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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

905–907

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Witte, Markus, Schröter, Jens, u. Verena M. Lepper [Eds.]

Titel/Untertitel:

Torah, Temple, Land. Constructions of Judaism in Antiquity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VII, 316 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 184. Lw. EUR 134,00. ISBN 9783161598531.

Rezensent:

Michael Tilly

Dieser Sammelband geht auf eine im Oktober 2018 an der Berliner Humboldt Universität stattgefundene Konferenz zurück, in deren Mittelpunkt die Frage nach den Manifestationen der heuristischen Begriffe »Judentum« und »jüdisch« in unterschiedlichen politischen, religiösen und sozialen Kontexten und Konfliktlagen in unterschiedlichen Siedlungszentren vom 5. Jh. v. Chr. bis ins 3. Jh. n. Chr. stand. Als übergreifende Indikatoren und als Orientierungspunkte der ebenso diversen wie fluiden Selbst- und Fremdwahrnehmungen jüdischer Identität dienen dabei die relational bestimmten Deutungen bzw. Ausgestaltungen der schriftlichen Tora, des bildlosen Monotheismus, der Bundes-, Erwählungs- und Landgabevorstellung, des Tempelheiligtums sowie der Beschneidungspraxis und der Sabbatobservanz.
In ihrer Einführung (1–7) erläutern die Herausgeber zunächst die übergreifende Fragestellung und präsentieren sodann eine konzise Skizze des historischen Rahmens. Peter Schäfer (9–26) bietet in seinem grundlegenden Beitrag zum einen interessante Einblicke in die jüngere Forschungsgeschichte und weist zum anderen darauf hin, dass im antiken Judentum unbeschadet aller Heterogenität und Pluriformität ein »process of narrowing down the identity markers« zu beobachten sei (25). Benedikt Hensel (27–47) befasst sich mit theologischen und politischen Aspekten der »Endredaktion« des Pentateuchs. Dessen literarische Gestaltwerdung müsse im Zusammenhang mit einem »complex and multilayered process of negotiation« (40) zwischen Judäern und Samaritanern während der Perserzeit verstanden werden. Sebastian Grätz (49–59) untersucht die für die Konstruktion erinnerter Geschichte im Esrabuch besonders bedeutsamen Begriffe »Golah«, »Tempel« und »Tora« in ihrem literarischen und historischen Kontext und erkennt als eigentlichen Beweggrund der typisierenden retrospektiven Darstellung der frühen nachexilischen Zeit im Sinne einer »invented tradition« (59) die antisamaritanische Grundtendenz ihres Verfassers. Auch Stefan Schorchs Beitrag (61–78) widmet sich der samaritanischen Religionsgemeinschaft und ihrem Schrifttum. Dabei werden insbesondere frühe liturgische Texte dahingehend ausgewertet, welche religiösen Bedeutungsfunktionen sie dem Garizim als identitätstiftendem zentralem Kultort beimessen.
Karel van der Toorn (79–89) erkennt in den erhaltenen Textdokumenten der judäischen Ansiedlung auf der Nilinsel Elephantine zwar wesentliche Differenzen zwischen den religiösen Praktiken dieser Diasporagemeinde und dem, was Jahrhunderte später als dominante Form jüdischer Frömmigkeit Gestalt gewann, betont aber zugleich die grundsätzliche Kompatibilität der religiösen Le­bensgestaltung der judäischen Söldner im perserzeitlichen Ägyp ten mit anderen zeitgenössischen Ausdrucksformen des Judentums: »The diaspora community was seen as mainstream« (89). In Charlotte Hempels Beitrag (91–104) wird davor gewarnt, Texte wie 4QMMT vorschnell als Zeugnisse einer schismatischen Abspaltung des Trägerkreises der Schriften vom Toten Meer zu bewerten. Vielmehr sei als der eigentliche »Sitz im Leben« der von ihr untersuchten sechs fragmentarischen Handschriften nicht die Selbstbehauptung einer dissidenten »Qumransekte«, sondern eine innerjüdische (priesterliche) halachische Lehrkontroverse anzunehmen (103). John J. Collins (105–116) thematisiert die Wahrnehmung des (idealen) Judentums aus der Binnenperspektive der Schriftrollen: »All forms of Jewish community described in the Scrolls are based on the Torah of Moses, and were devoted to its strict interpretation and observance« (114). Robert Kugler (117–135) widmet sich den Privaturkunden des jüdischen Politeumas in der oberägyptischen Provinzhauptstadt Herakleopolis: »The texts provide unusual proof of the actual use of the law for very practical purposes« (117). In den untersuchten privatrechtlichen Petitionen zeige sich durchweg die Ausrichtung der alltäglichen Lebensgestaltung gemäß re-ligiösen Traditionen, Überzeugungen und Bräuchen.
