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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

944–946

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Moro, Renato

Titel/Untertitel:

Il mito dell’Italia cattolica. Nazione, religione e cattolicesimo negli anni del fascismo.

Verlag:

Rom: Edizioni Studium 2019. 565 S. = Cultura, 186. Kart. EUR 37,05. 9788838247163.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Der in Rom lehrende Historiker Renato Moro ist einer der wichtigsten Erforscher der italienischen Kirchengeschichte in den Jahren des Faschismus (1919/22–1943/45). Das hier anzuzeigende 565-seitige Buch erzählt die Geschichte des italienischen Katholizismus während des faschistischen »ventennio« mit besonderer Berücksichtigung der Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Nation. Grundwissen über die italienische Kirchengeschichte ist dabei vorausgesetzt, wie es etwa Lucia Cecis nun auch in englischer Übersetzung verfügbare Überblicksdarstellung bietet (L’interesse superiore. Il Vaticano e l’Italia di Mussolini, 2013, inhaltlich leicht überarbeitet: The Vatican and Mussolini’s Italy, 2017).
M. beginnt mit einem Überblick zur Forschungsgeschichte und zur aktuellen Diskussion über die Geschichte des italienischen Katholizismus zur Zeit des Faschismus. Auch hier lohnt es sich, Lucia Cecis Sicht zu vergleichen, die den anderen neueren Forschungsbericht zum Thema vorgelegen hat (La Chiesa e il fascismo. Nuovi paradigmi e nuove fonti, in: Studi Storici 55 [2014], 123–137). In den 13 darauffolgenden Kapiteln durchmisst M. die Geschichte des italienischen Katholizismus vom Beginn des 20. Jh.s bis zum Ende des zweiten Weltkriegs. Im Mittelpunkt steht die breitgefächerte und kontroverse Diskussion innerhalb der Kirche, wie man sich gegenüber dem Faschismus verhalten, ob man sich in den nach und nach vom Regime geschaffenen totalitären Staat einfügen und an welchen Punkten man sich dem Anpassungsdruck des Regimes widersetzen solle. Auch die sich wandelnde faschistische Sicht auf den Katholizismus und das Bemühen des Regimes um eine Domestizierung der Kirche werden erörtert.
M. zeigt, dass die Beachtung des in den Quellen immer wieder angesprochenen oder im Hintergrund präsenten »Mythos des katholischen Italien« hilft, das komplexe Verhältnis von Katholizismus und Faschismus zu erschließen und die innerkirchliche Diskussion zu verstehen. Die verbreitete Gewissheit, dass italienische Nation und römisch-katholischer Glaube eng verflochten waren und Staat und Kirche in einem besonderen Verhältnis zueinander standen, trug entscheidend dazu bei, Divergenzen innerhalb der Kirche zu überbrücken und Konflikte zwischen Staat und Kirche zu entschärfen. Der Kirche und den Gläubigen bot sich nach ihrer langjährigen Randexistenz im liberalen Nationalstaat nun die Möglichkeit, Gott Italien und Italien Gott zurückzugeben, wie es Papst Pius XI. 1929 hoffnungsvoll formulierte, und so Italien zu einer katholischen Nation zu machen und das Staatswesen katholisch zu überformen. Zugleich erleichterte die Verklammerung von Nation und Religion dem Faschismus, sich dem Katholizismus anzunähern und die Kirche für den allmählich Gestalt annehmenden totalitären Staat in Dienst zu nehmen. Den Höhepunkt er­reichte diese Annäherung Mitte der 1930er Jahre, als unter Voraussetzung der in den Lateranverträgen erreichten Conciliazione und angesichts der vermeintlichen Wiederrichtung des Imperiums eine »sostanziale adesione« des Katholizismus »alla nazione fascista« (268), ja eine »consolidata unità dell ʼItalia cattolica e fascista« (285) zu konstatieren war.
