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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

925–927

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stevens, Chris S.

Titel/Untertitel:

History of the Pauline Corpus in Texts, Transmissions and Trajectories. A Textual Analysis of Manuscripts from the Second to the Fifth Century.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2020. XII, 460 S. = Texts and Editions for New Testament Study, 14. Geb. EUR 127,00. ISBN 9789004428225.

Rezensent:

Annette Weissenrieder/André Luiz Visinoni

In den letzten Jahren rückt die Frage nach der handschriftlichen Überlieferung des Corpus Paulinum verstärkt in den Fokus der neutestamentlichen Wissenschaft. Das zunehmende Interesse von Forscherinnen und Forschern an dem Thema wird durch die Anzahl von neuen Publikationen deutlich, wie z. B. der vor Kurzem veröffentlichten Studie von Hugh Houghton et al., The Principal Pau-line Epistles. A Collation of Old Latin Witnesses, die sich auf die altlateinischen Übersetzungen von vier Paulusbriefen (Römer, 1/2 Korinther, Galater) konzentriert. In History of the Pauline Corpus in Texts, Transmissions, and Trajectories leistet Chris S. Stevens einen Beitrag zu dem Forschungsgebiet, indem er die griechischen Ma­nuskripte aller Texte des Corpus Paulinum – mit der Ausnahme des Hebräerbriefs – in einer Zeitspanne von 400 Jahren behandelt, von den ältesten Textzeugen, wie dem P46 und P16, bis zu der Bilingue, dem Codex Claromontanus (06,Dp).
Der Band bietet zunächst eine Einführung in die Geschichte der neutestamentlichen Textkritik, die sowohl ihre Anfänge bei den Schriftstellern des antiken Christentums (Irenäus, Origenes, Hieronymus und Augustinus) wie auch ihre Entfaltung als selbständige Wissenschaftsdisziplin im 19. und 20. Jh. (Lachmann, Tischendorf, Westcott und Hort) einschließt. Daran schließt ein Kapitel an, in dem die Unterschiede zwischen den modernen Textkritik-Ansätzen (Majority Text Theory, Single Text Theory, Byzantine Text Form, Eclecticism, Stemmatics, Coherence-Based Genealogical Method) präsentiert und kritisch gewürdigt werden. Während sich die Textkritik bislang darauf kapriziert habe, die Ausgangstexte des Neuen Testaments zu klassifizieren und den Text des Neuen Testaments in einer ursprünglichen, nicht mehr erhaltenen Form wieder herzustellen, widmet sich S. einer auf Statistik basierenden These eines Ausgangstextes: Grundgelegt wird eine Methode, die die Prüfung des Corpus Paulinum auf seine Einheitlichkeit und Stabilität während der ersten Jahrhunderte konsolidiert. Drei Fragen liegen der Arbeit zugrunde: 1. Lässt sich durch die Befunde die These bestätigen, dass sich das Corpus Paulinum vor dem 2. Jh. frei entwickelt habe? 2. Nimmt die Textkorruption zugunsten einer orthodoxen Einheitlichkeit im Laufe der Überlieferungsgeschichte ab oder kann man schon früh von einem relativ stabilen Textbestand ausgehen? 3. Inwiefern legen die Befunde eine neue Theorie über das Sammeln und Zirkulieren des Corpus Paulinum nahe? Diese Fragen sind freilich so neu nicht und auch nicht die in den Kapiteln 5–8 präsentierte Antwort, denn Ansätze der These finden sich schon bei Hans Lietzmann in seinem Werk Textgeschichte der Paulusbriefe von 1928, freilich ohne eine ausgefallene theoretische Fundierung linguistischer Provenienz: S. versucht seinen Ansatz mit der Systemisch-Funktionalen Linguistik (SFL) zu untermauern, die hier erstmals systematisch auf die Manuskripte der Paulusbriefe angewandt wird. Der wichtigste Aspekt der SFL beziehe sich auf die Gliederung des Textes in Variationseinheiten, die an­schließend in hierarchisch aufgestellte Rangfolgen (»rank scales«, 57) eingeteilt und anhand funktionaler Kategorien (»clause components«) klassifiziert werden. Die Anwendung dieser auf der SFL basierenden Methode ermögliche, die Grenzen der Textsegmentierung (»textual segmentation boundaries«) genauer zu de-finieren, so dass Vergleiche zwischen mehreren Textvarianten (quantitativ) präziser gezogen werden können. In Kapitel 4 werden die Daten ausgewertet, die S. anhand 3080 Textstellen auf der Basis des P46 und der Codices Sinaiticus (01,א), Alexandrinus (02,A), Vaticanus (03,B), Ephraemi Syri rescriptus (04,C) und Claromontanus (06,Dp) zusammengetragen und statistisch ausgewertet hat, indem er feststellt, dass die textliche Übereinstimmung zwischen diesen Handschriften untereinander bei 96–99 % liege. So stimme z. B. der Codex Sinaiticus (01,א) im Römerbrief in 99,3 % der Variationseinheiten mit der Mehrheit der Lesarten überein; indes liege der P46 gemeinsam mit dem Claromontanus (06,Dp) bei lediglich 97,3 %. In Kapitel 5 versucht S. nun zu belegen, dass es keine Regelmäßigkeiten bezüglich des Vorkommens der Textvarianten gebe. Auch lassen die Änderungen keine Anzeichen dafür erkennen, dass die Schreiber den Text bewusst geändert hätten. Im Gegenteil: S. versucht zu belegen, dass im Gegensatz zu dem textkritischen Prinzip der brevior lectio potior Schreiber eher dazu tendierten, Variationseinheiten auszulassen als hinzufügen. Auch gegen die von Kurt Aland und Barbara Aland vorgeschlagene Einteilung der griechischen Zeugen des Neuen Testaments in verschiedene Texttypen und Kategorien stellt S. seine ausführliche Statistik, gemäß derer die Anzahl der Textvarianten im Vergleich zu Aland (Stabilitätsrate des Textes lediglich bei rund 60 %) signifikant stabil sei. So werden P46 sowie die ältesten Unzialhandschriften Sinaiticus (01,א) und Ale-xandrinus (02,A) traditionell in die Kategorie I eingeteilt, während S. mittels seiner Methode zeigen kann, dass P46 eine größere Übereinstimmung (97,1 %) mit dem Codex Ephraemi rescriptus (04,C) habe, der aber in Kategorie II zu finden ist.
Damit leistet S. in History of the Pauline Corpus in Texts, Transmissions, and Trajectories einen Beitrag zum Verständnis der handschriftlichen Überlieferung des Corpus Paulinum. Seine Vorgehensweise, synchron ausgerichtet und weniger genealogisch auswertend, ermöglicht sowohl den systematischen Vergleich als auch die Klassifizierung von Textunterschieden über viele Manuskripte hinweg: Die Ergebnisse erweisen eine gleichmäßige Transmission in den frühen Jahrhunderten und stellen deshalb die Befunde früherer Arbeiten in Bezug auf Texttypen in Frage. Bedeutend ist außerdem, dass S. einige Grundlagen der Textkritik in Zweifel zieht, wie die in der Forschung etablierten Kategorien von Barbara und Kurt Aland, die freilich in jüngerer Zeit schon von Tommy Wasserman und Peter J. Gurry substantiell in ihrem Buch A New Approach for Textual Criticism von 2017 und von Holger Strutwolf als Direktor des INTF in Münster korrigiert wurden, und er spart ebenfalls nicht an Kritik an zahlreichen weiteren Konzepten wie etwa von Bart Ehrman.
Eine erste Anfrage bezieht sich auf die Würdigung einzelner Handschriften, die u. a. David Parker immer wieder angemahnt hat. So wäre zu fragen, wie die unterschiedlichen Nachträge der Kopisten in den Papyri und den Codices zu bewerten sind. So liest die Mehrheit der Zeugen in 1Kor 15,55 ποῦ σου, θάνατε, τὸ νῖκος; P46 u. a. überliefern τὸ νεῖκος. Handelt es sich hier wirklich lediglich um einen Itazismus, also um eine orthographische Abweichung, wie NA28 offensichtlich annimmt, indem die Lesung im apparatus criticus nicht mal aufgeführt wird, oder um eine »genuine« Textvariante?
Zahlreiche altlateinische Zeugen tradieren gleichsam contentio und auch Augustinus schreibt in civ. 20.17 ubi est, mors, contentio tua statt victoria. Die Frage verdichtet sich mit Blick auf 1Kor 11,16, wo Paulus εἰ δέ τις φιλόνεικος εἶναι bietet, wobei das Adjektiv in zahlreichen Wörterbüchern als Synonym für φιλόνικος aufgeführt wird. Eine zweite Anfrage bezieht sich auf die methodologische Fundierung anhand der SFL, die S. zugrunde legt, um Textveränderungen neu zu gewichten. Diese linguistische Methode bezieht sich freilich auf moderne Sprachen und berücksichtigt sprachliche Besonderheiten in unterschiedlichen Regionen bzw. Dialekte ebenso wenig wie sozio-kulturelle Hintergründe. So seien die Variationen der Graphie mit wenigen Ausnahmen ebenso zu vernachlässigen wie morphologische Ausnahmen einiger Schreiber, Präpositionen, Artikel, Konjunktionen und Partikeln und schließlich die Wortfolge. Gerade Präpositionen kommt in jüngerer Zeit in der Klassischen Philologie große Aufmerksamkeit zu und in seinem Buch Prepositions and Theology hat Murray J. Harris die zentrale Funktion von Präpositionen erwiesen. Wäre hier nicht eine sorgfältigere Textanalyse der einzelnen Stellen angebracht? Eine dritte Anfrage bezieht sich auf die Auswahl der Briefe: Während nämlich der Hebräerbrief zweifellos von dem frühen Zeugen P46 hinter dem Römerbrief tradiert wird, ist doch der Bestand der Timotheusbriefe nicht zweifelsfrei erwiesen. So legt sich die Frage nahe, ob sich der Befund ändert, wenn der Hebräer in die Analyse einbezogen würde. Auch der zweite Teil des Buches lässt Fragen offen, denn einige editorische Feinheiten hätten größere Sorgfalt verdient: Z. B. fehlt auf S. 30, Fußnote 20, der Akut bei αὐτόγραφα. Auf S. 64–65 wurde das iota subscriptum bei ἐν τῷ Κορίνθῳ außer Acht gelassen, genauso wie bei κακίᾳ auf S. 222. Ähnliche Verwirrungen mit den Diakritika sind auf S. 227 zu finden, wo man ἡ γύνη liest; das Substantiv ist aber ja ein Oxytonon, also γυνή. Auf S. 275 begegnet man der Lesung λαβέτε φαφέτε, die vermutlich im Codex Ephraemi rescriptus (04,C) zu finden ist, wobei es λάβετε φάγετε heißen sollte.
Das Buch zeichnet sich durch seine methodische Kohärenz aus, die eine neue linguistische Methode zur Analyse der neutestamentlichen Handschriften auswertet. Es bleibt abzuwarten, inwiefern die textkritische statistische Methode auf der Basis der SFL die textkritische Abwägung zu vertiefen vermag.