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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

962–965

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Poetsch, Christoph

Titel/Untertitel:

Platons Philosophie des Bildes. Systematische Untersuchungen zur platonischen Metaphysik.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Verlag Vittorio Klostermann 2019. 428 S. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783465044109.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

»Platons Philosophie ist eine Metaphysik des Bildes« (11). Mit diesem programmatischen Eröffnungssatz deutet die philosophische Heidelberger Dissertationsschrift von Christoph Poetsch, die noch bei Jens Halfwassen angefertigt wurde, ihre – nach einer kompakten Einleitung (11–20) – in vier Teilen entfaltete These an.
Im ersten Teil (25–157) legt P. dar, dass das Bild sich bei Platon der binärcodierten Option entzieht, wonach etwas entweder ist oder nicht ist: Im Phänomen des Bildes sind Sein und Nicht-Sein miteinander verflochten. Genauer betrachtet versteht Platon unter dem Bild wesentlich das Erscheinen von etwas, das an sich selbst nicht sichtbar ist. Darum ist das Bild bei Platon im Kern auch als Erscheinung – und nur abgeleitet als Abbild – zu fassen. Dasjenige, was erscheint, ist nicht vorrangig als Ur bild eines Abbildes, sondern als bildloser Archetyp zu bezeichnen. Ein Bild im Sinne der Erscheinung ist z. B. ein lautsprachlicher Ausdruck für einen inneren Gedanken; dagegen ist ein Bild im Sinne der Abbildung (z. B. ein Gemälde) etwas äußerlich Existierendes. Wichtig ist zudem Platons Einzeichnung des Bildverständnisses in das Leib-Seele-Verhältnis: In dem – im Deutschen auch so genannten – Körperbild zeigt sich dessen unsichtbare Seele, so P. Mit diesem Bildverhältnis von Seele und Körper schließt sich Platon – gegen Homer – einem alten, hintergründigen Bildverständnis an: Die unsichtbare Seele hat Vorrang vor ihrem sinnlichen Erscheinen im Körper, der – mit Jan Assmann – im Sinn der altägyptischen Bildlogik als vitale Verkörperung zu begreifen ist. Dieses platonische Bildverständnis erlaubt P. eine Neuinterpretation des Liniengleichnisses: Was die Standarddeutung im Bereich der Sinnlichkeit für Abbilder und deren Lebewesen hält, sind in Wahrheit die Körperbilder und deren Seelen. Wahrnehmung ( aisthesis) ist so im Kern immer Bildwahrnehmung (eikasia). Und was die Standarddeutung im Bereich des Denkens für mathematische Gegenstände und Ideen hält, sind – präziser gefasst – die zwei- und dreidimensionalen Imaginationen (der mathematisch klassifizierten Körperbilder) und die zum »Anhypotheton« führenden Stufen der noesis. So ist das Liniengleichnis der Ausdruck einer ontologischen Dimensionsfolge, in deren Mittelpunkt die gedoppelte Seele steht, nämlich als physisch erscheinende und mathematisch klassifizierte Seele. Damit ist das Liniengleichnis – im Sinn der griechischen Mathematik – der performative Über-gang von einer geometrisch diskreten in eine kon­tinuierliche Analogie: Anstelle von vier Teilbereichen, die vermeintlich in zwei Welten zerfallen, tritt eine Dimensionsfolge des Physischen, Psychischen und Eidetischen. Damit verbunden ist bei Platon, so P. im Anschluss an Walter Burkert, eine »3-1-Figur«, wenn etwa drei Seelenteile und ein Körper koordiniert sind. Anders als in Reinhard Brandts 3-1-Figur wird das Vierte bei Platon, so P., zum schwächsten Moment. Möchte man den Bildbegriff in Platons bekannter Kunstkritik recht erfassen, ist der Zugang über die »Mimesis« sinnvoll, die – jenseits der Alternative von Nachahmung oder Darstellung – eine bildliche Form der Realisierung meint. In dieser Fluchtlinie zeigt sich nach P.: Auch hinter Platons Kunstkritik steht der metaphysische Bildbegriff der Erscheinung, so dass es Platon nicht darum geht, grundsätzlich die Kunst und Bilder zu verbieten. Vielmehr gilt: Im Zwischenmenschlichen entkommt man den Bildern nicht. Ihre sinnliche Basisform des Körperbildes, so P., ist sogar die Voraussetzung jeder Verständigung – und eröffnet damit auch Möglichkeiten trügerischer und illusionärer Praxis. Ihr gegenüber insistiert Platon, nicht zuletzt im Sinn eines bildlosen Göttlichen ohne Schein und Trug, mit seiner Kunstkritik auf einer Verständigung über die Bildlichkeit.
