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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

530–532

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Asendorf, Ulrich

Titel/Untertitel:

Lectura in Biblia. Luthers Genesisvorlesung (1535-1545).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 528 S. gr.8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 87. Geb. DM 178,-. ISBN 3-525-56294-2.

Rezensent:

Christian Peters

Als sich Luther Anfang Juni 1535 trotz denkbar schlechter Gesundheit an die Auslegung der Genesis machte, stand für ihn fest, dass er dieses Unternehmen vor seinem Tod unmöglich würde zu Ende führen können. Sieht man einmal von den zwei kleinen, 1543/44 in sie eingeschobenen Vorlesungen über Jes 9 und 53 ab, hat die Genesisvorlesung dann auch tatsächlich den Abschluss seiner Lehrtätigkeit gebildet. Sie dauerte, oftmals unterbrochen, bis zum November 1545 und entwickelte sich während dieser Zeit zu einem monumentalen Dokument seiner Alterstheologie.

Leider ist das große Werk nur schlecht überliefert. Die Nachschriften Georg Rörers und Kaspar Crucigers sind verschollen. Erhalten hat sich lediglich eine durch Veit Dietrich begonnene und nach dessen Tod (1549) durch die beiden Nürnberger Michael Roting und Hieronymus Besold fortgeführte, vierbändige Kommentarfassung. Diese ist zwar schon zwischen 1544 und 1554 erschienen, sie basiert aber auf unterschiedlichen Nachschriften und weist deshalb eine Reihe von Doppelungen auf. Auch haben die Bearbeiter Ergänzungen vorgenommen und so ihre eigene Theologie in das Werk einfließen lassen. Man hat es hier also nicht mehr überall mit der ipissima vox Lutheri zu tun. Anders als in der jüngeren Forschung zumeist geschehen, sollte man den Quellenwert des Kommentars aber auch nicht zu gering veranschlagen. Die Hauptmasse des Textes mit seinem Reichtum an Aspekten und Anspielungen geht sicher noch auf Luther zurück.

Ebendies setzt auch die vorliegende Untersuchung voraus. Sie verfolgt die Absicht, "mit Hilfe von Luthers Genesisvorlesung der Eigenart seiner Theologie überhaupt auf die Spur zu kommen" (11). Dabei begreift es ihr Vf., ein ausgewiesener Kenner der Theologie Luthers (vgl. dazu vor allem seine Bücher Eschatologie bei Luther, Göttingen 1967; Gekreuzigt und Auferstanden. Luthers Herausforderung an die moderne Christologie, Hamburg 1971; Luther und Hegel. Untersuchungen zur Grundlegung einer neuen systematischen Theologie, Wiesbaden 1982 und Die Theologie Martin Luthers nach seinen Predigten, Göttingen 1988), als seine "eigentliche Aufgabe", "Luther als Ausleger der Genesis in der Tradition der vorscholastischen Kirche zu sehen und dies zum Maßstab der Katholizität seines Denkens zu machen" (13). Er bekennt sich zu einer "integrale(n) Theologie" (d. h., so er selbst S. 12, einer Theologie, "die vom Ganzen der Schrift ausgeht und zu ihm hinführt") und betont, dass das von ihm gewählte Verfahren "ein dezidiert systematisches" sei, was bedinge, dass "die Überlegungen zur Textgestaltung so knapp wie möglich gehalten" würden (11). Tatsächlich spielen diese Überlegungen, sieht man einmal von einem relativ kurzen Eingangsreferat (33-42) ab, dann später auch kaum mehr eine Rolle.

Die Durchführung selbst erfolgt in fünf Kapiteln: In Kapitel I ("Ausgangspunkt", 19-67) wird zunächst die vom Vf. sogenannte "dritte Theologie" Luthers vorgestellt. Sie überbiete Luthers frühere Theologien, d. h. die Theologia exinanitionis (bis zur Römerbriefvorlesung) und die Theologie promissionis (De captivitate babylonica ecclesiae. Praeludium), und sei eine Weiterentwicklung der Theologia promissionis auf der Basis des Protevangeliums in Gen 3,15 (so erstmals in einer Predigt des Jahres 1519 und vollends in der Genesisvorlesung seit 1535). In dieser Abfolge spiegele sich zugleich "der Weg vom protestantischen zum katholischen Luther" (22). In der Folge rekurriert der Vf. besonders auf zwei Werke Kenneth Hagens (Luther’s Approach to Scripture as seen in his ’Commentaries’ on Galatians, 1519-1538, Tübingen 1993) und Oswald Bayers (Theologie, Handbuch systematischer Theologie Bd. 1, Gütersloh 1994). Er versucht zu zeigen, inwieweit Luthers Alterstheologie zum Ansatzpunkt einer grundsätzlich neuen, d. h. einer aus dem Gefolge Schleiermachers heraustretenden Hermeneutik werden könne.

