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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

986–987

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Peng-Keller, Simon

Titel/Untertitel:

Klinikseelsorge als spezialisierte Spiritual Care. Der christliche Heilungsauftrag im Horizont globaler Gesundheit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 231 S. m. 11 Abb. Kart. EUR 28,00. ISBN 9783525624517.

Rezensent:

Michael Klessmann

Simon Peng-Keller, der als Professor an der Universität Zürich den transdisziplinären Forschungs- und Lehrbereich Spiritual Care verantwortet und bereits durch eine ganze Reihe von Arbeiten zu Spiritualität und Spiritual Care hervorgetreten ist, legt ein Buch vor, das Stellenwert und Selbstverständnis von Klinikseelsorge und Spiritual Care und ihre Beziehung zueinander neu vermisst. Die Ausgangsthese ist bereits im Titel enthalten: Klinikseelsorge kann man als eine spezialisierte Form der Spiritual Care verstehen; sie hat teil am christlichen Heilungsauftrag, ist insofern als Heilberuf (im Unterschied zu Gesundheitsberufen) zu verstehen, der Wichtiges zu Heilungsprozessen beitragen kann.
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden jüngste Veränderungsprozesse beschrieben: Der Blick richtet sich auf das gesamte Gesundheitswesen, nicht nur das Krankenhaus; das »alte« biomedizinische Gesundheits- und Krankheitsmodell ist schon seit Längerem um soziale, psychische und spirituelle Dimensionen erweitert; in einer postsäkularen Gesellschaft bekommt Spiritualität, welche die Polarisierung von Religiosität versus Säkularität unterläuft, neues Gewicht. Der zweite Teil thematisiert den christlichen Heilungsauftrag. Im Neuen Testament meint Krankheit einen geschwächten Seinszustand, Gesundung bezeichnet einen energetischen Vorgang, in dem Menschen zu neuer Lebenskraft finden. Der Heilungsauftrag ist auf Jesus selbst zurückzuführen, allerdings wurde dieser Auftrag schon im frühen Christentum marginalisiert, insofern er vor allem unter dem Aspekt des Wunders zur Geltung kam. Gegenwärtig korrigiert der christliche Heilungsauftrag die kurative Engführung der Biomedizin, leibliche, mentale, soziale und spirituelle Aspekte des Lebens sollen berücksichtigt werden, Heilung wird als dialogischer, narrativer und imaginativer Prozess verstanden. Im Kontext eines solchen Verständnisses findet Klinikseelsorge ihren Ort: Sie leistet einen Beitrag zu den palliativen, kurativen, rehabilitativen und präventiven Zielsetzungen im Gesundheitswesen und erweist sich darin als heilsam. Sie überwindet – hier greift P.-K. auf Gedanken von Richard Cabot, dem ärztlichen Mitbegründer des amerikanischen CPE (neben An­ton Boisen) und von Dietrich Stollberg zurück – den Leib-Seele-Dualismus; in achtsamer und erwartungsfreier Zugewandtheit, in verschiedenen Formen seelsorglicher Präsenz verkörpert die Seelsorgeperson Gottes Gegenwart. Insgesamt plädiert P.-K. für eine deutliche Aufwertung der Stellung der Seelsorge im Gesundheitswesen und den Abschied von der alten Vorstellung, die Gesundheitsversorgung liege primär in ärztlichen Händen. Um dieses Ziel zu verfolgen, muss Klinikseelsorge allerdings intensiv Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Wirksamkeitsforschung betreiben.
Der dritte Teil profiliert dann die Hauptthese, dass Klinikseelsorge als spezialisierte Spiritual Care zu verstehen sei. Die stellenweise in Deutschland anzutreffende Entgegensetzung von Seelsorge und Spiritual Care (in England beispielsweise ist das anders) entspricht weder der religionspluralen Ausgangslage in unserer Gesellschaft noch der Vielfalt der Modelle von Spiritual Care. P.-K. schlägt vor, eine gesundheitsberufliche Spiritual Care (die von allen Gesundheitsberufen ausgeübt wird) zu unterscheiden von einer seelsorglichen, die einen höheren Spezialisierungsgrad aufweist. Damit wird es möglich, sowohl die gemeinsame Aufgabe als auch die unterschiedlichen Spezialisierungen zusammenzuhalten. Klinikseelsorge muss dann lernen, sich als spezialisierten Gesundheitsberuf zu verstehen an der Schnittstelle der drei Systeme Krankenhaus, Patienten/Angehörige und Kirche. Seelsorge muss ebenfalls lernen, ihre Arbeit zu dokumentieren (und dabei gleichzeitig das Seelsorgegeheimnis zu wahren); sie wird dadurch einerseits etwas von ihrer Unabhängigkeit verlieren, andererseits transparenter machen können, was sie eigentlich tut. Sie wird sich außerdem zunehmend im Bereich evidenzbasierter klinischer Ethik en­gagieren, dieses Feld auch in die Seelsorgeausbildung integrieren.
Eine solche Neuverortung der Klinikseelsorge setzt die Integration mehrerer Aspekte, die P.-K. zum Schluss zusammenfasst, voraus: eine spirituelle Grundhaltung bei den Seelsorgenden selbst; eine Beauftragung durch eine Glaubensgemeinschaft, um in religionspluralen Zeiten an einer Stelle geerdet zu sein; ein Bewusstsein der Symbolhaftigkeit der seelsorglichen Rolle; Kompetenz zu spirituellen Vollzügen. Das muss geschehen auf der Basis einer Fähigkeit zu interprofessioneller Kommunikation und Kooperation, die spirituelle Haltung mit therapeutisch-medizinischen Fragen zu verknüpfen versteht.
P.-K. entwirft ein anregendes, stellenweise neues Profil für das Selbstverständnis und die Praxis von Klinikseelsorge. Durch die vielen eingebauten Beispiele gewinnt das Buch Anschaulichkeit; zugleich wird daran deutlich, dass manche Beispiele besonders herausgehobene Situationen beschreiben, die (noch) nicht den Alltag der Krankenhausseelsorge, vor allem in Deutschland, widerspiegeln. Die strukturelle Einbindung der Klinikseelsorge in das Ge­samtsystem eines Krankenhauses, ebenso Personalstärke und professionelle Qualifikation der Seelsorgenden könnten und müssten deutlich verbessert werden, damit sich Klinikseelsorge in der von P.-K. skizzierten Weise mit spiritueller und interprofessioneller Kompetenz aufstellen und einen heilsamen therapeutischen Beitrag leisten könnte. Aber das Buch skizziert das Ziel und Schritte auf dem Weg dahin und scheint mir insofern für alle, die mit Krankenhausseelsorge zu tun haben, ausgesprochen inspirierend. Gerade in Zeiten, in denen in vielen Kirchen über Stellenreduktionen in der Spezialseelsorge diskutiert wird, enthalten diese Thesen eine kritische und zugleich ermutigende Perspektive: So könnte und müsste Krankenhausseelsorge bzw. spiritual care aussehen und agieren!