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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

976–978

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Zager, Werner [Hg.]

Titel/Untertitel:

Wie frei ist unser Wille? Theologische, philosophische, psychologische, biologische und ethische Perspektiven.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 244 S. = Veröffentlichungen des Bundes für Freies Christentum, 4. Kart. EUR 34,00. ISBN 9783374066025.

Rezensent:

Michael Roth

Der Aufsatzsammlung liegen Vorträge zugrunde, die vom 11. bis 13. Oktober 2019 im Martin-Niemöller-Haus in Arnoldshein auf der Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum gehalten wurden. Mit dem Thema Willensfreiheit wählt sich der Bund für Freies Christentum, der sich als »ein Zusammenschluss überwiegend protestantischer Christen, die sich für eine persönlich verantwortete undogmatische, weltoffene Form des christlichen Glaubens einsetzen und dabei ein breites Spektrum an Auffassungen zu integrieren suchen« (7) versteht, ein Kernthema der reformatorischen Theologie. Bereits lange vor Sigmund Freuds Einsicht, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, hat Luther dem humanistischen Bild vom Menschen eine Kränkung zugefügt und die Vorstellung von einer Selbstmächtigkeit des Menschen abgewiesen. Die Frage nach der Willensfreiheit könnte daher für den Bund für Freies Christentum und seine Stellung zum Protestantismus eine Herausforderung darstellen.
Einleitend zeichnet der Herausgeber des Bandes und Präsident des Bundes für Freies Christentum, Werner Zager, in seinem Beitrag »Freier und unfreier Wille« (11–35) einige markante Positionen und Kontroversen in der Frage der Willensfreiheit nach, die »speziell für die protestantische Theologie von Bedeutung waren« (11). Über die Darstellung von Paulus (11–14), Augustin (14–18), Luther und Erasmus (18–27), Kant und Schleiermacher (27–31) kommt Z. schließlich auf die an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg vorgelegte Dissertation von Britta A. Weinhardt zu sprechen (31–34), um abschließend ein Resümee zu ziehen. Hier werden Einsichten formuliert, die aber leider argumentativ nicht untermauert sind, so dass es nur schwer möglich ist, sich mit ihnen diskursiv ins Benehmen zu setzen. So wird thetisch formuliert, dass wir nur »unter Voraussetzung einer willentlichen Zustimmung für unser Tun zur Rechenschaft gezogen werden können« (35). Dieser Spitzensatz wird nicht weiter reflektiert und ist so auch schwer nachzuvollziehen. Dass eine willentliche Zustimmung Voraussetzung unserer Verantwortlichkeit für etwas ist, bestreitet ja niemand. Strittig ist, ob dieser Wille frei sein muss. Ferner plädiert Z. dafür, dass gegen den antipelagianischen Augustin dem frühen Augustin der Vorzug zu geben ist, vor allem darin, dass der Glaube »angenommen oder abgelehnt werden kann« (35). Über die Kontroverse von Erasmus und Luther wird geurteilt: »Bei Erasmus besticht die undogmatische Haltung in der Frage der Willensfreiheit, insofern er sich für bessere Einsicht offen zeigt. Luthers Polemik kann dagegen nicht überzeugen« (35). Inwiefern Erasmus sich – im Unterschied zu Luther – für bessere Einsichten offen zeigt, wird allerdings nicht herausgearbeitet.
Auch der Beitrag von Michael Großmann, »Handlungsfreiheit und Willensfreiheit« (37–62), geht den Kontroversen um die Frage nach der Willensfreiheit nach, wählt aber ein systematisches, an zentralen Themen orientiertes Verfahren. So werden unterschiedliche Ebenen des Freiheitsbegriffs analysiert (39–41), der Determinismus und Einwände gegen ihn vorgestellt (41–48), die Differenz von Kompatibilismus und Inkompatibilismus erörtert (48–51) und auch strafrechtliche Folgen in den Blick genommen (56–60). Viele Themen werden stichwortartig in den Blick genommen, so dass eine Klärung nicht immer erreicht wird. Bei der Alternative zwischen Kompatibilismus und Inkompatibilismus bspw. geht es nicht – wie Großmann darstellt – um die Frage, ob Determinismus und Verantwortung für das eigene Handeln vereinbar sind, sondern darum, ob Determinismus und freier Wille vereinbar sind. Großmann plädiert abschließend für einen »pluralistischen Determinismus«, den er folgendermaßen erklärt: »Die Welt eröffnet sich uns in vielerlei Perspektiven. Es gibt nicht die eine zutreffende Beschreibung. Aber jede einzelne Beschreibung macht die Bedingungen deutlich, denen wir unterworfen sind.« (60) Inwiefern dies als »Mittelweg zwischen Kompa-tibilismus und Inkompatibilismus« bezeichnet werden kann, er­schließt sich dem Rezensenten nicht.