Auch wenn die wechselseitige Instrumentalisierung von Katholizismus und Faschismus auf einer »koinè ideologica« (542) basierte, so traten sich Katholizismus und Faschismus doch mit konkurrierenden Ganzheitsansprüchen gegenüber, was zu zahlreichen Konflikten führte. Das politisch-ideologische Totalitätsstreben des Regimes, zu dem auch die politische Religion des Faschismus gehört, ging einher mit dem Bemühen um die Zurückdrängung des Katholizismus. Die Ideologisierung des italienischen Nationalmythos im Sinne des Faschismus relativierte den religiösen Gehalt des Mythos der katholischen Nation und damit die Rolle des italienischen Katholizismus. Lange Zeit wollte man das in der Kirche nicht wahrhaben. Der Blick auf das nationalsozialistische Deutschland und dessen in Italien aufmerksam verfolgte Kirchenpolitik führte sogar dazu, dass der vom Mythos des katholischen Italien eingenommene italienische Katholizismus den Faschismus als kirchenfreundlichen Autoritarismus missverstand. Selbst die kirchlichen Kritiker des Faschismus wie Alcide de Gasperi oder Primo Mazzolari, die früh die politische und religiöse Gefährlichkeit des Faschismus erkannt hatten, schwankten phasenweise in ihrem Urteil. Obwohl manche kirchliche Kreise bis zuletzt philofaschistisch eingestellt waren und die Probleme im Verhältnis von Katholizismus und Faschismus kleinredeten, setzte sich seit dem Ende der 1930er Jahre doch die Einsicht durch, dass der totalitäre Staat eine Gefahr für die Kirche darstelle. Die Staatsvergötzung (statolatria) und das Neuheidentum (neopaganesimo) des Faschismus wurden nun vermehrt kritisiert und der Faschismus mit dem seit jeher kritisch gesehenen Nationalsozialismus in engere Beziehung gesetzt. Bis zuletzt blieb der Mythos des katholischen Italien aber so stark, dass der italienische Katholizismus sich nicht offen gegen das faschistische Regime wandte. Der Übergang von religiöser Kritik zu politischer Opposition erfolgte erst mitten im Krieg und blieb ein Randphänomen.
Viele von M.s Belegen entstammen der breit ausgewerteten katholischen Presse und Publizistik. Sie werden ergänzt durch Ar­chivmaterial, Bildquellen, päpstliche Verlautbarungen oder Tagebücher. Das Buch präsentiert eine Überfülle an Quellen, von denen viele – zumal im Ausland – nur schwer zu beschaffen sind. Die ausführlichen Paraphrasen und Zitate der Quellen ermöglichen es, M.s Interpretationen nachzuvollziehen. Manchmal hätte man sich allerdings gewünscht, dass M. sein Material übersichtlicher anordnet und seine Auswertung analytisch vertieft. Dass viele Überschriften der Kapitel und Unterkapitel wenig aussagekräftig sind und es kein Quellen- und Literaturverzeichnis gibt, erschwert den Zugang. Sobald man aber den Text liest, wird man von M.s souveräner und eleganter Wissenschaftsprosa eingenommen, und die knapp gehaltenen Fußnoten bieten alle nötigen Informationen. Ein reichhaltiger Personenindex, der auch erkennen lässt, welche Autoren M. für besonders wichtig hält und an unterschiedlichen Stellen ausführlicher behandelt, erschließt den Band. Dass sich im Inhaltsverzeichnis und im Text Flüchtigkeitsfehler finden, ist leicht zu verschmerzen.
Für die deutsche Forschung zur Geschichte der Kirchen im To­talitarismus ist M.s Forschung in mehrfacher Hinsicht interessant. Was M. über die Diskussion innerhalb des italienischen Katholizismus berichtet, erinnert in Form und Inhalt an einige Kapitel in Klaus Scholders Die Kirchen und das Dritte Reich. In den Kirchen in Deutschland wie in Italien gab es eine große Bandbreite an Positionierungen, die sich auch parallel zu den sich rasch wandelnden politischen Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahren veränderten. Die Frage des Verhältnisses von Glaube und Nation und die sich aus der Bestimmung dieses Verhältnisses ergebenden politischen Entscheidungen von Christen und Kirchenleuten bestimmten die Kirchengeschichte hier wie dort. Die nationalen und konfessionellen Eigenarten sind dabei allerdings so groß, dass man Italien und Deutschland nicht über einen Leisten schlagen kann. Auch der italienische und der deutsche Katholizismus unterscheiden sich stark voneinander, was nicht nur mit dem unterschied-lichen Gegenüber von faschistischem und nationalsozialistischem Regime zu tun hat, sondern auch mit der Geschichte des Katholizismus hier und dort, seiner Stellung in Staat und Gesellschaft und seinem Frömmigkeitsprofil. Aber gerade die Einsicht in die Unterschiedlichkeit der kirchengeschichtlichen Verhältnisse und Entwicklung der beiden Länder ist hilfreich: Der vergleichende Blick auf Italien, den M.s Buch ermöglicht, kann die Beschäftigung mit der deutschen Kirchengeschichte bereichern.