Lutz Doering (137–155) nimmt die beiden »key concepts« »Tora« und »Tempel« (137) im Jubiläenbuch, im vierten Buch Esra und in der syrischen Baruch-Apokalypse in den Blick. Unbeschadet aller kontextbedingter Differenzen zwischen den analysierten Texten sei festzuhalten, dass keines von ihnen die Existenz distinkter »Judentümer« bezeuge: »Tora and temple remain focal points of the imagination of these texts and contribute to the shaping of Jewish identity and self-perception« (155). Gabriele Boccaccini (157–171) unterstreicht zunächst, dass die Vorstellung einer »Konkurrenz« der mit dem vorsintflutlichen Patriarchen Henoch verbundenen Offenbarung und der Mosetora aufgrund der apokalyptischen Geschichtsauffassung des »Enochic Judaism« funktionslos sei. Er fordert sodann einen differenzierenden Blick auf das Verhältnis zwischen dieser jüdischen Denkbewegung und dem frühen Christentum: »The Jesus movement was not an Enochic movement but an outgrowth of the Enochic movement. The Gospels are not Enochic texts, but an answer to an Enochic problem« (171). Um Tempel und Tora in den Werken Philons aus Alexandria geht es im Beitrag von Maren R. Niehoff (173–187). Bemerkenswert sei insbesondere Philons idealisierende Beschreibung der Wallfahrten zum Jerusalemer Heiligtum als »a literary construct with important theological and cultural implications for contemporaneous Judaism« (186).
Martin Goodman (189–195) sucht nach Verbindungslinien zwischen dem »Christenverfolger« Paulus und dem Motiv des gewalttätigen religiösen »Eifers« im zeitgenössischen palästinischen Judentum. Sachlich anzufragen wäre hier meines Erachtens, ob der spätere Völkerapostel vor seiner entscheidenden Lebenswende tatsächlich gegen Anhänger des devianten Glaubens handgreiflich wurde (194) oder die Christusgläubigen nicht vielmehr vor die Wahl stellte, entweder abzuschwören oder den schützenden Sozialverband der Synagoge zu verlassen. Adela Yarbro Collins (197–227) fragt: »What Sort of Jew is the Jesus of Mark?« Die Antwort auf diese Frage zielt vor allem darauf ab, die tiefe Verwurzelung des markinischen Jesus in seiner jüdischen Lebenswelt zu betonen. Zum einen werde er vom Evangelisten als Prophet, Lehrer, Bote und Vorbild praktizierter Frömmigkeit gezeichnet. Zum anderen fuße seine Darstellung als königlicher Messias (trotz der radikalen Umgestaltung konventioneller jüdischer Messiaserwartungen) grundsätzlich auf der jüdischen Tradition. Die Tempelaktion Jesu diene Markus nicht zur narrativen Veranschaulichung der Heilsinsuffizienz des aktuellen Opferkults, sondern als zeichenhafter Ausdruck der Erwartung des nunmehr anbrechenden Gottesreichs. Während René Bloch (229–240) das Problem der Differenzierung zwischen dem Ethnonym »Judäer« und der religiös konnotierten Bezeichnung »Jude« in der hellenistisch-römischen Antike diskutiert, richtet Werner Eck (241–256) sein Augenmerk auf die Lebensumstände der jüdischen Diaspora im Westen des römischen Weltreichs, deren Rekonstruktion durch die magere Quellenlage sehr erschwert wird. Shaye J. D. Cohen (257–275) vergleicht die Erwähnungen des antiochenischen Judentums im Werk des Johannes Chrysostomos und in der rabbinischen Traditionsliteratur. Auf der Basis des Befundes, dass beide Textcorpora die jüdische Gemeinde in der syrischen Metropole in je und je unterschiedlicher (bzw. widersprüchlicher) Art idealisierend darstellen, gelangt C. zu dem Er-gebnis, dass in der Stadt möglicherweise zwei – in religiöser und kultureller Hinsicht voneinander unterscheidbare – Synagogen mit eigenständigen Traditionen und Sozialformen existierten. Im letzten Beitrag des Bandes behandelt Catherine Hezser (277–298) die umstrittene (weil gegenseitig um Abgrenzung bemühte) An­eignung und Ausgestaltung der Gestalt des Königs David in rabbinischen und altkirchlichen Quellen. Beigegeben sind ein Verzeichnis der Beiträger (299 f.) sowie umfangreiche Indizes der Quellen (301–306), modernen Autoren (307–312), Namen und Sachen (313–316).
Sämtliche Beiträge des lesenswerten Sammelbandes legen zum einen in eindrücklicher Weise dar, dass das antike Judentum von Anfang an als eine Art »Holding« differenter (und zuweilen divergenter) religiöser und kultureller Formen und Inhalte zu betrachten ist, und zeigen zum anderen in exemplarischer Weise auf, wie diese in sachgemäßer Weise einer umfassenden Auslegung und Deutung zugeführt werden können.