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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

979–981

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eiffler, Felix

Titel/Untertitel:

Kirche für die Stadt. Pluriforme urbane Gemeindeentwicklung unter den Bedingungen urbaner Segregation.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 550 S. m. 10 Abb. u. 6 Tab. = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung, 29. Kart. EUR 85,00. ISBN 9783788734688.

Rezensent:

Uta Pohl-Patalong

Über die Frage, welche Formen von Kirche in der Spätmoderne angemessen sind, wird gegenwärtig an vielen Orten nachgedacht. Der explizite Bezug dieser Diskurse auf die urbane Kultur, der in den 1990er und 2000er Jahren in der Praktischen Theologie virulent war, ist dabei jedoch tendenziell wieder in den Hintergrund geraten. Die 2019 in Greifswald als Dissertation angenommene Arbeit von Felix Eiffler beschäftigt sich nun dezidiert mit der Frage nach sinnvollen Formen von Kirche in der Großstadt heute und spitzt dies auf die spezifische Herausforderung der urbanen Segregation bzw. »Entmischung« zu: »Welche kirchlichen Ausdrucksformen kommunizieren den (von urbaner Entmischung betroffenen) Städtern das Evangelium auf eine für sie verständliche und für ihr Leben relevante Weise?« (34) Leitend für den Ansatz ist in der bisherigen Greifswalder Tradition eine missionstheologische Perspek-tive, die sich in der Auswahl der behandelten Theorien und Ansätze sowie der Hermeneutik und Herangehensweise der Arbeit zeigt.
Nach einer ausführlichen Einführung (I.) in die Motivation zu dieser Arbeit und ihrer Verortung im Ansatz von Timothy Keller als »Balance zwischen Kontext und Evangelium« (51) erfolgt eine luzide Beschäftigung mit dem Phänomen Stadt (Kapitel II.). Die relevanten Begrifflichkeiten werden sorgfältig geklärt und durch einen Blick auf die globale Entwicklung ergänzt. Nach einer biblischen Perspektive werden dann stadtsoziologische Grundlagen gelegt, bevor eine Zuspitzung zunächst auf die sozialräumliche und dann auf die soziale Segregation erfolgt. Ursachen von Letzterer, vor allem aber die Folgen für das Leben in der Stadt werden analysiert und detailliert dargestellt. Bereits in diesem Kapitel zeigt sich die außerordentlich gründliche Herangehensweise E.s an seine Gegenstände. Die Fülle von Theorien, Ansätzen und Aspekten, die er nicht nur rezipiert, sondern jeweils auch einführt und vorstellt, ist beeindruckend, erschwert aber teilweise auch den Lesefluss.
Ebenso gründlich erfolgt die Beschäftigung mit den theolo-gischen Grundlagen urbaner Gemeindeentwicklung (Kapitel III). Dem theologischen Ansatz E.s gemäß beginnt er missionstheologisch, indem Wesen und Auftrag der Kirche im Missionsbegriff verortet werden. Nach einem ekklesiologischen Blick auf die Bekenntnisschriften erfolgt eine Darstellung sinnvoll gewählter kirchentheoretischer Ansätze aus Geschichte und Gegenwart, die nicht nur erneut durch ihre Fülle, sondern auch durch ihre präzise Darstellung beeindruckt. Dass dann allerdings als »Bündelung« und »summa« (337 bzw. 338) auch dieses Abschnittes das Wesen der Kirche als Mission und die Forderung ihres beständigen qualitativen und quantitativen Wachstums formuliert wird (vgl. 338 f.), er­scheint stärker dem Ansatz E.s geschuldet als den zuvor dargestellten Ansätzen. Zudem irritiert zunächst, dass die klassischen vier »Grundfunktionen der Kirche« (339) Martyria, Koinonia, Leiturgia und Diakonia, die in den folgenden Kapiteln leitend werden, nur in einem »Ausblick« knapp dargestellt und kaum begründet werden. In der Hinführung zum folgenden Kapitel wird allerdings ihre anschließende eingehende Betrachtung angekündigt (und auch mit »vier Dimensionen« in der Überschrift markiert), jedoch nicht durchgeführt. Das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass dieses Kapitel offensichtlich bei der Endredaktion (noch nach dem Verfassen der Einleitung) in ein nur über die Verlagshomepage digital abrufbares Zwischenkapitel IV. gerutscht ist. Dessen Lektüre, die daneben auch Konzeptionen urbaner Gemeindeentwicklung sowie Diakonie und religiöse Pluralität als ihre aktuellen Themen behandelt, lohnt durchaus – und ist gleichzeitig eigentlich für das Verständnis des Kernkapitels V. erforderlich, weil ohne dieses manche Konsequenzen wie unvermittelte Setzungen wirken, wenn ihre Be­gründungszusammenhänge fehlen. Insofern hätte sich vielleicht doch die sicher mühevolle Kürzungsarbeit aller Kapitel gelohnt, um den gedanklichen Zusammenhang des Werkes zu wahren, was angesichts der Fülle der Theorien und mancher Redundanzen durchaus möglich erscheint.
