.), Anglo-Russian Theological Conference Moscow July 1956. With A Preface by A. M. Ramsey, Archbishop of York, London/New York 1958.
20) Vgl. Boris Marinov/Momcil Metodiev, Najkolko dumi, in: Rečnik na dvustrannite bogoslovski dialozi meždu Evangelskata cărkva v Germanija i Pravoslavnata cărkva, edd. Reinhard Thöle/Martin Illert, Sofia 2020, 36–38.
21) Der Vorschlag Stăniloes fand auch Eingang in das Kommuniqué des ersten Dialoges; vgl. Thöle/Illert, Wörterbuch, (s. Anm. 16), 37.
22) Vgl. Illert, Dialog (s. Anm. 5), 252–255.
23) Vgl. ebd., 221–228.
24) Ebd., 224–225.
25) Vgl. ebd., 14–17.
26) Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Versöhnung. Das deutsch-russische Gespräch über das christliche Verständnis der Versöhnung zwischen Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Russischen Orthodoxen Kirche. Studienheft 5, Witten 1967, 27.
27) Vgl. Gerhard Lindemann, »Sauerteig im Kreis der gesamtchristlichen Ökumene«. Das Verhältnis zwischen der christlichen Friedenskonferenz und dem ökumenischen Rat der Kirchen, in: Gerhard Besier/Armin Boyens/Gerhard Lindemann (Hgg.), Nationaler Protestantismus und ökumenische Bewegung. Kirchliches Handeln im Kalten Krieg 1945–1990 ( Zeitgeschichtliche Forschungen 3), Berlin 1999, 653–932.
28) Zum Menschenrechtsdiskurs zwischen EKD und ROK vgl. Illert, Dialog (s. Anm. 5), 197–199; zu den Diskussionen der KEK und dem Menschenrechtsthema im Dialog mit dem Ökumenischen Patriarchat vgl. ebd., 236–237; zum europapolitischen Kontext des Diskurses vgl. ebd., 291.
29) Vgl. Thöle/Illert, Wörterbuch (s. Anm. 16), 77–80.86.
30) Zum Motiv der »traditionellen Werte« und zur Wertediskussion zwischen EKD und ROK vgl. ebd., 182–183.
31) Einschlägige Werke derartiger Ökumenekritik sind – aus westlicher Perspektive – die Arbeiten von Armin Boyens, Ökumenischer Rat der Kirchen und EKD zwischen Ost und West, in: Besier u. a. (Hgg.), Nationaler Protestantismus (s. Anm. 27), 27–322, und – aus östlicher Perspektive – Momčil Metodiev, Meždu vjarata i kompromisa. Bălgarskata pravoslavna cărkva i komunisticestakta dărzhava, Sofia 2010, 496 u. ö.
32) Vgl. Illert, Dialog (s. Anm. 5) 140–107.283.
33) Dies gilt in analoger Weise für den Dialog zwischen der finnischen Kirche und der ROK, in der die ROK ihre unnachgiebige Haltung mit der Position ihrer Gemeinden begründete; vgl. Heta Hurskainen, Ecumenical Social Ethics as the World changed. Socio-ethical discussion in the Ecumenical Dialogue between the Russian Orthodox Church and the Evangelical Church of Finland 1970–2008 (Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft 67), Helsinki 2013, 6.
34) Vgl. Nikodims Zitat nach Metodiev, Activities (s. Anm. 1), 11–12.
35) Vgl. die Delegationsleiter der orthodoxen Kommissionen, die sich im Dialog mit Konstantinopel überwiegend aus den Exarchen des Ökumenischen Patriarchats für Zentraleuropa rekrutierten (vgl. Thöle/Illert, Wörterbuch [s. o. Anm. 16)], 31–32).
36) Vgl. Illert, Dialog (s. Anm. 5), 228–238.
37) Vgl. ebd., 235.
38) Vgl. Martin Illert, »Europa« als Thema in den bilateralen theologischen Dialogen zwischen orthodoxen Patriarchaten und der EKD, ÖR 65 (2016), 67–76.
39) Vgl. Martin Illert, Der Beitrag des bilateralen Dialoges zwischen der EKD und der Rumänischen Orthodoxen Kirche zur Europa-Diskussion, OF 33 (2019), 91–96.
40) Vgl. Thöle/Illert, Wörterbuch (Anm. 16), 77–80.86-87.
41) Vgl. ebd., 78: »Verantwortung für die Zukunft Europas«, »besondere Mitverantwortung im zusammenwachsenden Europa«, »gegenseitiger Respekt«, »friedliches Zusammenleben der Völker«, »versöhnte Völker und Staaten«.
42) Vgl. Illert, Dialog (s. Anm. 5), 232–233.
43) Vgl. ebd., 137–152.
44) Vgl. ebd., 145.
45) Dass der kirchliche Raum auch zum Ausgangspunkt einer zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation mit der Folge der Transformation »sozialistischer« öffentlicher Räume werden konnte, zeigt Frank Bösch (Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2020, 68–75) am Beispiel des Besuches Papst Johannes Paul II. in Polen 1979.
46) Zur Ambivalenz des den Dialog eröffnenden Grundsatzreferates Wolfgang Ullmanns von 1974 vgl. Illert, Dialog (s. Anm. 5), 143–144.
47) Vgl. Vladimir Ivanov, Rückblick auf die parallel geführten Dialoge »Arnoldshain« und »Sagorsk«. Theologische Gespräche im Schatten des Totalitarismus, in: Klaus Schwarz (Hg.), Bilaterale theologische Dialoge mit der Russischen Orthodoxen Kirche. Studienheft 22, Hermannsburg 1996, 336–341.
48) Zitiert nach: Illert, Dialog ( s. Anm. 5), 146.
49) Ebd. (vgl. Tertullian, Apologeticum 50.16).
50) Dagegen zielte der zweite Orthodoxie-Dialog des BEK, das Gespräch Herrnhut mit der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, auf eine Rezeption im Kontext der deutsch-bulgarischen akademischen Kontakte und der Gespräche zwischen Panorthodoxie und Lutherischem Weltbund ab (vgl. Illert, Dialog [s. Anm. 5], 245).
51) So folgt beispielsweise auch die trilaterale Gruppe »Kirchen in Europa« des Petersburger Dialoges diesem Ansatz.