Der zweite Teil (161–196) widmet sich dem Verhältnis von Dialog und Bild. Hierbei zeigt sich nach P. die Leistungsstärke des herausgearbeiteten Bildbegriffs im Sinn der Erscheinung in zweifacher Hinsicht. Erstens kann man, so P., den platonischen Dialog als Bild fassen. Damit ist gemeint: Platons Dialoge artikulieren an­schauliche Konstellationen, in denen sich seine Ontologie abgeschattet spiegelt. Dies führt P. beispielhaft anhand der räumlichen Struktur der im »Parmenides« geschilderten Handlung vor; Platon benutzt hier den Stadtplan Athens, um in der Handlung seines Dialogs die proportionalen Verhältnisse seiner Metaphysik in Szene zu setzen. Weitere, vierstellige Konstellationen finden sich für P. im »Symposion« und den Tetralogien des Spätwerkes. Zweitens kommt P. bei der Analyse des Verhältnisses von Bild und Schrift zum Ergebnis: Die Seelenlosigkeit des Schriftbildes – und damit Platons berühmte Schriftkritik – geht Hand in Hand mit der Einsicht, dass die Schrift als Tonträger die Lautsprache eindimensional abbildhaft wiedergibt. Das sinnliche Abbild, nicht die seelische Erscheinung, kommt hier systematisch zur Geltung – darum sieht Platon die Schrift, und zwar einschließlich der eigenen Schriften, kritisch. So positioniert sich P. in einer fachlichen Kontroverse klar und verbindet damit nachvollziehbar seine Zustimmung zur bekannten Deutung der »Ungeschriebenen Lehre« der Tübinger Schule.
Dem widmet sich sachlich der dritte Teil (199–269), indem er erstens den Zusammenhang von Bild und Prinzipienlehre aufweist, zweitens Platons Metaphysik des Bildes über die Begriffe der Dimension und Projektion aufschlüsselt und drittens den nous als Bild des Absoluten deutet. Diese drei Schritte schließen – in der Deutung von P. – unmittelbar aneinander an: Die Frage nach dem Übergang der Seinsstufen (methexis) löst Platon – insbesondere im »Timaios« (im Zusammenhang mit der chora als »Einräumung«) – über den Bildbegriff im Sinn der Erscheinung. Für P. wird Platon so zu Entdecker der dreistelligen Bildontologie von Archetyp, Bild und Bildträger. Die unterschiedlichen und abgestuften Seinsebenen ergeben sich aus dem jeweils spezifischen Zusammenspiel der Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit. Die unterste Stufe bildet hierbei die Welt des Werdens. Hervorgebracht werden diese kaskadenhaften Stufen und Dimensionen des Seins in ihrer Bildlichkeit durch die Projektion ( problema). Sie ist der Übergangsprozess zwischen den Seinsebenen und verdankt sich dem ungesetzten Prinzip (anhypothetos arche). Letzteres ist die Quelle der Projektion. Der Ideenkosmos im Zusammenspiel mit dem »Licht« des mathematischen Logos und der chora bringen dann die sinnliche Welt als Bild hervor. Der Kosmos wird so insgesamt zum Bild des Geistigen, hat eine »Weltseele« und verweist letztlich auf das Eine. Hierbei dürfte, so P., der nous das Bild des bildlos Einen sein. Dabei kommt dem Logos als der Grundbestimmung des ideellen Seins eine Schlüsselposition zu; »logisch« wird die Einheit des Einen in ihrer Differenz fassbar. In gewisser Weise ist so der Logos das herausragende Bild des Einen.
Im vierten Teil (273–347) nutzt P. seine erarbeitete Deutung, um zu Standardvorwürfen gegen Platon Stellung zu nehmen. Denn versteht man das Bild im dargestellten Sinn als Erscheinung, sind drei Vorwürfe zurückzuweisen: Erstens verdoppelt Platon in keiner Weise die Welt, sondern begreift sie als in sich differenzierte Di­mensionsfolge. Zweitens wertet Platon deswegen nicht einseitig die Körperwelt ab, sondern auch die eikasia ist nur in abgestufter Weise eine Form des Logos, so dass Wahrnehmen und Denken ineinander übergehen. Und drittens verfügt Platon über einen komplexen, aber nicht disparaten Bildbegriff, der eine Ontologie der Sprache kennt und dem Sprachbildlichen einen berechtigten Platz einräumt; die Wirklichkeit selbst ist gleichnishaft verfasst. Schließlich bewährt P. seine Deutung an Platons bekanntestem Bild, dem Höhlengleichnis: »Die Dimension des Sinnlichen ist ganz buchstäblich das Ergebnis einer Projektion. Die Sinnlichkeit ist deshalb nicht nichts. Aber sie ist auch nicht alles. Sie ist Erscheinung des Geistigen und zuletzt des Einen. Sie ist Bild.« (347)
Die Studie von P. besticht in ihrem Zusammenspiel von philologischer Akribie und systematischer Kraft und ist – auch in der Fülle ihrer Einsichten – für aktuelle Bildtheorien anschlussfähig. Davon sollten auch Theologien des Bildes, des Symbols und der Metapher profitieren, die so sich in Platon ihrer Grundentscheidungen nochmals vergewissern können. Im näheren Fachgespräch wäre einiges zu diskutieren, wovon hier nur drei Punkte genannt werden sollen: Muss beim Verständnis der eikasia nicht deren Aktcharakter stärker betont werden? Begreift Platon die Ideen nicht dynamischer, als es das Beispiel vom (Thonet-)Stuhl nahelegt, wie man mit Arbogast Schmitt fragen müsste? Und: Ist nach der vorgeschlagenen Lesart nicht die aristotelische Theologie eine Präzisierung der platonischen Prinzipienlehre?