Wenn dann in Kapitel V. der soziologische und der theologische Zugang zueinander in Beziehung gesetzt werden, werden die gemeindlichen Formen der Parochie, der Citykirche sowie die Fresh Expressions of Church als drei »Orte urbaner Gemeindeentwicklung« jeweils zunächst vorgestellt und dann auf ihre »Potentiale« und »Hindernisse« urbaner Gemeindeentwicklung befragt. Untersucht werden die drei Formen dezidiert im Blick auf zwei Dimensionen: »Inwiefern dient der beschriebene Ort a) der Verwirklichung der vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung und was sind b) die spezifischen Chancen und Begrenzungen hinsichtlich sozialer Segregation?« (346) Eine solche Begrenzung ist gut nachvollziehbar, scheint mir jedoch in einem nicht ganz idealen Verhältnis zum zuvor betriebenen Theorieaufwand zu stehen. Die von diesen Kriterien geleitete Analyse hätte ich mir zudem wiederum durchaus etwas ausführlicher vorstellen können. So gibt es beispielsweise zur Frage, ob die Parochie milieuverengend oder mi­lieuverbindend wirkt, eine ausführliche Debatte, sowohl im An­schluss an die milieutheoretischen Zugänge als auch auf der Basis empirischer Untersuchungen, die über die hier praktizierte Nennung dieser Chance und des Problems hinausgeht. Auch die parochiale Diakonie als »Zuwendung zum Nächsten« (354) wird ja in der Perspektive diakoniewissenschaftlicher und vor allem gemeinwesenorientierter Ansätze unterschiedlich betrachtet. Ebenso hätte eine differenziertere Wahrnehmung der unterschiedlichen Ebenen des Gemeinschaftsbegriffs – besonders im Blick auf die für viele Citykirchen typische »passagere Zufälligkeit« (377) – die Auseinandersetzung über das Postulat nach katechetischer Kompetenz und Verbindlichkeit hinaus bereichert. Dass dem Ansatz der Fresh Ex­pressions of Church aufgrund des gemeinsamen Anliegens mit dieser Arbeit zunächst besonders große Potentiale bescheinigt werden können, reflektiert E. treffend (vgl. 397). Umso mehr ist anzuerkennen, dass er deren Schwächen der Zielgruppenorientierung im Blick auf die soziale Segregation aufmerksam wahrnimmt. Her vorzuheben ist schließlich, dass er weder bei der kritischen Analyse noch bei dem Postulat einer Ergänzung der drei Formen als »pluriforme Mischung« (413) stehenbleibt, sondern eine Veränderung aller drei untersuchten Formen vorschlägt, die der Herausforderung urbaner Segregation besser gerecht wird: die Weiterentwicklung von Parochien zu »Quartiersgemeinden«, die sich dezidiert als »Kirche im Quartier«(431) verstehen, die Weiterentwicklung von Citykirche zu StadtKirchen mit einer »profiliert-pluralen Kommunikation des Evangeliums« (440) sowie die Weiterentwicklung von Fresh Expresssions of Church zu »frischen Ausdrucksformen urbaner Kirche«, die sich u. a. durch einen engen Kontakt ihrer Zielgruppen zu den Zielgruppen anderer Gemeinden auszeichnen (im Sinne einer »focused-and-connected church« nach Michael Moynagh, vgl. 451 ff.). Dass anschließend noch die Erprobungsräume und die Netzwerkfigur behandelt werden, zeugt erneut von dem weiten Wahrnehmungshorizont E.s und seinem anerkennenswerten Bemühen um Aufnahme möglichst vieler relevanter Theorien, wäre aber für den Gedankengang der Arbeit verzichtbar gewesen.
Die großen Stärken der Arbeit liegen in der sorgfältigen Wahrnehmung und gründlichen Verarbeitung eines umfangreichen praktisch-theologischen Theoriebestandes einerseits und der präzisen Verhältnisbestimmung von urbaner Kultur und zukunftsfähiger kirchlicher Formen unter einem klar kommunizierten theologischen Fokus andererseits. Sie wären noch deutlicher zur Geltung gekommen mit einer stärkeren Fokussierung auf Theorien und Ansätze, die unmittelbare Relevanz für die Analyse gewinnen, sowie eine entschiedenere Konzentration auf den eigenen Gedankengang des Autors (der zudem gerne etwas weniger umfangreich in den vielen Ein- und Ausleitungen erläutert werden dürfte). Formal wird dies sichtbar an den vielen Nennungen der Quellen von Gedanken im Fließtext, was den Lesefluss erschwert. Hier wäre E. mehr Mut nicht nur zur Auswahl, sondern vor allem zur eigenständigeren Darstellung zu wünschen, in die die Theorien hineingeflochten werden. Dies schmälert jedoch nicht die Leistung, die virulente Debatte um die Zukunft der Kirche um den relevanten Aspekt bereichert zu haben, wie die Modelle und Versuche mit dem Phänomen sozialer Segregation umgehen – hinter diese Einsichten werden künftige Überlegungen nicht zurückgehen können.