Im Mittelpunkt des umfänglichen Kapitels II ("Querverbindungen", 68-247) steht dann das Protevangelium in Gen 3,15. Es enthält "den christologischen Sinn, sozusagen die christologische Essenz des gesamten Alten Testaments". Dabei erweist es sich "einmal als Schlüssel zur Vätergeschichte, wie sie prototypisch durch Abraham repräsentiert wird. Zugleich enthält es den Inhalt der gesamten prophetischen Verkündigung in nuce ... und drittens bezieht sich der Jakobssegen aus 49,10 ... auf das Protevangelium zurück und schließt so den gesamten Bogen in der Überlieferung der Genesis" (68). Sehr eingehend wird nun zunächst Gottes rechtfertigendes Handeln an den Erzvätern beleuchtet: "Tröstung nach dem Sündenfall" (68-73); "Christus, der verheißene Same[,] als Grund für die Hoffnung des Glaubens" (74-82); "Abraham vor dem Hintergrund des Protevangeliums" (82-115) und "Die Rechtfertigung als Schlüssel für die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern" (115-125).Das hier Gewonnene wird anschließend im Blick auf den Zusammenhang von Kreuz und Auferstehung (125-147), die Zweinaturenlehre (147-155), die Pneumatologie (155-215 - besonders lesenswert) und die Trinitätslehre (215-247) entfaltet.

Das Kapitel III ("Die beiden Kirchen", 248-298) stellt die Ekklesiologie des späten Luther vor. Auch sie resultiert demnach unmittelbar aus dessen Rechtfertigungsdenken. Skizziert wird der Weg von den "beiden Kirchen" (Kain und Abel) und der "Kirche im Umkreis der Sintflut" (Noah, Nimrod, Eber) über die "neue Kirche Abrahams" und die "Kirche in der Anfechtung" (Jakob) bis hin zur "missionierende(n) Kirche" (Joseph). Im erneut recht umfänglichen Kapitel IV (299-430) geht es dann um "Philosophische und theologische Gotteserkenntnis". Eingehend beleuchtet und in weiten Bezügen diskutiert werden hier die Themenfelder "Theologie und Philosophie angesichts der Erschaffung der Welt" (299-314); Paradies, Gottebenbildlichkeit und Sündenfall (314-346), "Die Gotteserkenntnis der Vernunft" (346-376 - ausführliche Aristotelesdiskussion), "Gesetz und Evangelium" (376-387); "Der transmoralische Gott" (387-416) und "Was heißt das Wort ,Gott’? Erkennbarkeit und Verborgenheit Gottes. Das Erste Gebot und die beiden ersten Glaubensartikel als Einheit" (416-430). Das Kapitel V ("Gelebte Rechtfertigung in den drei Hierarchien", 431-483) widmet sich Luthers "Zwei-Reiche-Lehre" und reflektiert dabei insbesondere das Verhältnis zur "Drei-Stände-Konzeption" des späten Luther ("Der Mensch als cooperator Dei im geistlichen und weltlichen Bereich", "Der ausgeführte Entwurf: Der Mensch als cooperator Dei in den drei Ständen").

Etwas unvermittelt folgen dann noch zwei Exkurse ("Vergleich mit Augustin I/II", 484-486 und 486-490) und ein knappes Schlusswort ("Ökumenische Konsequenzen"; 491-503) mit kritischen Anmerkungen zum Rechtfertigungskapitel der Studie des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" (1986) und einem Ausblick auf die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen (1997). Der Vf. resümiert die Ergebnisse seiner Untersuchung und hebt hervor, "daß es bei Luther um weit mehr geht als um das, was sich in den Lehrverurteilungen des 16. Jh.s niedergeschlagen hat. Die nicht zu unterschätzende Gefahr bei deren Überwindung besteht also darin, sich mit einem Minimalkonsens, so begrüßenswert dieser auch wäre, zu begnügen, aber darüber die weit gewichtigere ökumenische Bedeutung Luthers zu vergessen". Vor diesem Hintergrund weist der Autor der Lutherforschung nachdrücklich die Aufgabe zu, "die Weite der [bei Luther zu erkennenden] ökumenischen Perspektiven offenzuhalten, was freilich zu ernsten Differenzen im eigenen Lager darüber führen dürfte, ob der Neuprotestantismus der eigentliche Sachwalter Luthers ist, für den er sich immer gern gehalten hat" (501).

Das vorliegende Buch macht deutlich, wie unzureichend die Alterstheologie Luthers auch weiterhin erschlossen ist. Dabei beeindruckt es nicht zuletzt durch seine sorgfältigen, dabei aber immer gut lesbaren Textanalysen. Hier wird eine beachtliche Erschließungsleistung erbracht. Hervorzuheben ist auch, wie es dem Vf. gelingt, die universalen Dimensionen in Luthers Rechtfertigungsdenken herauszuarbeiten. Dabei eröffnen sich durchaus neue Perspektiven, so z. B. im Blick auf die Überwindung des schon mehrfach beklagten pneumatologischen Defizits in den Theologien der westlichen Kirchen (Christian Schütz; Wolf-Dieter Hauschild). Allerdings wird zu prüfen sein, ob es sinnvoll ist, von einer "dritten Theologie" Luthers zu sprechen. Dieser wendet sich der Genesis ja wohl doch zunächst deshalb zu, weil ihn die Abrahamgeschichte in ihrer Bedeutung für die Rechtfertigungslehre interessiert. Erst jenseits der Abrahamsgeschichte beginnt dann in Luthers Theologie wohl wirklich etwas Neues. Auch ob man die Probleme der Textgeschichte tatsächlich so rigoros beiseite schieben kann, wie hier geschehen, sei zumindest angefragt. Immerhin besteht ja sonst die Gefahr, dass man systematisch harmonisiert, was historisch gar nicht zusammengehört. Nicht übergangen werden kann auch, dass das Buch etliche Druckfehler aufweist. Ein sorgfältigeres Lektorat hätte hier sicher leicht Abhilfe schaffen können.