Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

528–530

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Weidmann, Frederick Walter

Titel/Untertitel:

Polycarp and John. The Harris Fragments and Their Challenge to the Literary Tradition.

Verlag:

Notre Dame: University of Notre Dame Press 1999. XVI, 189 S. gr.8 = Christianity and Judaism in Antiquity Series, 12. Lw. $ 35.-. ISBN 0-268-03851-1.

Rezensent:

Gerd Buschmann

Frederick W. Weidmann, Assistent Professor für NT am Union Theological Seminary in New York, legt als Ergebnis einer Yale-Dissertation von 1993 eine kritische Edition (Kap. 1: 13-39), englische Übersetzung (Kap. 2: 41-48), Kommentierung (Kap. 4: 59-123) und einige zusammenfassende Überlegungen und Hypothesen (Kap. 3: 49-58: Gattungsfrage und Erzählstrategie/Kap. 5: 125-147: Johannes und Polykarp im Spannungsfeld von Ephesus und Smyrna) zu den seit dem vergangenen Jahrhundert bekannten, aber wenig beachteten Harris Fragments der British Library vor: vier ca. 6 Textseiten ausmachende Papyrus-Fragmente im Sahidischen Dialekt des Koptischen mit bruchstückhaften Aussagen über Polykarps Apostolizität, sein Verhältnis zu Johannes und sein Martyrium (FrgPol), die W. im griechischen Original als in Smyrna zwischen 3. und 6. Jh. entstanden vermutet (11; 147). Diese endlich der Wissenschaft zugänglich gemachte interessante Quelle - vor allem für die Entwicklung frühchristlicher Polykarp- und Martyriumstraditionen -, stellt Polykarp inhaltlich in apostolische Sukzession von Johannes (vgl. Irenäus von Lyon) und deutet in einzigartiger Weise Polykarps Martyrium als notwendige Kompensation für Johannes friedvollen Tod. Dabei begegnen zahlreiche Elemente aus den verschiedenen Traditionen des Martyriums Polykarps (MartPol), FrgPol weisen aber zusätzliche Motive auf oder variieren bekannte Motive nicht unerheblich.

W. hat sich zwei Ziele gesetzt (2). Das erste wird jedenfalls erreicht: eine kritische, sorgfältige Edition der FrgPol vorzulegen und sie der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zukünftige Kommentierungen des MartPol etwa (vgl. zuletzt: Gerd Buschmann, Das Martyrium des Polykarp, KAV 6, Göttingen 1998) werden diese Quelle berücksichtigen müssen, zumal W.s Kommentar die Parallelen zu MartPol und sonstiger frühchristlicher Literatur umfassend und übersichtlich auflistet und diskutiert. Aber auch die johanneische Frage erfährt neues Licht (bes. 125-133). Das zweite Ziel, FrgPol innerhalb der literarischen Traditionen über Polykarp, Johannes und im Rahmen von Apostelakten, Märtyrerliteratur, Exitusliteratur und verwandten Gattungen zu verorten, kann, - auch auf Grund der sperrigen, nur fragmentarischen Quelle -, kaum als schon erreicht bezeichnet werden. Zum einen bleibt die Gattungsfrage und damit das Verhältnis der beiden von W. klar herausgearbeiteten inhaltlichen Schwerpunkte von FrgPol, nämlich "Apostolicity and Martyrdom" (vgl. Kap. 3) letztlich ungeklärt, auch wenn sich eine Nähe zu apokryphen Apostelakten andeutet. Jedenfalls umfassen FrgPol inhaltlich einen größeren Rahmen als MartPol (51). Zum anderen: Obwohl W. Erzählstrategie und Intention der FrgPol verdeutlicht (141: "The martyr Polycarp becomes a kind of surrogate for the apostle John; he endures the martyr death on John’s account." - vgl. 52 u. ö.), so bleibt für den Rez. die Antwort auf die Frage nach dem Sitz im Leben, nach dem theologischen Ort dieser Intention unbefriedigend, wenn W. sie mit der bekannten profanen und religiösen Rivalität der kleinasiatischen Städte Ephesus und Smyrna und deren jeweiligen Berufung auf Johannes- bzw. Polykarp-Traditionen zu beantworten versucht, wobei FrgPol offenbar die Smyrnäische Karte spielt (141-147). Sicherlich will FrgPol via Johannes auch einen "apostolischen" Status für Polykarp sichern, das aber gilt begrenzt schon für MartPol (vgl. 16,2) - Vielmehr scheint für den Rez. die im 2. und 3. Jh. virulente theologische Auseinandersetzung um die Bedeutung und Notwendigkeit des Martyriums in FrgPol durch, - ebenso wie die Frage, was eigentlich einen Apostel kennzeichnet: Wurde Johannes’ Nicht-Märtyrer-Tod im Sinne einer rigoristischen und enthusiastischen Nachahmungstheologie zunehmend als problematisch und defizitär beurteilt und bedurfte der Ergänzung durch den Märtyrertod seines Schülers Polykarp? Und konnte die Martyriums-Notwendigkeit (das göttliche "Muss", schon Mk 8,31; Mt 16,21; Lk 9,22, vgl. 112 f.) legitimerweise zur Martyriumssehnsucht (vgl. Ignatius von Antiochien) und gar zum bewussten Erstreben des Martyriums führen (vgl. MartPol 4: Quintos) und wie waren diese zu beurteilen? Immerhin flieht Polykarp nach FrgPol nicht selbst (als Subjekt) vor dem Martyrium (wie in MartPol 5,1; 6,1), sondern wird (als Objekt und ohne sein Wissen) von seinen Anhängern versteckt, wie W. zu Recht beobachtet (56 f.; 105 f.; 117). Darf ein Apostel und Bischof also (nach FrgPol) nicht vor dem Martyrium fliehen? Auch fürchten Polykarps Anhänger immerhin, dass er sich selbst dem Gerichtshof stellt, was nach MartPol beim Phryger Quintos (vgl. Eus., h.e. 4.15.8) ausdrücklich missbilligt wird (vgl. dazu: Gerd Buschmann, Martyrium Polycarpi 4 und der Montanismus, VigChr 49, 1995, 105-145). Alle diese offenen und latenten Korrekturen von FrgPol an MartPol beobachtet W. selbst, ohne sie aber in die zeitgenössische theologische Auseinandersetzung um die Bedeutung des Martyriums einzuordnen. Das wird die zukünftige Forschung an FrgPol tun müssen; W. hat dafür die bleibende Grundlage geschaffen.

Eine letzte kleine Beobachtung in diesem Zusammenhang, auf die W. nicht verweist: nach FrgPol sagt Johannes zu Polykarp: "Since the Lord granted to me that I die on my bed, it is necessary that you die by the lawcourt ...". Was hier noch als "Gnade" bezeichnet wird, mag theologisch von bestimmter Seite längst als Mangel bewertet worden sein; das belegt z. B. einer der wenigen uns erhaltenen authentischen montanistischen Aussprüche: "Nolite in lectulis nec in aborsibus et febribus mollibus optare exire, sed in martyriis ..." (Tertullian, de fuga 9.4) ("Wünscht nicht, in Betten oder bei Entbindungen und in weichlichen Fiebern zu sterben, sondern in Martyrien ... ").