Hans-Georg Wittig will in seinem Beitrag »Willensfreiheit und Handlungsfreiheit« (63–78) vornehmlich über diejenige Form der Willensfreiheit sprechen, »die Voraussetzung moralischen Handelns« (64) ist. Wittig zeigt sich meinungsfreudig, bei einigem hätte man sich aber auch hier eine stärkere argumentative Untermauerung gewünscht. So erfahren wir, dass wir uns in der 1. Person-Perspektive für frei halten (67), ohne dass die Freiheit, die hier angeblich anzutreffen ist, genauer erläutert wird. Oder uns wird gesagt, dass wir uns in unserem Erleben der Freiheit nicht verunsichern lassen sollen (67), ohne dass dieses Erleben genauer phänomenologisch herausgearbeitet wird. Erleben wir uns tatsächlich als willensfrei, d. h. erleben wir uns als solche, die ihr Wollen bestimmen können, oder als solche, die ihrem Wollen gemäß handeln können, ihrem Wollen aber unterworfen sind? So selbstverständlich wie Wittig vermutet, ist dies alles keineswegs.
Einen aufschlussreichen Beitrag bietet Rolf-Peter Warsitz, der der Frage nachgeht: »Sind wir Herr im eigenen Haus?« (79–96). Warsitz beansprucht als Psychoanalytiker, eine Auseinandersetzung mit Freuds bekannter Einsicht zu leisten, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist. Interessant ist, dass Warsitz (in positiver Bezugnahme auf die Einsicht Freuds) reflektiert, »ob nicht ein Eingeständnis der Heteronomie des Subjekts in Bezug zu seinem Unbewussten in den Paradoxien moderner Subjektivität kurativ, heilsam wirken könnte für das gekränkte Subjekt der Moderne« (89). Es überrascht daher nicht, dass er in Aufnahme von Jacques Lacan das Widerstreben gegen das eigene Begehren als Grundverfehlung an­sieht (95 f.).
Andreas Rössler widmet sich in seinem Beitrag »Frei zur Wahrheit« (207–231) dem Freiheitsverständnis im freien Christentum, unter dem Rössler »eine ›liberale‹ Version christlicher, insbesondere (wenn auch nicht ausschließlich) protestantischer (in der Neuzeit ›neuprotestantischer‹) Frömmigkeit und Theologie« (207) versteht. Er spricht von einer dreifachen Freiheit: »Erstens ist die allgemein-menschliche Freiheit im Blick […]. Zweitens geht es um die grundsätzlich christliche Freiheit, die in gesamtchristlicher, ökumenischer Hinsicht für das christliche Glauben und Leben fundamental ist. […] Drittens aber setzt ein freies Christentum auf diesen beiden Grundlagen […] besondere Akzente in seinem Verständnis von Freiheit: für eine liberale, offene, tolerante Haltung, Frömmigkeit und Denkweise, die nicht nur bei bestimmten protestantischen Gruppen zu finden ist, sondern die darüber hinaus von vielen Kirchenmitgliedern bejaht wird, und zwar konfessionsübergreifend.« (208 f.) Wenn sich der Beitrag auch nicht dem Thema Willensfreiheit direkt widmet, so liefert er doch interessante Einblicke in das Selbstverständnis des Bundes für Freies Christentum.
Wie in jedem Aufsatzband finden sich auch hier Beiträge unterschiedlicher Qualität. Darüber hinaus vereinigt er Texte mit wissenschaftlichem Anspruch und Texte, die einen solchen An­spruch nicht erheben, ja sich geradezu hier zu entschuldigen scheinen (vgl. 175). Nun ist es natürlich ambitioniert, im Jahr 2020 eine Aufsatzsammlung zum Thema Willensfreiheit vorzulegen. Seit über zwei Jahrzehnten wird in den unterschiedlichen Wissenschaften das Thema zentral diskutiert. Eine ganze Reihe von interdisziplinären Sammelbänden zu den zentralen Fragestellungen mit Beiträgen der entsprechenden Fachvertreter liegt vor. Sicherlich mag es eine fruchtbare Jahrestagung gewesen sein, allerdings ist vieles, das im vorgelegten Band zu lesen ist, andernorts genauer, präziser und fachkundiger dargestellt. So mag der Band vor allem als schöne Erinnerung für die Tagungsteilnehmer und Tagungsteilnehmerinnen an die gelungene Tagung dienen und hat hier auch seine Berechtigung.
Eine Chance hätte freilich sein können, das protestantische Kernthema der Willensfreiheit zur Selbstklärung der Beziehung des freien Christentums zum Protestantismus dienstbar zu ma­chen, dem nach Selbstauskunft die meisten Mitglieder des Bundes für Freies Christentum zuzurechnen sind. Hierauf wurde leider verzichtet, so dass undiskutiert und ungeklärt bleibt, wie ein Verzicht auf zentrale reformatorische Einsichten (s. o.) und das Be­kenntnis zum Protestantismus zusammengehen.